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Formen audiovisueller Musik am Beispiel von Nostalghia
Wie werden nun in Tarkowskijs Filmkunst die verschiedenen Elemente des Films polyphon und synergetisch intoniert, so daß man hier mit Fug und Recht von einer audiovisuellen Musik sprechen kann? Am Beispiel des Films Nostalghia sollen nachfolgend zumindest einige entscheidende, insbesondere für das Spätwerk typische Grundzüge exemplarisch hervorgehoben werden. Das eigentliche Grundthema (im auch musikalischen Sinn) dieses Films ist die ganz wörtlich zu nehmende "Nostalghia". Dieser dem Griechischen entlehnte Begriff (nostos - Heimat, algos - Leiden) weist auf eine Form tiefer Trauer und existentieller Verzweiflung im Sinne von Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode, auf ein ontisches Heimweh des Daseins nach Seins- und Ursprungsnähe also. Tarkowskij selbst bemerkt zu diesem ontischen Charakter des "Heimwehs" Andrejs, daß es "nicht nur seiner geographischen Ferne von der Heimat, sondern auch einer globalen Trauer um das ganzheitliche Sein entspringt". Dieses Grundthema des Films erklingt schon als Auftakt rein in der ersten Einstellung des Films, einer stillen sepiagetönten Einstellung der russischen Heimat, einer Erinnerungslandschaft mit Geburtshaus, den Familienangehörigen, den heimatlichen Wettern und Elementen. Dieses Grundthema wird in dieser Form im Film mehrfach wiederholt und variiert, so daß man sagen muß, das ganze Kunstwerk entfaltet sich hier organisch aus dieser einen Grundstimmung heraus.
Die Kunst der Fuge und Momente rhythmischer Intonation auf der Ebene der horizontalen Verknüpfung.
Was Eisenstein einmal mithilfe der musikalischen Fugenlehre hinsichtlich des Films veranschaulichen wollte, läßt sich an Tarkowskijs Film auch praktisch ganz schlüssig und anschaulich ausweisen: "Grundlage eines Fugenwerks ist ein Thema, das zuerst von einer Stimme vorgetragen und dann nacheinander von allen anderen imitiert wird. Als dux oder Thema der Fuge bezeichnet man das Thema, das zuerst am Anfang des Werks einstimmig, ohne Begleitung erscheint (...), auf dem dann die ganze Fuge aufbaut. Damit ist nicht gemeint, daß der dux im Verlauf des ganzen Werks ständig zu hören sein muß. Das würde zu ermüdender Eintönigkeit führen (...) Wenn wir sagen, daß der dux die Grundlage der ganzen Fuge ist, meinen wir damit, daß er vielfach auftaucht in größeren und kleineren Zeitabständen im Verlauf der Fuge. Dem dux steht der comes oder Gefährte oder die Antwort gegenüber. Die Antwort oder der Gefährte ist der Führer, transponiert in eine Tonart, die um eine Quarte oder Quinte höher oder niedriger liegt als die Grundtonart. Es gibt Fugen, in denen der comes nicht der transponierte dux, sondern ein dux in der Umkehrung, Erweiterung oder Verkürzung ist. Einen Kontrapunkt, der dux und comes ständig begleitet, nennt man Gegenstimme. Es ist nicht obligatorisch, daß die Gegenstimme im Verlauf der ganzen Fuge gleichbleibend ist; es gibt Fugen mit mehreren Gegenstimmen. Obligatorisch ist allein, daß die Fuge eine organische Ganzheit darstellt, die dadurch erreicht wird, daß das thematische Material ausschließlich dem dux oder der Gegenstimme entstammt."
Es wurde gesagt, daß das Grundthema im Film jene "Nostalghia" ist, die bereits in der ersten Einstellung "ohne Begleitung" rein anklingt und die in dieser reinen Form "in größeren und kleineren Zeitabständen" im Verlauf des Films, jeweils durch Erweiterung oder Verkürzung oder Perspektivveränderungen variierend wiederholt wird (was hier auch immer ein "Wieder-herbei-holen" der Grundstimmung selbst meint). Aber nicht nur diese monochromen Heimateinstellungen stehen für jene Nostalghia, auch die übrigen Einstellungen, Gestalten, Figuren und Binnengeschichten, ja im Grunde alle Elemente des Films greifen letztlich immer wieder dieses Grundthema auf, variieren, kontrapunktieren, begleiten und entfalten es. Stets kehrt der Film zu diesem, seinem Thema, aus dem er sich monadenhaft aufbaut, zurück. Verknüpfung auf Filmebene.
