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Von dieser Urfrau der Menschen heißt es in Hesiods Mythos, daß sie sich als männlichen Gefährten nicht die Armut, sondern den Reichtum sucht, und daß sie sich, wie die Bienen die Drohnen nähren, "in wohligen Körben und stets zu bösen Taten verschworen" von dem ahnungslos schuftenden Mann verwöhnen läßt. Ihr zu fliehen, so der in nordgriechisch-agrarischen Traditionen beheimatete Hesiod, sei indes völlig aussichtslos, da der Mann dann im Alter unversorgt bleibe... Auch wenn ein auf diese Weise "die Menschen strafender Gott" und die innere Parallele zur alttestamentarischen Eva eher dem kleinasiatischen als dem griechischen Mythenkreis zu entstammen scheinen (und deshalb oft als fremd anmutende Einschübe empfunden worden sind), so wirft der hesiodische Pandora-Mythos doch indirekt ein Schlaglicht auch auf Aphrodites Wesen. Aphrodite, so anmutig und unverfänglich sie auf einer Schale des Pistoxenos-Malers auf einem Schwan auch dahergleiten mag, ist alles andere als ein "braves Mädchen", keine "blauäugige Pallas Athene", sondern ein unberechenbares, sich seiner unwiderstehlichen Reize und Energien durchaus bewußtes Wesen.

Aphrodite Sie ordnet sich, wie die Quellen hinreichend belegen, keiner olympischen Gottheit wirklich unter und noch eher als der Göttervater Zeus – dessen Gelassenheit, die die Dinge das sein läßt, was sie von Natur her sind, von seiner Gattin ständig als falsche Nachsicht gerügt wird – versteht es, zumindest im homerischen Epos, Hera selbst zuweilen, ihrer mächtigsten und verhaßten Konkurrentin wenn schon nicht Zügel anzulegen, so doch gegen sie unablässig zu intrigieren. Bei Homer stürzen Aphrodites Reize und Umtriebe überhaupt zahllose Götter und Menschen in Unheil. Bei ihm erscheint sie als Tochter des Zeus und der Dione, zählt also nicht einmal mehr zur ersten olympischen Generation, sondern wird, als Resultat eines der vielen "Seitensprünge" des Göttervaters Zeus, ins dritte Glied degradiert. In Homers, von männlich-aristokratischen Tugenden durchtränkter Welt, ist die hunderttausendjährige Urmacht weiblichen Liebesverlangens im wesentlichen zur untreuen Gattin des Handwerkergottes Hephaistos geworden, den sie unablässig hintergeht. Als Hephaistos etwa von dem Seitensprung seiner Gattin mit dem vitalen Kriegsgott Ares erfährt, wirft er ein unsichtbares Netz über die Liebenden und setzt sie dem Gelächter des Olymp aus. Das wohl bekannteste Thema ist jedoch in dieser Hinsicht das Paris-Urteil, das im homerischen Mythos den Trojanischen Krieg auslöst.

In der aristokratisch-heroischen Welt Homers hatten Aphrodite, aber, eigentlich noch erstaunlicher, auch der altehrwürdige Eros selbst, der hier plötzlich nur noch als ein Aphrodite Nach-Geborener erscheint, offenkundig einen sehr untergeordneten und eher mißtrauisch beäugten Stellenwert. Dieser bemerkenswerte Wandel von Hesiod zu Homer ist noch in klassischer, aufgeklärter Zeit als so einschneidend empfunden worden, daß im Grunde die ganzen Reden in Platons Symposion um dieses Thema der älteren, hesiodischen Aphrodite Urania und der jüngeren homerischen Aphrodite Pandemos bzw. der älteren kosmischen und jüngeren "aphroditischen" Eros-Auffassung kreisen. Dies zeigt zweifellos auch, wie schwierig für den grundsätzlich so diesseitigen und lebensoffenen Kosmos der Griechen die tatsächliche "Integration" gerade dieser vorgefundenen ältesten Vital- und Lebensgottheiten war, die, wie Aphrodite oder Dionysos, Eros oder Geia, sehr weit in die animistischen Traumzeiten zurückweisen und am Ende jede zivilisatorische Ordnung potentiell herausfordern. Anders als spätere Zeiten vermochten es griechische Lebensnähe und Realitätsgespür zwar nicht, diese Urmächte des Lebens einfach zu verleugnen oder zu verfemen, doch schon in den Anfängen der abendländischen "Aufklärung" ist nicht ganz zu verkennen, wie ein entfesselter "anvermenschlichender" Trieb nach Reflexion und zivilisatorischer Selbstvergewisserung den einstigen nativen Einklang mit allem Lebendigen, wie wir ihn aus den hunderttausendjährigen schamanisch-animistischen Kulten und Lebensriten kennen, aufbricht.

