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Einer der letzten großen, zeitlich parallel zu ANDENKEN und DER ISTER entstandenen Gesänge Hölderlins trägt den Titel DIE NYMPHE MNEMOSYNE. Darin heißt es am Ende der Dritten Fassung:
"Am Feigenbaum ist mein
Achilles mir gestorben,
Und Ajax liegt
An den Grotten der See,
An Bächen, benachbart dem Skamandros (...)
Patroklos aber in des Königs Harnisch. Und es starben
Noch andere viel. Am Kithäron aber lag
Elevtherä, der Mnemosyne Stadt. Der auch als
Ablegte den Mantel Gott, das abendliche nachher löste
Die Loken. Himmlische nemlich sind
Unwillig, wenn einer nicht die Seele schonend sich
Zusammengenommen, aber er muß doch; dem
Gleich fehlet die Trauer"
(vgl. 2,1 (197f.)
Achill, Ajax oder Patroklos, das sind für Hölderlin vertraute Wesen, die ihn ein Leben lang begleiteten. In diesem Gesang scheint nun, wie zumindest Beißner - und seither vertrauensselig viele andere - diesen Gesang gedeutet haben, von ihrem Sterben die Rede zu sein. Aber nicht nur von ihrem, sogar vom Sterben der Mnemosyne selbst sei hier, wie Beißner überzeugt war, die Rede. Wie aber wäre dies mit Hölderlins Auffassung vom Ursprungserinnern als unzerstörbarer Wirklichkeit, als dem selbst Unvergeßlichen, als der wörtlichen a-létheia also, je zu vereinbaren? Verkündet Hölderlins Dichten am Ende wirklich den Tod der Mnemosyne, also auch den Tod des Dichtens, das ohne diesen Geist des Unvergeßlichen gar nicht sein kann?
Für diese Deutung scheint auf den ersten Blick einiges zu sprechen. Es "starben", wie es heißt, dem Dichter Achill, Ajax und Patroklos, und dann heißt es (was von den Herausgebern der Stuttgarter Ausgabe als entscheidende Einfügung in die dritte und letzte Fassung der Hymne aufgefaßt wird): "Der [der Mnemosyne, Anm.Verf.] auch als / Ablegte den Mantel Gott, das abendliche nachher löste / Die Loken". Beißner hat hier das Ablegen des Mantels, das Abendliche und auch das Lösen der Loken als Todesgeweihtheit gedeutet. [1] Der Kontext scheint dies auf den ersten Blick nahezulegen. Da heißt es etwa, ebenfalls in der 3.Fassung:
"(...) Und vieles
Wie auf den Schultern eine
Last von Scheitern ist
zu behalten. Aber bös sind
Die Pfade (...)"
"Wie auf Schultern eine / Last von Scheitern": so hart und als Bürde ist hier das "Behalten" gekennzeichnet. Das wiederholt freilich bei näherer Besinnung nur jene, für Hölderlins Mythos gar nicht ungewöhnliche Gestalt, daß das "heilige Gedächtnis" und das Ahnen auch ein "heiliges Laid", auch, wie es hier nun heißt, eine "Last von Scheitern" sein kann, das "Dazwischen-Sein" also im außerordentlichen Sinne, wie wir auch in der EMPEDOKLES-Dichtung erfahren, ein tragisches ist. An anderer Stelle heißt es:
"Vorwärts aber und rükwärts wollen wir
Nicht sehn. Uns wiegen lassen (...)"
Ist das nicht erneut ein unmißverständlicher Hinweis darauf, daß der Dichter dieses Zwischen-Seins im Dienste an der Lichtung der a-letheia überdrüssig und müde geworden ist, daß er sich nach "einwiegender" Ruhe sehnt? "Uns wiegen lassen" und nicht "vorwärts und rükwärts sehn"... Nimmt Hölderlin also, wenn er auch in diesem Gesang den "harmonischen Wechsel" und einmal mehr die Wahrheit jenes heraklitischen hendiapheromenon erinnert, aber wirklich schon Abschied vom poietischen Andenken? Widerruft er, der doch in aller Ursprünglichkeit das Sein eines anfänglichen Erinnerns als das erfahren hat, was sich in allem Vergehen und noch durch alle "Auflösung" hindurch als das Inständige erhält und als das Unzerstörbare bewahrheitet, hier tatsächlich den "unsterblichen Lebensgeist" selbst?