Wie in anderen Filmen Tarkowskijs steht im
Mittelpunkt auch von Nostalghia eine Figuren-Triade: der
russische Schriftsteller Andrej, seine junge italienische Übersetzerin
Eugenia und der von anderen für "verrückt" erklärte
ehemalige Mathematiklehrer Domenico. Die ersten Sätze des
herzkranken, verhalten zwischen Scheue und Wohlwollen
auftretenden Schriftstellers zu seiner jungen und lebenslustigen
Übersetzerin signalisieren einen großen Überdruß: "Sprich
bitte nicht russisch ... Ich habe eure Schönheit satt." Man
darf in Eugenia von Beginn an einen "Kontrapunkt" zu
Andrej als der Verkörperung jener Nostalghia verstehen.
Begegnet
Andrej als personaler Träger jener "Krankheit zum Tode",
an der man nicht stirbt, sondern in der man vielmehr, im
sokratischen Sinne, "das Sterben lebt", so verkörpert
Eugenia von Beginn an ein anderes Verhältnis des Daseins zu sich
selbst, sozusagen ein unbesorgtes, ganz im jeweiligen "Jetzt"
aufgehendes Dasein, das gegen eine solche tiefe Verzweiflung an
sich selbst geradezu immun scheint. In Domenico hingegen erkennt
Andrej unmittelbar einen Seelenwandten, den "Gefährten",
der an der gleichen "Krankheit zum Tode" leidet wie er
selbst, nur gleichsam fortgeschritten und vertieft. Er ist
sozusagen die Verkörperung dieses ontischen Heimwehs um "einige
Tonarten tiefer". Thema, Gefährte und Kontrapunkt im Sinne
der musikalischen Fuge finden somit auch personal im Film
unmittelbare Entsprechungen. Eugenia will Andrej, zumindest aber
sein Geheimnis "erobern", jedenfalls etwas in ihm
"bezwingen", das ihr wie eine unerklärliche Widerständigkeit
erscheint. Andrejs Verhaltenheit ist ihr fremd und fordert sie
gerade deshalb heraus. Sein Ganzanderssein scheint sie auf eine
seltsame Art zu beleidigen. Zwar spricht Eugenia als Übersetzerin
gut russisch sprachlich gesehen könnten sie sich also verständigen
-, doch Verstehen, so deutet es der Film an, ist nicht allein
eine Frage des gemeinsamen "Zeichenvorrats". "Poesie
ist unmöglich zu übersetzen. Wie alle Kunst", sagt Andrej;
und an anderer Stelle hält er der westlichen Übersetzerin, die
auf offenbar glücklichere Tage mit Andrej und seiner Familie während
früherer Besuche in Moskau zurückblickt, entgegen: "Ihr
versteht nichts von Rußland."
Verstehen und Sich-Verstehen entzieht sich in
Andrejs Verständnis letztlich der Willkür, es ist immer eine
unwiederholbare Gunst, ein Geschenk. Je mehr sich Andrej gegenüber
Eugenia verschließt, um so trotziger versucht sie ihrer Zurückweisung
zumindest nach außen den Anschein eines "Sieges" zu
geben. Als Andrej schließlich regen Anteil am "verrückten"
Domenico nimmt, der, wie man sich erzählt, in Erwartung des
Weltendes seine Familie jahrelang eingesperrt hielt, reist
Eugenia nach einer hysterischen Szene ab und läßt den "verklemmten
Russen" und "langweiligen Heiligen" allein zurück.
Andrej und Domenico hingegen können sich zwar kaum mit Worten
verständigen - sie wechseln im Film auch mehr Blicke als Worte -,
aber in beiden schlägt gleichsam derselbe "nostalghische"
Seelenrhythmus, beide leiden gleichermaßen an dem tiefen Abgrund,
der zwischen ihrem inneren Gespür für Wert und Würde
einerseits und einer als seelen- und sinnlos empfundenen, ganz
der Seinsvergessenheit verfallenen Mitwelt andererseits aufklafft.