Gleichwohl handelt Aphrodite, so zwiespältig und argwöhnisch die vorherrschenden männlichen Ordnungs- und Zivilisationszwänge von Hesiod bis Platon ihr auch gegenüberstehen mögen, im griechischen Verständnis, selbst bei Homer, durchaus als Gottheit und auf ihre Weise rechtens, ja unangreifbar. Sie handelt als Verkörperung einer Elementarmacht so, wie diese im Zusammenspiel der Lebensmächte handeln muß und nur handeln kann. Sie setzt bei näherer Betrachtung - das unterscheidet sie etwa von der Menschenfrau Pandora - ihre Reize auch niemals instrumentell ein, das heißt für andere Zwecke als für jene Liebe, die sie selbst ist. Aphrodite ist und bleibt so in ihrem Tun, wie verhängnisvoll die Folgen auch sein mögen, immer das, was sie in griechischem Verständnis idealiter verkörpert: das gelebte weibliche Liebes- und Alleinheitsgefühl rein und unverfälscht.

Shiva

Zum anderen wird bei Hesiod, wie schon angedeutet, nicht weniger deutlich, daß Aphrodite zwar überaus erotisch ist, aber deshalb noch nicht, wie in klassischer Zeit zu beobachten ist, den Platz von Eros ganz für sich selbst beanspruchen könnte. Man kann sich deshalb kaum eine größere Entfernung vom eigentlichen Stellenwert und ursprünglichen Rang von Eros als universaler Werde-, Schöpfer- und Lebensenergie vorstellen, als wenn dieser - inzwischen im Plural zu "Eroten", "Genien" und schließlich zu pausbäckigen Putti gewandelt - Venus bei der Toilette beiwohnt, wie wir es insbesondere aus ungezählten Barock-Gemälden kennen. Von jener selbst anfanglosen Zeugekraft, die ausnahmslos alle Bereiche des Lebens als "Lebenspuls selbst" bewegt - die Wetter und Elemente, die Natur und das Leben der Tiere oder Menschen, die Musik oder die poietische Kunst - ist da im Zeichen eines Blicks in den erblindeten Spiegel des Anthropozentrismus nichts mehr zu spüren.

