Der Vogel beweist nichts

Gedanken zum Fliegen mit und gegen die Natur

Der Traum vom Fliegen ist so alt wie die Menschen. Wenige Mythen sind uns so geläufig wie die Geschichte vom Höhenrausch und Absturz des Ikarus, jenes Unglücklichen, der mit seinem Vater, dem legendären Erfinder Daidalos, den Flug der Vögel nachahmen wollte, dabei der Sonne zu nahekam, das Wachs der Flügel schmolz und er in den Tod stürzte. Gemäß einer Liedzeile Brechts "Nur zu hoch nicht hinaus, es geht übel aus..." oder auch der ältesten Fliegerweisheit folgend "Runter kommt man immer..." verbindet man mit diesem Fall seither den vermessenen Griff nach den Sternen, einen fatalen Erfindungseifer, kurz - die menschliche Hybris.

' Doch hat dieser Mythos noch eine Vorgeschichte, die weniger geläufig ist. Sie ist so überliefert, daß Daidalos, jener Erfinder und "beste Bildhauer und Maler Athens", der seinen Neffen Perdix in einer Art Eifersuchts- und Wahnsinnstat umgebracht hatte, zur Strafe in die kretische Verbannung geschickt wurde. Doch auch dort erhielt der Begnadete von König Minos erwartungsgemäß viele Aufträge. Seine verhängnisvollste Erfindung, mit der ihn die Königsgattin beauftragt hatte, war eine künstliche Kuh, in der die Königin sich versteckte, um ihre Lust nach einem kräftigen Stier zu befriedigen. Dieser Vereinigung entstammte Minotaurus, halb Mensch, halb Stier - und zweifellos eine Ausdrucksform des Dionysos. König Minos aber schämte sich wegen dieses Vorfalls für seine Gattin entsetzlich und beauftragte Daidalos mit der Anlage eines Labyrinths, in dem das "illegitime Zwitterwesen" Minotauros vor der Öffentlichkeit versteckt werden sollte, einem Gewirr von Gängen, in dem sich jeder neugierige Eindringling verirren mußte. Als Daidalos jedoch Ariadne, der Tochter des Minos, die sich in den Minotauros/Dionysos unrettbar verliebt hatte, aus Mitleid verriet, wie sie mithilfe eines Fadens dem Labyrinth entkommen konnte, und König Minos von diesem Verrat erfuhr, wurde Daidalos selbst mitsamt seinem Sohn in das Innere des Labyrinths gesperrt. Wie er so nach Fluchtmöglichkeiten sann, sah er, wie über ihrem Gefängnis die Vögel flogen. Da kam ihm der Gedanke, künstliche Flügel aus Wachs und Vogelfedern zu bauen.

Es war also diese Gefangenschaft, die die Aufmerksamkeit des Daidalos auf die neue Erfindung lenkte. Tatsächlich gewinnt aus der Perspektive hinter Gittern oder Käfigstäben der freie und ungebundene Vogelflug eine besonders eindringliche Bedeutung. Was Freiheit ist, weiß am besten, wer ihrer beraubt wurde. Und wieviele Gefangene mögen seither wehmütig den Vögeln in den Lüften nachgesehen haben... Natürlich ist diese Vorgeschichte der Gefangenschaft nicht beiläufig. Für jenen tragischen, vielbewunderten und vielgescholtenen Erfindungseifer liefert der Mythos eine Begründung: eine existentielle Not, eine Verlusterfahrung ist es, die den Menschen zur Suche, zur Flucht nach vorne, zu erfindungsreichen Kunststücken antreibt: der Mensch, das "noch nicht festgestellte Tier" (Nietzsche), scheint zu fatalen Erfindungen genötigt, die seine Not am Ende nur vergrößern. Er hat von der Natur nicht einmal ein schützendes Kleid mitbekommen, geschweige denn die Fähigkeit zu fliegen, dafür aber erfand er das Feuer, den Baum der Erkenntnis, die Technik. Vielleicht erklärt erst dieser ganze Mythos in seinem nicht nur moralisch-mahnenden, sondern existentiell paradoxen Charakter die Vorliebe der aufbrechenden Neuzeit für die Daidalos-Ikarus-Geschichte. Die Humanisten und Künstler im 15. Jahrhundert erkannten, jenseits kirchlicher Bevormundung, aber noch diesseits einer technoiden Moderne, darin die eigene Existenz wieder, eingespannt zwischen rastloser Suche und dem Verlust jeder Heilsgewißheit (die ja auch eine Art Flucht ist).