Wenn im Schriftsteller Andrej das Thema dieser existentiellen
Verzweiflung am eigenen Dasein anklingt, so verkörpert sein Gefährte
Domenico den auch zum letzten Verzicht, zum Opfer des eigenen
Daseins entschlossenen Geist, der die Brücken zu allem Vergänglichen
abgebrochen hat und in einem demonstrativen Autodafé ein letztes
Zeichen zu geben versucht, während Andrej - zeitgleich - in Einlösung
des Domenico gegebenen Versprechens, eine brennende Kerze durch
das der Heiligen Katharina gewidmete Thermalbecken zu tragen, den
Tod findet. Im Horizont jener "Krankheit zum Tode"
Kierkegaards und des Filmkosmos' Tarkowskijs ist dieses Sterben
freilich kein Vergehen ins Nichts, wie insbesondere die Schlußstellung
des Films zeigt, wo sich die verschiedenen Zeitebenen des Films
allererst zu einer Einheit, zu einer umfassenden Wirklichkeit der
unzerstörbaren inneren durée verdichten, in der alles
Geschehene - wie in einem rätselhaften Spiel - je schon
aufbewahrt ist, ja die hier sogar wie eine Ankunft in Herkunft,
als das Sicherfüllen eines Weges erscheint. "Der Tod
vollendet die Montage unseres Lebens", sagt Pasolini, "nach
dem Tod erst enthüllt sich der Sinn des Lebens.
Diese "Verfugung" im stets auch musikalischen Sinne findet sich in abgewandelter Form auch in anderen Filmen. Natürlich ist dies nicht so zu verstehen, als übertrage der Regisseur auf eine bloß formalistische Weise "Prinzipien" einer bestimmten Musikform - die freilich auch in der Musik selbst keineswegs schematisch, sondern als eine hohe Kunst zu verstehen sind - auf den Film, und selbstverständlich verfügen diese jeweiligen Triaden der Protagonisten auch über Dimensionen, die über das Kriterium ihrer musikalisch-rhythmischen Entfaltung hinausgehen. Aber es ist im gegebenen Zusammenhang doch bemerkenswert, daß der Regisseur auch in diesen großen Einheiten des Films "aus dem Geiste der Musik" heraus gestaltet, den Film allererst organisch aus einem Grundthema heraus entwickelt. Um diese Gestaltung aus dem Geiste der Musik als solche deutlicher wahrzunehmen, muß man den Blick auf kleinere Einheiten des Films richten.
Verknüpfung auf Sequenzebene
Am Beispiel der Sequenz von Andrejs Besuch bei
Domenico in dessen Haus (Einstellung 43-59) sollen einmal die
einzelnen Elemente der Intonation und der sich aus ihrem
Zusammenspiel ergebende Bewegungsrhythmus und "Zeitdruck"
innerhalb der einzelnen Einstellungen genauer analysiert werden.
Vergleicht man die einzelnen Teile der ausgewählten Sequenz, so
wird man, trotz zahlreicher Variationen, innere Analogien
unschwer erkennen können. Die Kriterien dieser Analyse sind
vorab kurz zu erläutern. Als Einzelelemente der Intonation
gelten hier Kamerabewegungen (horizontale und vertikale Fahrten /
Zooms), "zeithaltige" Lokalitäten / Objekte (die
verschiedenen Wände und Gegenstände in Domenicos Zimmer und der
"Regenraum"), Andrejs Bewegungen, Domenicos Bewegungen,
das Licht (hell oder dunkel) sowie die Geräusche (Vogelgezwitscher,
Regen, schrille Kreissäge). Diese Elemente sind natürlich nicht
vollständig und wären streng genommen noch weiter zu präzisieren
(etwa unter Berücksichtigung von Gesten, Farben, Intonationen
der Rede u.ä.m.), was aber im einzelnen noch an anderer Stelle
erörtert wird. So, wie man in der Musik auch zwischen vertikaler
Organisation (Akkorde, gleichzeitiger Zusammenklang verschiedener
Töne) und horizontaler Organisation (Intervalle, Tonfolge im
zeitlichen Nacheinander) unterscheiden kann, so ist - selbstverständlich
nur annähernd - auch in der nachfolgenden Beschreibung versucht
worden, die vertikale Organisation der Bild- und Tonelemente (Gleichzeitigkeit)
und deren zeitliches Nacheinander im Film näher zu berücksichtigen.