Natürlich nicht, denn da heißt es in demselben Gesang zugleich: "Und not tut die Treue". Das heißt: selbst wenn Erinnern zuweilen eine "Not" und ein "heiliges Laid" ist (für den Dichter in dürftiger Zeit zumal), es also zuweilen "not" auch im Sinne von "weh tut", so ist es doch gleichwohl notwendig und "not-wendend", denn es ist Ausdruck der "Treue", und zwar der Treue zu diesem Sein selbst. Auch wenn er dichtet, daß "die Himmlischen nicht alles vermögen" und daß "die Sterblichen eh an den Abgrund reichen", so drückt sich die gefugte Gegenstimme hier unmittelbar vor und nach diesen Worten (in der Zweiten Fassung) aus:
"(...) Zweifellos
Ist aber Einer. Der
Kann täglich es ändern
(...)
Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre."
Auch wenn die Sterblichen eh an den Abgrund reichen und die Himmlischen nicht alles vermögen, so ist doch "Einer", der "kann täglich es ändern", das heißt, er kann "täglich" sowohl im zeitlich-verallgemeinernden Sinn von jederzeit wie auch im qualitativen Sinn von "einen neuen Tag herbeiführend" die angesprochenen Nöte "ändern" und zum Umschwung bringen.
"Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre" - diesen unerhörten Vers muß man nicht eschatologisch auffassen, sondern es gilt auch hier den pindarischen Ton herauszuhören: "das Wahre" als das Verborgen-Unverborgene ist im "Ereignis" des herkünftig-ankünftigen Erinnerns, wie Hölderlin es versteht, immer schon gegenwärtig. Dieses Dichter-Wort vom Ereignis "des Wahren" bzw. von der Wahrheit des "Ereignisses" durchwirkt Heideggers Spätphilosophie wie kein anderes. Dieses Ereignis, in dem das Sein dem Dasein da ist, das herkünftige Erinnern gleichsam "ankünftig" und das Dasein vom Sein "er-eignet" wird, kann jederzeit in die Gegenwart einbrechen, mehr noch, es ist für das poietische Andenken selbst, das derart vom Sein "ereignet" ist, schon da. Es ereignet sich diese Wahrheit also nicht vielleicht oder irgendwann, sondern je schon im Vollzug eines vom Sein ereigneten Andenkens selbst: "...es ereignet sich aber / Das Wahre".
Soweit ich sehe, dichtet mithin der MNEMOSYNE-Gesang - wie die "Fugen des aber" ANDENKEN und DER ISTER auf ihre Weise ebenso - gerade die Inständigkeit des "harmonischen Wechsels" als jenes, das je aktuale Erinnern und Vergessen je schon in sich umgreifende Sein der a-letheia. Von dieser Lichtung des Unvergeßlichen, kann Walter Benjamin später - durchaus im Anschluß an Sokrates und im Geist von Hölderlins und Heideggers Andenkenweg - sagen: "Das unsterbliche Leben ist unvergeßlich, das ist das Zeichen, an dem wir es erkennen." [2]
Was aber hat es dann mit dem von Beißner als Todesgeweihtheit gedeuteten "abendliche Lösen der Loken" der Mnemosyne auf sich? Wohl ist in der dritten Strophe vom Sterben Achills, Ajax´ und Patroklos´ die Rede, doch wie sterben sie eigentlich in Hölderlins Gesang? Sie sterben "groß" und gleichsam aufgehoben von einer alles umgreifenden Natur: Achill starb "am Feigenbaum", Patroklos "in des Königs Harnisch" und Ajax starb "an den Grotten der See" und "groß". Was zeigen diese Attribute? Offenbar beziehen sie sich hier auf das "Kreuz" in der vorausgegangenen Strophe. Dort, am Ende der zweiten Strophe, ist von Christus als dem "unterwegs am Kreuze Gestorbenen" die Rede. Es folgt die zur dritten Strophe überleitende Frage, die zugleich eine Erstaunen signalisierende Zäsur ist: "(...) aber was ist dies?" Dann erst folgen die Verse: "Am Feigenbaum ist mein/ Achilles mir gestorben (...)"
Es vergleicht der Dichter mit anderen Worten die Art des Sterbens dieser Halbgötter: während Christus am "Kreuz" starb, starben die homerischen Heroen inmitten eines noch von allinniger Seinsnähe, den göttlichen Nymphen und dem heiligen Gedächtnis durchdrungenen Dasein. Dabei ist die Pointe nicht zu übersehen, daß Hölderlin in diesem Gesang gerade Mnemosyne selbst als "die Nymphe" dichtet, wie der Titel zeigt. Hölderlin besingt also im MNEMOSYNE-Gesang nicht das Verstorben- und Vergessensein dieser Halbgötter - geschweige denn den "Tod der Mnemosyne" selbst - sondern er hebt im Gegenteil auf ihre "Größe" ab.
