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Das Mißtrauen in die Dinge und die Natur bzw. das ebenso boden- wie grenzenlose Vertrauen in diese Chimären ist schon heute so groß, daß die Ingenieure, Designer und Kalfaktoren dieser neuen posthistorischen elektronischen Zeichenmagie an der Echtzeit-Börse umso enthusiastischer gehandelt werden, je mehr rote Zahlen sie schreiben - zum allgegenwärtigen Siegeszug des Virtuellen gehört offenbar auch eine virtuelle Kapitalkraft und virtueller Reichtum. Daß dies offenbar für besondere Kreditwürdigkeit bürgt, mag die traditionellen ökonomischen Lehren herausfordern, überrascht den unvoreingenommenen Beobachter des Börsenspiels und jenes seit jeher irrealen Geldfetischs weniger, waren die Börsennotierungen doch immer schon virtuelle Größen, gleichsam ein streng rational zelebrierter Irrationalismus, ein todernst geführtes Hütchenspiel sozusagen.

In dieser Logik ist es auch nur folgerichtig, daß der Online-Nomade inzwischen dafür bezahlt wird, wenn er möglichst viele Werbebanner im Internet anklickt, um auf diese Weise die Nachfrage zwar nicht der Produkte selbst, aber doch, was mindestens ebenso wichtig geworden ist, nach deren virtueller Schattenexistenz in die Höhe zu treiben. Wer darin nur ein Indiz erblicken möchte, daß man der Werbung insgeheim längst überdrüssig geworden ist, daß sie nur noch gegen eine angemessene Entschädigung an den Mann oder die Frau zu bringen ist, verkennt, daß das Netz überhaupt eine gigantische Werbeveranstaltung ist, man insofern bestenfalls von einem Rabattmarkensystem für Vielsurfer sprechen kann - oder aber in solchen Phänomenen einen Vorgeschmack von den Gebetsriten und Gottesdiensten der schönen neuen Warenwelt der Zukunft bekommt. Daß die Gefahren der digitalen Hörigkeit jedenfalls nicht leichtfertig unterschätzt werden sollten, belegte kürzlich erst eine Studie an der Universität Illinois/USA, bei der zwei Probandengruppen simulierten lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt wurden, aus der sich die eine mit Rechnerhilfe, die andere mit ihrem natürlichen Instinktvorrat befreien sollte. 97 Prozent von letzteren bewältigten die Gefahr, aber immerhin die Hälfte der Technikgläubigen stürzten ins virtuelle Unglück. Wer darin nur eine Bestätigung seiner Vorbehalte gegen die moderne Technik erblickt, hat die realen Gefahren der Virtualisierung noch nicht wirklich erkannt.

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Ohne die Melange von heilsgeschichtlichem Utopismus und jenem neuzeitlich irrationalen Zweckrationalismus, daran zweifelt kaum noch jemand, wäre die posthistorisch-virtuelle Moderne undenkbar, auch wenn die neuzeitlichen heiligen Kriege - die Kolonialisierung, die Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts, die Selbstversklavung durch Technik und Ökonomie - weniger im Namen der Geschichte, sondern mit Vorliebe unter dem Banner einer immer schöneren und neueren Zukunft und des grenzenlosen Fortschritts geführt werden. Die Debatten, ob die Katastrophen der modernen Massenzivilisation rückwärtsgerichteten Nostalgikern oder fortschrittsbesessenen Modernisierern geschuldet sind, erscheinen da hilflos und vordergründig. Hatte sich der Terror Hitlers der Vergangenheit, derjenige Stalins der Zukunft verschrieben? So zu fragen erinnert an den Streit, ob das Glas Wasser halbvoll oder halbleer sei. Sind gegen die sich heute abzeichnenden gentechnischen Versuchungen aber die früheren zaghaften Züchtungsversuche nicht beinahe harmlose Vorgeplänkel? Nein, die Sündenfälle der Moderne sind, wie wir immer deutlicher ahnen, nicht vorübergehenden »Störungen« des zivilisatorischen Fortschritts, Rückfällen ins Archaisch-Vorgeschichtliche geschuldet, sie sind vielmehr die Resultate und Kainsmale eben dieser Fortschrittsgeschichte selbst.