Je nach der Häufigkeit von Bewegungen innerhalb einer
Einstellung besteht diese aus zwei, drei oder auch fünf "Takten"
in der hier ausgewählten Sequenz. Diese Phasen oder Takte
richten sich keineswegs nach der filmzeitlichen Länge der
jeweiligen Einstellung, so daß es durchaus relativ kurze
Einstellungen mit vielen Takten oder auch relativ lange
Einstellungen mit nur wenigen Phasen gibt. Die Anzahl der Takte
ergibt sich vielmehr aus der Häufigkeit von Bewegungsimpulsen
innerhalb der Einstellung, die wiederum nicht an einem Parameter
(wie z.B. der Kamerabewegung) festgemacht werden dürfen. Wenn
sich zum Beispiel die Kamera nach rechts bewegt, Andrej
gleichzeitig nach links aus dem Bild geht und Domenico
gleichzeitig rechts ins Bild tritt, so wird dies als ein
Bewegungsimpuls aufgefaßt. Wenn Domenico und die Kamera nun
stehenbleiben, wird dies so lange als ein zweiter Takt gewertet,
wie kein neuer entscheidender Bewegungsimpuls erfolgt. Schwierig
ist es mitunter dann, wenn sich verschiedene Bewegungen überschneiden,
wie sich überhaupt bestimmte "stille" Phänomene der
inneren Zeit (z.B. ein alter Regenschirm neben jungem Pflanzengrün
o.ä.) nur sehr bedingt in einer solchen Analyse berücksichtigen
lassen. Außerdem wurde auf Kadenzen geachtet, das heißt, der
eher helle und freie oder eher dunkle und belegte Schlußakzent
einer Einstellung, sowie auf ausgezeichnete Vorhalte, das heißt,
anhaltend fragende Blicke oder besonders akzentuierte Gesten am
Schluß einer Einstellung, die sozusagen in die folgende
Einstellung hinüberweisen.
Was läßt sich nun an einer solchen
Detailanalyse aufzeigen? Zunächst einmal, wenn man die bloße
Taktzahl vergleicht, ein Wechsel von kurztaktigen und
bewegungsarmen mit vieltaktigen und bewegungsintensiven
Einstellungen. Betrachtet man die gesamte Sequenz etwas genauer,
so ließe sich etwa folgende rhythmische Organisation der
Bewegungen und Intonation von zeithaltigen Phänomenen in den
jeweiligen Einstellungen skizzieren:
43: 2-taktig; eine Art Präludium
zum Kommenden in Schwarzweiß. Gekennzeichnet durch einen
ausgezeichneten Schwebezustand (Mikro- und Makrokosmos, Innen und
Außen gehen fließend ineinander über, wobei Licht und Geräusche
kontrapunktisch verwendet werden: dunkles Bild mit hellem
Vogelgezwitscher, helles Bild mit schrillem Kreissägengeräusch)
44: 2-taktig; bringt deutlich düsteren Vorhalt auf das Kommende
(dunkler Raum, Andrejs starrer Blick, Kreissägengeräusch)
45: 5-taktig;
zunächst wird der dunkle Vorhalt aus 44 kontrapunktiert (helle
Wand, Vogelgezwitscher, verhalten-freudiges Beethoven-Thema,
Domenicos freundliche Aufforderung). In dieser mit Abstand längsten
Einstellung der ausgewählten Sequenz (2,48 Min.) geht Andrej an
allen Wänden des Zimmers entlang, wobei die Kamera ihm nicht
einfach folgt, sondern eigenständig den Raum erfährt (in zwei
Horizontalfahrten und zwei Zooms auf Details von jeweils ca. 30
sec. Dauer). Das Detail eines verschlissenen Fotos in einer
dunklen Ecke und das Kreissägengeräusch setzen am Ende einen
deutlich düsteren Schlußakzent
46: 5-taktig; Domenico vollzieht
im Raum genau das gleiche Bewegungsmuster wie Andrej zuvor in 45,
allerdings in zeitlicher Verkürzung. Das helle,