So malt etwa Pieter Brueghel d.Ä. seinen berühmten "Sturz des Ikarus": Ikarus fällt ins Meer, doch die pflügenden Bauern im Vordergrund gehen teilnahmslos und dumpf ihrer Arbeit nach, nehmen nicht einmal Notiz von diesem Drama. Der Ikarusmythos gemahnt also nicht nur, wie sich heute verständlicherweise der Gedanke aufdrängt, an die Vermessenheiten und Übergriffe der modernen Wissenschaften und der Technik gegenüber der Natur, er ist noch mehr als jene christlich-moralische Mahnung vor mangelnder Demut, einer überall lauernden superbia. Er ist ein Inbild des paradoxen menschlichen Daseins als solchen, seines "Dazwischenseins", seiner sonderbar naturflüchtigen und kosmofugalen Existenzweise. Aber diese Erkenntnis mindert die Bedeutung des Mythos für die Gegenwart keineswegs.


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Das "Universalgenie" der Renaissance und ein Nachfahre des legendären Daidalos, Leonardo da Vinci, ging besonders fromm bei der Natur in die Lehre. Er betrieb intensive Studien zum Vogelflug, um jenes geheimnisvolle, beneidenswerte Vermögen besser zu verstehen. Leonardo ahnte, daß sich der Mensch eines Tages über die Erde erheben und auch "den Himmel beherrschen" würde. Er experimentierte mit dem Prinzip des rotierenden Hubpropellers, des "Hubschraubers". Er studierte, gewiß nicht zum erstenmal, die "gewichttragenden" Eigenschaften der Flügel, den funktionellen Feinbau der Federn und sogar schon, wie die Flugphysiker heute sagen würden, die "aerodynamische Grenzschicht" der Tragflügel, also ihre Oberflächenbeschaffenheit in Hinblick auf optimale Umströmungs- und Auftriebseigenschaften. Er erkannte die Bedeutung des sogenannten Daumenfittichs der Vögel als flugstabilisierendes Feinsteuer und betrieb vergleichende morphologische Studien zwischen fliegenden Fischen und Insekten. Tatsächlich gehen die erstaunlichen Isomorphien in der Natur so weit, daß man sagen kann, der Pinguin fliegt durchs Wasser, während winzige Insekten, eben aufgrund veränderter Grenzschichtverhältnisse, weniger zu fliegen, sondern eher durch die Luft, die für sie eine Art zähe Masse ist, zu schwimmen scheinen.

Zu Leonardos Zeit waren Kunst und Technik noch keine getrennten Gipfel und einander so entfremdet wie heute, nachdem wir zu Gefangenen jenes selbstherrlichen technisch-ökonomischen Gestells geworden sind und kaum noch nachvollziehen können, daß das Wort techné den Griechen, wie auch den Renaissancekünstlern, ursprünglich noch beides bedeutete, Kunstfertigkeit und Erfindungsgeist. Diese tragische Schere der Moderne öffnete sich erst, als die Künstlerträume Leonardos Wirklichkeit und nicht selten auch zum Alptraum wurden, als nicht mehr der poetische Geist, sondern ein entfesseltes Nutzenkalkül, allseitiges Verwerten und blinder "Machbarkeitswahn" das Feld bestimmten. Man kann auch sagen: als der Seelentraum in Vergessenheit geriet, der Gedankenflug nicht mehr frei, sondern "technisch", ein bloßes Mittel zum Zweck wurde. Leonardo forschte vor allem, um die Natur besser zu verstehen, heute wendet man ohne Skrupel selbst das mit vordergründigem "Nutzen" gegen die Natur an, was man nicht versteht - und vielleicht gar nicht verstehen will.