"Die Zukunft von der Vergangenheit befreien!" - dieser beliebte Slogan der virtuell gewordenen Existenz kann - nachdem der »befreiende« Schnitt, der uns von jeder natürlichen und kosmischen Herkunft abtrennt, in Wahrheit, zumindest so weit dies dem Menschen überhaupt möglich ist, längst erfolgt ist - nur noch parodistisch verstanden werden. Wo man den Sinkflug so deutlich spürt, kann gar nicht genug Ballast abgeworfen werden. Und warum sollten wir an einem Menschenbild festhalten, das sich historisch nicht bewährt, das sich so gründlich selbst widerlegt hat? Und sind uns, auf dem schwindelnden Gipfel des beständigen Fortschritts vom Leben selbst, nicht Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen weggebrochen? Ist es denn in absehbarer Zeit noch selbstverständlich, daß ein Mensch um eine Herkunft ahnt, nach einer Herkunft fragt - oder fragen darf? Die Brisanz dieser Frage merken wir daran, daß sie über Jahrtausende nicht unsere biologische und physische, sondern »meta«physische Herkunft meinte, sich nunmehr aber abzeichnet, daß jene bald keineswegs weniger rätselhaft als diese sein dürfte, das eine vom anderen auch gar nicht zu trennen ist.

Ist der Mensch als jenes »noch nicht festgestellte Tier« aus jeder Zeitordnung herausgefallen, als kosmischer Outcast und "Fehlwurf der Evolution" gebrandmarkt? Ist Zeit heute noch etwas anderes als Geld? Dies verkündete schon Benjamin Franklin den protestantischen Landnehmern und tradesmen in Nordamerika, als sie Mutter Erde von den Indianer-Heiden befreiten und mit den Segnungen der Zivilisation beglückten (wie es die christlichen Conquistadores einige Jahrhunderte früher schon vorexekutiert hatten). Diese neue Zeit, in der die Lebensmittel - Waren, Arbeit, Technik, Geld - zum Lebenszweck, alles Lebendige selbst aber zum bloßen Mittel wird, alles einst Unverfügbare in den Verbrauchs- und Verwertungskreislauf gezerrt wird, kann man die Krämerzeit nennen - oder auch die zeit- und herkunftslose, die virtuelle Zeit. Sie findet ihren Ausdruck im Zahlen-, Berechnungs- und Machbarkeitswahn und in einem universalen Geldfetisch.

Das Geld heckende Geld wird zur eigentlichen Triebfeder, zum letzten Gott, zum Surrogat und zugleich Maß der verlorenen Zeit. Im Zins und Zinseszins gewinnt dieser streng rational und berechnend auftretende Irrationalismus, daß auch Zeit/Lebenszeit nur Geld bzw. Geld seinerseits, wie Lyotard bemerkt, unmittelbar »aufgespeicherte Zeit« sei, ihren unmittelbarsten Niederschlag. Seither reißt uns jede neue Zeitbeschleunigungs-Technologie tiefer in der Strudel immer knapperer Zeit, und jeder vermeintliche Zins- und Zeitgewinn entlarvt sich doch zuletzt als Zeitverlust, als Enteignung und Raub von realer Lebenszeit.

Ein Papst Johannes XXII. verdammte im 13. Jahrhundert die von grübelnden Mönchen als Fortentwicklung der Wasser-, Sonnen- und Sanduhren oder der bis dahin gebräuchlichen 24-Stunden-Kerzen erfundenen mechanischen Zeitmesser noch als Angriff der profanen curiositas auf die festliche und unantastbare Zeit der Schöpfung. Doch erkannte man in der katholischen Welt sehr bald auch ihre Vorzüge hinsichtlich Ordnung, Regelung und Steuerung der »triebhaften Natur«, des schwer kalkulierbaren dionysischen Reservoirs des Menschen. Norbert Elias erblickte im Hemm-Mechanismus, auf dem die Funktion der Räderuhr beruhte, gleichsam eine neue universale Metapher, denn die Chronokratie im Minutentakt überführte die mythische Zeit des Inneseins, der urwüchsigen Zyklen der Naturzeit und des anarchischen Augenblicks als kairos in die veräußerlichte, einheitliche und steuerbare Herrschaftszeit. Sie erlaubte Synchronisierung, Uniformierung und Gleichschaltung alles von Natur her Differenten in hohem Maß, also eine Lebenshemmung, -bewirtschaftung und -kontrolle im umfassenden Sinn.

War diese »gehemmte Zeit«, in dessen Rädern Muße, Kontemplation und native Freiheitsgelüste zwangsläufig akut bedroht waren, insofern auch schon ein vorneuzeitliches Phänomen, so blieb andererseits bis zur Neuzeit hin auch noch die Brotarbeit ein stückweit die Verlängerung einer festlich-ritualisierten Zeit. Die Zeit war verordnet, der Herrschaft dienstbar gemacht worden, aber Macht und Stellenwert jener unverfügbaren Zeit blieben doch in Rudimenten und zumindest mittelbar intakt. Ganz im Gegensatz zur Neuzeit, als die Stechuhr jeden natürlichen Rhythmus, Fünfjahrespläne die Natur- oder Kirchenjahre, das elektrische Licht endgültig die Kerzen in den Kirchen und schließlich kalifornische Zweijahrespläne eines immer engmaschigeren Ausbaus des globalen Netzes der Zeitverwertung unser herkömmliches Selbstverständnis von einem Dasein in Raum und Zeit auf so merkwürdige Weise herausfordern. Arbeits- wie Konsumzeit werden zu einer bloßen Verlängerung des Geldkreislaufs, Lebenszeit selbst zunehmend berechen-, verfüg- und verwertbar. Alle heutigen »Mehrwertdienste« beruhen im Grunde auf einem Raub, Handel und Verkauf von Lebenszeit.