lichtdurchflutete Blumenfenster wird hervorgehoben, wo man
erstmals beide groß gemeinsam sieht (alle entscheidenden Momente
der Interaktion zwischen Domenico und Andrej finden nachfolgend
vor diesem Fenster statt). 46 ist also eine Variation des
Bewegungsmusters von 45; ebenfalls dunkel kadenziert durch Geräusch,
Beleuchtung und Andrejs fragenden Vorhalt
47: 2-taktig; analoges
Bewegungsmuster zu 44, diesmal durch den Gefährten Domenico
vollzogen; dunkle Kadenz, etwas relativiert durch die brennende
Kerze
48: 3taktig; eine neuartige Bewegungsform innerhalb der
Sequenz, die nachfolgend insgesamt fünfmal wiederholt und
variiert wird und hier mit dem Regengeräusch einsetzt. Eine
gewisse Entspannung zwischen Thema und Gefährte, die sich fürs
erste "abgetastet" haben, tritt ein
49: 3-taktig; der
helle Nebenraum ("Regenraum") schafft eine gewisse
Offenheit. Licht und Geräusch (Regenmusik) bewirken erstmals
eine deutlich helle Kadenzierung
50: 3-taktig; zugleich die Mitte
der Folge von fünf Takten dieses Bewegungsmusters. Licht, Geräusch
und Domenicos Vorhalt (er bietet Andrej Brot und Wein an)
bewirken weiteren, hell kadenzierten inneren Gleichklang von
Thema und Gefährte
51: 3-taktig; positive Antwort Andrejs auf den
Vorhalt Domenicos (Trinkgeste); im Bewegungsmuster analog zu 50 (Andrej
vollzieht in der Umkehrung die gleiche Bewegung wie in 50 die
Kamera); hell kadenziert
52: 3-taktig; erstmals innerhalb einer
Einstellung vollzieht die Kamera mit Domenico, aber in der
Richtung entgegengesetzte Bewegungen, was ein neues
Rhythmusmoment (innere Zerrissenheit) einführt, das hier
zugleich einen Vorhalt bildet
53: 2-taktig; analog zu 43.
Zugleich beginnt hier, in variierter Form, eine Wiederholung des
Bewegungsmusters aus 43ff; hell kadenziert
54: 2-taktig; analog
zu 44, zugleich Antwort auf den Vorhalt aus 52 (innere Spannung
auch Andrejs); dunkel kadenziert
55: 5-taktig; analog zu 45, bei
verstärkten Richtungswechseln der Bewegungselemente (Andrej,
Domenico, Kamera) und vor allem auch zwischen Thema und Gefährte,
was die innere Spannung sehr verstärkt; dunkel kadenziert
56: 5-taktig;
analog zu 46, in der neuen Qualität ähnlich variiert wie 55;
Vorhalt durch Andrejs Zweifel und die Off-Rufe; dunkel kadenziert.
57: 2-taktig; analog zu 47, eher hell kadenziert
58: 3-taktig;
analog zu 48; hell kadenziert
59: 5-taktig (vielleicht auch 6-taktig);
die ersten Phasen der Einstellung scheinen analog zu 49 und
schaffen einen Gleichklang zwischen Thema und Gefährte (Andrej
und Domenico im Dialog, sie umarmen sich, lächeln). Die
nachfolgenden Phasen setzen mit neuer, verstärkter innerer
Zerrissenheit Domenicos und dem schrillen Kreissägengeräusch
einen düsteren Vorhalt auf Kommendes (Domenicos Trauma) und
konstituieren eine neue Rhythmusform (wobei natürlich zu berücksichtigen
ist, daß es sich bei der hier ausgewählten Sequenz nur um einen
Ausschnitt handelt).
Man kann mithin festhalten, daß der Rhythmus
dieser ausgewählten Sequenz aus drei deutlich unterschiedenen
"Strophen" aufgebaut ist:
Die Einstellungen 43-47
bilden zusammen ein Bewegungsmuster nach dem inneren Rhythmus 2-2-5-5-2.
Die Einstellungen 53-57 bilden eine variierende Wiederholung
dieser Strophe mit dem gleichen inneren Rhythmus 2-2-5-5-2.