Schon zu Platons Zeiten scheint jedoch, wie der Symposion-Dialog mit der Diotima-Rede zeigt, die Verschiebung der Gewichte zwischen Eros und Aphrodite im allgemeinen Zeitgeist so weit fortgeschritten zu sein, daß man in gewisser Hinsicht von einer effemierten Eros-Auffassung sprechen könnte. Aphrodite, bei Hesiod noch eine mächtige, aber gleichwohl disktinkt anthropomorphe Gestalt und Spielart des universalen, selbst übergeschlechtlichen Eros, erobert und einverleibt sich sozusagen in dem Maße das weite Feld des Eros überhaupt, wie der überwiegend männlich geprägte Zivilisationsprozeß sich vom natürlichen Leben entfernt, die elementarsten Energien des Lebens zunehmend sublimiert werden. Selbst Sokrates muß eine weise Priesterin namens Diotima zur Hilfe rufen, um seinen männerbündisch-kopflastigen Schülern den eigentlichen Stellenwert des manisch Leben zeugenden Lebens in Erinnerung zu rufen. Und wenn zur gleichen Zeit die Dichterin Sappho Aphrodite als "einzige Herrin" und Muse einer ihrerseits nunmehr nicht minder frauenbündischen Liebe anruft - "(...) Wen soll ich diesmal mit schmeichelnder Werbung / Deiner Liebe gewinnen? Sappho, wer tut dir etwas zuleide? / Bald folgt deinen Spuren, die jetzt dich noch meidet, / Gaben bringt dir, die deine Geschenke verschmähte, / Bald wird die Spröde, auch widerstrebend, im Nu / der Liebe verfallen..." -, so zeigt dies, auf fast moderne Weise, wie die elemtaren Lebensenergien sich auf Umwegen umso mächtiger zurückmelden, wie sich Zivilisation von ihnen entfernt oder sich über sie erhaben wähnt.

Etwas anders verhält es sich mit Platons Symposion-Dialog selbst, der wohl gerade diese Verschiebungen eigens thematisiert und im Grunde die ursprüngliche kosmische Eros-Auffassung einer Zeit in Erinnerung zu rufen versucht, die diese völlig vergessen zu haben scheint. Es gehört zur abgründigen Widersprüchlichkeit dieses Dialogs, daß ausgerechnet einer der scharfsinnigsten Förderer der Vergeistigung, Sokrates selbst, zugleich, sehen wir ihn nur im Licht des Phaidros-Dialogs, manischer Erotiker im ursprünglichsten Wortsinn ist. So wie umgekehrt Diotima, die weise Priesterin aus Mantinea, zwar einerseits ganz dem zeitgenössisch hochblühenden Weiblichkeitskult zu huldigen scheint, wenn der "männliche Eros" nur noch als "Diener" der an sich "bedürfnislosen" Allgöttin Aphrodite legitim ist, doch am Ende nur jenen universalen Eros als die Lebendiges zeugende Lebensenergie selbst umso mächtiger ins Recht setzt.

Fast scheint es auch, als spräche Diotima, wenn die Rede vom angeblich "wilden" und "rauhen" männlichen Eros geht, von einem "Bruder" Aphrodites, nämlich von Dionysos, jenem vielleicht rätselhaftesten aller olympischen Götter, auf den die Kennzeichnungen "roh" und "wild", zumindest in einer Hinsicht, noch am ehesten zutreffen. Als Urgestalt des seligen Rauschs, des Sich-Verschenkens und Sich-Verschwendens ist Dionysos in einer Hinsicht gewiß ein vertrauter "Verwandter" Aphrodites, mit der er den Hang zum Außerkraftsetzen aller gewöhnlichen Ordnungen zugunsten des vitalen kairos teilt, ja diesen sogar in auflösend-ekstatisches "Sterben" zu steigern scheint - so wie Nietzsche im "Trunkenen Lied" des "Zarathustra" singt: "Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will tiefe, tiefe Ewigkeit (...)".

Aphrodite jedenfalls verkörpert - von Hesiod bis Diotima und über alle unterschiedlichen Gewichtungen im Detail hinweg - jenes Urweibliche, das man zwar vom Erdmütterlichen und "Großbrüstig-Nährenden" der Geia und von der sich verschwendenden, selbst aufopfernden ekstasis des Dionysos "abgrenzen" kann, aber doch nur, um zu realisieren, daß sie alle zuletzt ein verschworenes Einverständnis miteinander verbindet. Diese immer wieder neu ins Leben rufende und zur Vereinigung lockende weibliche Liebe zur Liebe dreht sich jedenfalls um eine "Achse", die noch keine jenseitige ist. Der Ruf des Lebens endet nicht.

© HD Jünger (Originalbeitrag)

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