Beinahe ist alles ein einziges Warentermingeschäft geworden, ein Wechsel auf die Lebenszeit (bis hin zur Lebensversicherung, wo der Reichtum über unser Grab hereinbricht). Die Verdrängung des Unverfügbaren und Lebendigen steigert sich in den Nanosekundentakt der modernen Informations- und Netztechnokratie, in der die negotio nicht nur jede otio verschlingen muß, sondern unser Dasein in Raum und Zeit äußerst fragwürdig, fast obsolet erscheint. Alles gerät, wie es jener ehernen Logik des Geld heckenden Geldes als Souverän entspricht, in den Strudel einer Beschleunigungsbesessenheit, aber kaum jemand hat noch Zeit, nach Sinn und Zweck des Ganzen zu fragen, vielleicht ahnt man auch, wie sinnlos diese Fragen geworden ist.

Das Leben muß sich nun gleichsam beständig, sekündlich seiner selbst vergewissern. Lebe ich noch, wenn ich online bin? Existiere ich für die anderen noch, wenn ich nicht online bin? Lebe ich noch, wenn das Geld nach allem heckt, nur nicht nach mir? Lebe ich noch, wenn ich auch selbst Teil dieses auf der Stelle rasenden Geldkreisels geworden bin?... Eine zuweilen panisch ausbrechende Gier nach Zeit, die man verloren hat, zerstört ihrerseits letzte Enklaven des Gelassenen, das die Dinge sein läßt, was sie sind, und ohne die kein Werk, nichts Poietisches zumindest, reifen kann. Der Fortschritt greift, höchst berechnend und planmäßig und doch abgrundtief irrational, nach den letzten verbliebenen Zeit- und Lebensspielräumen, denn nichts, aber auch nichts soll sich länger noch jenem allmächtigen Verwertungsgesetz entziehen können. Wo auch nur der Anschein dessen entsteht, wittern Machinisten und Sozialtechniker des Gestells Gefahr und Subversion. Was außerhalb des Gestells weilt, gilt als Vor- und Gegenwelt, existiert nicht. Als Lebenskünstler gilt nicht mehr der Bescheidene, sondern der erfolgreiche Börsenspieler. Bestsellerlisten, Einschalt- und Anklickquoten zerstören und ersetzen flächendeckend Kunst und Kultur. Was nicht in »Mehrwertdienste« und Geld heckendes Geld überführbar ist, hat keine Existenzberechtigung mehr: Machenschaft statt poiesis, rasende Panik statt Muße, Weltverlust statt Anfangslust.

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Die mechanische Uhr drehte sich im Kreis, man mußte sie jeden Morgen neu aufziehen, selbst sie blieb in gewisser Hinsicht eine entfernte Mahnung der zyklischen Zeit, eine Art Vanitas-Symbol. In der Auslöschung dieser Reminiszenzen, wie sie sich in der allseitigen Digitalisierung - das meint hier die Aufhebung des Analogen in Raum und Zeit im weitesten Sinne - ereignet, begegnen wir, zumindest technisch gesehen, der vollständigen »Befreiung« von der wirklichen Zeit, von einem in Werden und Vergehen wohnenden, aufblühenden, alternden und sterblichen physischen Leben. Diese Vervollkommnung des Verlustes der Dingwelt ist zugleich eine Art Avatarisierung unserer selbst. In ihr schwindsüchtet die Zeitweite zum austauschbaren und ausdehnungslosen Zeit-Punkt, der eine universale Äquidistanz zu allem und zwischen allem schafft, in dem Ferne und Nähe, An- oder Abwesenheit zunehmend gleichgültig werden.

In ihr verwinden sich Vergangenheit und Zukunft, unser Gewordensein und unsere Werdelust zu einer permanenten und doch seltsam unbeständigen Pseudo-Präsenz, einer seltsam entkernten Dauer ohne kairos. Der Mensch als Naturgeschöpf scheint zu verschwinden - und nichts winkt ihm hinterher. "Das Entsetzende ist", bemerkt Heidegger, "das alles, was ist, aus seinem vormaligen Wesen heraussetzt." Das Entsetzliche ist, daß man, dem Naturgesetz der Endlichkeit unterworfen, doch zu jenem bodenlosen Glauben verdammt scheint, wir hätten die Welt und nicht sie uns hervorgebracht.

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