Zwischen beiden bilden die Einstellungen 48-52 ein anderes
Bewegungsmuster nach dem inneren Rhythmus 3-3-3-3-3. Die
Einstellungen 58 und 59 scheinen letzteres zu Beginn zu
wiederholen, gehen aber dann in einen neuen Rhythmus über. Dies
ist aber nur eine Dimension der Rhythmik in dieser Sequenz.
Betrachtet man etwa die Bewegungsmuster der einzelnen Elemente für
sich, so wird man auch hier deutliche Analogien finden,
beispielsweise die Bewegungen der Kamera in 55 und 56 oder auch
in 48 und 58; oder die Organisation des Lichts in 45 und 46; oder
auch - und vor allem - die vielfältigen Analogien und
Verflechtungen von Thema und Gefährte, von Andrej und Domenico
in 48 und 49 oder in 55 und 56. Dies mag nur verdeutlichen, in
welcher Weise Tarkowskijs Kunst Rhythmus nicht erst in der
Schnittmontage schafft, sondern mit welcher Sorgfalt und Präzision
er sämtliche Bewegungs- und Intonationselemente des Films als Töne
oder Klänge erfährt und zu einer synergetischen Polyphonie
verdichtet. Daß in keinem einzigen Fall die Analogien der
Bewegungsmuster im metrischen Sinn völlig identisch sind,
unterstreicht nur, wie wenig formalistisch der Regisseur das
Rhythmische im Film versteht, wie sehr dieser Rhythmus "organisch"
entsteht.
2.2. Zur polyphonen Intonation auf der Ebene der vertikalen Verknüpfung - Zu wichtigen Einzelelementen der Intonation.
Man kann, wie bereits angedeutet, die verschiedenen Elemente des Films - wie Kamerabewegungen, Darsteller, ihre Gestik und Sprachintonation, Farbdramaturgie, Geräusche, Schauplätze etc. - hier auf eine außerordentliche Art als "Instrumente" auffassen, die der Regisseur, ähnlich wie der Komponist, gezielt orchestriert, mit denen er das Ganze des Kunstwerks intoniert. Einige der wichtigsten dieser Intonationselemente gilt es nachfolgend, etwas näher in Hinblick auf ihr Eigengewicht zu betrachten.
Schauplätze, Landschaften und Chronotope
Über die unverwechselbaren Schauplätze in Tarkowskijs Filmen ist in der Kritik viel geschrieben worden. Häufig will man in den abblätternden Wänden, den dachlosen Kathedralen, den Ruinenlandschaften und in den ungewohnten Bildern der Elementarkräfte der Erde, der Winde, des Feuers und immer wieder des Wassers und des Regens bloße Allegorien, Endzeitsymbole, Urmutter Natur oder auch einfach die "Manierismen" eines "hermetischen" Regisseurs erblicken. Stets aber prägen sich diese Räume tief ein, wie es bloße Manierismen zweifellos nicht vermögen. Wenn etwa die drei Männer im Stalker mit einer Lore durch das morastige, menschenleere Fabrikgelände fahren und zum ersten Mal die unberührte "Zone" betreten, oder wenn in der Schlußeinstellung von Nostalghia Andrej, die Heimatkate und die zerstörte Kathedrale eine ganz ungewohnte Zeit-Raum-Einheit bilden - immer sind es neuartige, im Kino bisher nie gesehene Räume, die auf eine merkwürdige Weise zugleich auch Zeit neu erfahrbar machen.
Bemerkenswert ist dabei zunächst, daß der
Regisseur dies keineswegs durch aufwendige Ausstattungen, Bauten
oder eine besonders ausgefeilte Technik erreicht, sondern ganz im
Gegenteil durch bewußte Beschränkung und Askese, ja, wie etwa
im Stalker, durch einen ausgesprochenen "Minimalismus"
- vor allem aber: durch Zeit-Kunst. "Die Landschaft",
schreibt Eisenstein, dessen besondere Liebe ostasiatischen
Landschaftsbildern galt, "ist das unabhängigste Element des
Films, sie ist am wenigsten belastet von bedienend-erzählerischen
Aufgaben und am anpassungsfähigsten bei der Wiedergabe von
Stimmungen, emotionalen Zuständen und seelischen Vorgängen, mit
einem Wort, all dessen, was in seiner vage erfaßbaren, fließenden
Bildhaftigkeit eigentlich nur durch Musik ausdrückbar ist."