Deshalb folgt auch, begründend und bekräftigend, der in erhabener pindarischer Tonlage vorgetragene Vers: "Am Kithäron aber lag / Elevtherä, der Mnemosyne Stadt (...)". Denn Mnemosyne selbst ist es, die das unsterbliche Gedächtnis der zuvor genannten Halbgötter bewahrt.Deshalb trägt das Gedicht auch ihren Titel, und zwar offenbar als "Ehrentitel" und Auszeichnung, so wie auch der Schlußvers "dem / Gleich fehlet die Trauer" eher zu einem pindarischen Lobpreis als zu einem vermeintlichen "Nekrolog" gehört.
Was Beißner aber hinsichtlich der darauf folgenden Worte vom "Lösen der Loken" und "Ablegen des Mantels" nicht wirklich berücksichtigt, ist der ursprüngliche Zusammenhang, in den diese offenkundige (und an sich unbestrittene) Hesiod-Reminiszenz Hölderlins im hesiodischen Mythos selbst eingebettet ist. "Am Kithäron aber lag Elevtherä, der Mnemosyne Stadt (...)" - das ist eine unmittelbare Bezugnahme auf den ursprünglichen Mnemosyne-Mythos der THEOGONIE (vgl.53-61). Um was aber geht es in diesem Mythos bei Hesiod, also dem Mnemosyne-Mythos schlechthin? Es geht nicht um den "Tod der Mnemosyne", sondern um die liebende Vereinigung von Zeus und Mnemosyne, um die Zeugung der Musen in "neun Nächten" auf "heiligem Lager"!
Offenbar hat deshalb auch Hölderlin hier in Wahrheit gar keine (an sich schon eher obskure) tödliche Begegnung zwischen Göttern vor dem inneren Auge (nämlich die Begegnung zwischen dem "Mantel ablegenden Gott" Zeus und der "nachher die Loken lösenden Mnemosyne") sondern, wie im ursprünglichen Mythos Hesiods auch, ihre Liebesvereinigung auf "heiligem Lager", der im Mythos die Musen entspringen - und der, wie wir ergänzen dürfen, auch Hölderlins Dichten entspringt, ganz besonders aber die hier zu erörternden Gesänge, die diese Einheit von Sein und poietischen Erinnern eigens dichten.
Daß dazu Gott "den Mantel ablegt" und die Göttin sich "das Haar löst", ist zwar nicht die Ausdrucksweise des hesiodischen Mythos, wohl aber kennt man vergleichbare ausschmückende Ausdrucksformen aus der homerischen Dichtung. Das "auch" in diesem Vers ("Der auch / Als ablegte den Mantel Gott ...") bezieht sich somit nicht auf das zuvor gedichtete Sterben Achills, Patroklos´und Ajax´, sondern im innermythischen Zwiegespräch mit dem ursprünglichen hesiodischen Mnemosyne-Mythos darauf, daß Zeus mit sehr vielen Gottheiten, eben "auch" mit Mnemosyne, so große Nachkommen wie die Musen zeugt (vgl.THEOGONIE, 915ff.).
Daß es Hölderlins Andenken nicht um denTod der Mnemosyne gehen kann, dafür steht die Existenz dieser Dichtung selbst, die doch das Wesen des Unvergeßlichen unablässig erfährt und ihm so erst "bleibende" Gestalt gibt: "Was bleibt aber, stiften die Dichter". Beißners vermeintlicher "Tod der Mnemosyne" aber - das wäre in Hölderlins Erfahrungshorizont nichts geringeres als der Untergang der Poiesis, ja die Auslöschung des Seins als des unsterblichen Lebensgeistes überhaupt, der doch nach einem Wort aus derEMPEDOKLES-Dichtung "nicht endet". Heidegger konstatiert mit Recht: "Andenken ist. Der Nordost wehet". [3] Und für Hölderlin lebt Mnemosyne.
Gleichwohl: Spricht Hölderlin in der BROD UND WEIN-Hymne nicht tatsächlich auchvon "trunkener Vergessenheit" und sogar davon, daß derselbe unsterbliche Lebensgeist "tapfer Vergessen liebt"? Ohne Zweifel, doch inwiefern dies gerade nicht so etwas wie den Tod der Mnemosyne meinen kann, erhellt sich erst aus einem tieferen Verständnis jener "rästelhaften Fuge des aber", von der Heidegger spricht. Daß das Unvergeßliche Erinnern und Vergessen, Anabasis und Katabasis, Lichtung und Verbergung, Aus- und Einkehr zu sich selbst je schon wie Stimme und Gegenstimme, Thema und Antwort innerhalb der Fuge in sich umgreift, daß dies hier gar keine Gegensätze und Ausschließlichkeiten sind - dies ist erst recht zu ermessen, wenn wir, wie es Heidegger mit gutem Grund für nötig hielt, die zeitlich parallel enstandene ANDENKEN-Hymne, den MNEMOSYNE- sowie den ISTER-Gesang in ihrem Kontext betrachten.
Anmerkungen