Leonardos Ahnungen aber scheinen sich erfüllt zu haben, der Mensch beherrscht heute auch den Luftraum. Manche fragen sich nur, wie lange noch. Gewiß, die technoide Zivilisation glaubt die Natur zu Wasser, zu Lande und in der Luft zu beherrschen, sie greift sogar, tastend wie eine Blinde im Tunnel, ins Weltall und in die Rätsel der Gene vor. Doch "beherrscht" der Mensch die Natur wirklich, oder ist er umgekehrt von einer fixen, möglicherweise bodenlosen Idee seiner selbst verhext, so daß nicht er seine eigene Natur, seine Erfindungen, seine Technik, seine Hybris, sondern diese ihn beherrschen? Nach Guernica, Hiroshima, Tschernobyl undsoweiter rückt uns zwangsläufig auch die Genialität und "Morgennatur" eines Leonardo in die Ferne, verblassen seine inzwischen auf so ernüchternde Weise "übertroffenen" Flugvisionen - während der Daidalos-Mythos noch an Bedeutung und Schärfe gewinnt.

In einer Hinsicht ist ja auch diese Neuzeit im Ikarus-Mythos schon vorweggenommen, Daidalos ist auch eine Ur-Gestalt des modernen Physikers und seiner Sündenfälle, eben ein Symbol der unlösbaren Paradoxie des menschlichen Erfindungsgeistes, wie sie in der neuzeitlichen Wissenschaft als angewandter Technik nur gespenstig gesteigert zum Ausdruck kommt: die menschlichen Aus- und Aufbruchversuche schaffen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ihre eigenen, neuen, oft größeren Gefangenschaften und Unfreiheiten. So war schon Ikarus, wie der Mythos erzählt, von der neuen, fast schwerelosen Fortbewegungsart so berauscht, daß er dessen Mahnungen, nur ja nicht zu hoch zu fliegen, schon bald in den Wind schlug und der "Höhenrausch", wie es in der Artisten- und Fliegersprache heißt, oder die Vergessenheit, wie man mit Sokrates sagen könnte, ihn packte - und er stürzte: die Metapher jenes kosmischen, unvordenklichen Sturzes, des Engelsturzes noch einmal, gewiß, aber eben auch schon des zweiten Falls, des abgestürzten Erfindergotts.

Heute ahnen wir darin gleichsam Anfang und Ende eines Zivilisationsprozesses: den alten und neuzeitlichen Fall, den Irr- und Höhenflug einer ebenso vergeßlichen wie berauschten, einer haltlos gewordenen Besessenheit, die zwischen Symbol und Machenschaft, beflügelndem Seelenflug und den trägen Gesetzen des Quantitativen nicht mehr zu unterscheiden vermag oder, noch verhängnisvoller, beides verwechselt: als wahr gilt, was funktioniert, und noch mehr, was sich rechnet. Wie sich im Siegeszug des Physikerkosmos der Verlust des kósmos spiegelt, so in der modernen Flug- und Raketenmaschinerie der Verlust jenes platonischen Seelenaufflugs. Zweifellos wird in dieser Flucht nach vorne, die wir uns angewöhnt haben, Fortschritt zu nennen, der vorherrschende Fluchtcharakter, das Fortschreiten von uns selbst, der Verlust von Welt und eine seltsame Maßlosigkeit immer deutlicher. Jede neue Erfindung vervollkommnet nur unsere Abtrennung vom Kosmos und das Gehäuse selbstgeschaffener Hörigkeit, mit jeder Beschleunigungstechnik wird unsere Zeit immer knapper. Der Mensch ist aus dem Kosmos in die "selbstbestimmte Geschichte" geflohen und nun, nachdem diese erschöpft ist, gleichsam gänzlich aus der Zeit herausgefallen - gleichsam ein Auslaufmodell. Der Mythos aber erzählt die Geschichte vom Menschen diesseits einer eingebildeten Fortschrittsgeschichte, er erzählt mehr davon, wer und was wir sind, als davon, für was wir uns halten. War und ist also der menschliche Traum vom Fliegen noch mehr als Physik und Technik, doch ein Seelentraum, der als solcher, nur als solcher seine Faszination behält? Ist er nicht noch mehr und anderes als jener Massentransport von Touristen mit fliegenden Omnibussen oder jene Spielart ballistischer Kriegführung, egal ob nun in "heißer" oder ziviler Form?

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