Tarkowskij selbst betont die zentrale Bedeutung der Außendrehorte,
"in deren charakteristische Merkmale sich ja auch die Folgen
der einwirkenden Zeit einschreiben".
Man kommt der
besonderen Wirkkraft dieser Schauplätze - die zugleich ganz
neuartige "Zeit-Räume" eröffnen, wofür in der
russischen Kunsttheorie auch der Ausdruck Chronotop geläufig ist
- auf die Spur, wenn man sich einmal die Frage stellt, was all
diesen Landschaften gemeinsam ist. Es ist in der Hauptsache tatsächlich
die Eigenschaft "Zeit" selbst. Abblätternde Mauern drücken
in Tarkowskijs Filmkosmos als bloßes Bild, ohne jegliche
metaphorische oder allegorische Verweis-Funktion, unmittelbar
Zeitlichkeit aus. Ebenso ist es hier mit einer brennenden Kerze,
mit einer Ruine, mit Regen oder Schnee, mit einem Fluß oder Bach
oder auch einer verfallenden, menschenleeren Fabrik. All diesen
Gegenständen vor der Kamera, die hier in ihrer inneren
Zeitlichkeit freigegeben und freigestellt werden, ist Zeit
immanent, in ihnen ist Zeit "versiegelt", wie
Tarkowskij sagt.
Es sind diese Zeit-Räume ontologische
Seelenlandschaften, die, wie Turowskaja treffend bemerkt, "gleichermaßen
der objektiven Welt der Dinge ... wie der inneren Welt des
Menschen, der dies alles in sich trägt", angehören. In
Nostalghia gibt es im wesentlichen die Schauplätze Heimat-Chronotop,
Klosterkirche, Hotel, das Schwimmbecken von Bagno Vignoni,
Wasserruine, Kathedralenruine, Domenicos verfallenes Haus,
Vittorios Zimmer, der Kapitolplatz. All diesen Schauplätzen ist
jeweils eine ganz besondere Zeitlichkeit eigen. Die Zeitlichkeit
in dem Heimat-Chronotop beispielsweise ist eine völlig andere
als die der übrigen, und zwar nicht allein wegen der monochromen
Tönung und den vergleichsweise viel langsameren, fast den
Eindruck einer schwebenden Zeitlupe hervorrufenden Bewegungen der
Darsteller und der Kamera - eigenständige und zusätzliche
Intonationselemente, die noch gesondert zu betrachten sind -,
sondern die Landschaft an sich eröffnet auch deshalb einen
eigenartigen Zeit-Raum, weil hier die Natur-Elemente stets
gleichzeitig, ausgewogen und harmonisch zusammenspielen: Haus,
Menschen, Hund und Pferd, Weide und Bäume, Nebel, der Fluß und
die aufgehende Sonne bilden hier eine in sich ruhende Einheit wie
in einer alten chinesischen Tuschezeichnung. Die Uhren scheinen
gleichsam anders zu gehen, oder, besser gesagt, die Zeit, die
hier gar keine berechnend zu ermessende, sondern je schon die
innere Zeit ist, "fließt anders".
Im Schauplatz "Domenicos
Haus" hingegen gibt es harte Gegensätze hinsichtlich der in
den Dingen "versiegelten" Zeit: junge, grüne
Pflanzensprößlinge vor der abblätternden Wand oder ein alter
zerstörter Regenschirm neben einem lichtdurchfluteten Fenster. Während
Vittorios steriles Lifestyle-Ambiente ein Raum der Langeweile,
der Atopie und der Achronie ist, erscheint Andrejs Hotelzimmer,
in vielfältige Lichtklänge getaucht, als ein Refugium der
Melancholie in der Fremde, wogegen die de profundis-Grundstimmung
in der Einstellung, die Andrej beim einsamen Gang durch die
Kathedralruine zeigt - sie zitiert wohl C.D. Friedrichs "Ruine
in Winterlandschaft" und "Einsamer Mönch am Meer"
zugleich -, wiederum das unmittelbare Resultat einer ausgeprägten
Zeit-Spezifik (und besonderen Zeit-Kunst des Regisseurs) ist.