Abwesenheit

Wo das Bewußtsein von Ferne und Differenz schwindet, gibt es keine Nähe. Wo Abwesenheit verleugnet wird, verliert auch Präsenz zwangsläufig jede Bedeutung. Jenes technoide Nirwana, das uns scheinbar zum Souverän über Zeit und Raum macht, verstellt uns die Wahrheit des Da-seins. Mit dem Überrauschen von Zeit und Vergänglichkeit schwinden diese selbst keineswegs, wohl aber der Sinn für das Unverfügbare. Es verflüchtigt sich der kairos als Einbruch der ekstatischen in die vernutzte Zeit.

Was als Überwindung und "Beherrschung" von Zeit und Raum angepriesen wird, entpuppt sich so zunehmend als Zeitraub, Enteignung von ureigener Lebenszeit. Das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben beziehungsweise die Zeit mit Falschem zu vertun, springt uns trotz aller Instant-Glücksangebote immer unheimlicher an. Wenn der schwindende Lebens- und Freiheitswille schon nicht mehr heilbar scheint, so muß er wenigstens immer gründlicher betäubt werden.

In Aldous Huxleys Brave New World steht der letzte Wilde "Eurer Fordschaft", dem Weltaufsichtsrat, gegenüber, der ihn belehrt: "Die Menschen sind glücklich, sie kriegen, was sie begehren, und begehren nichts, was sie nicht kriegen können. Es geht ihnen gut..." Allerdings sehe "wirkliches Glück immer recht jämmerlich aus, verglichen mit den Überkompensationen von Unglück. Zufriedenheit hat nichts vom Ruhmesglanz eines tapferen Kampfes gegen Ungemach, Glück ist niemals erhaben..."

In jener 1931 von Huxley vorweggenommenen Wohlstandsgesellschaft dünkt sich tatsächlich jeder nur deshalb "glücklich", weil alles Fragwürdige, Tragische, Lebendige - Religion, Kunst, Natur, Familie, Liebe und Erinnern - im Interesse der Wahrung der Instant-Glücks-Maschine strikt verbannt ist. Es gelten zwei Maximen: "Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit" und vor allem: "Jeder ist seines nächsten Eigentum" - die vollendete Demokratie also.

Mann und Frau sind restlos gleich, denn das Zeugen und Gebären ist zugunsten einer sorgfältig geplanten InVitroZeugung und Retortenlogistik abgeschafft. In dieser Welt der genetischen Diktatur, die weder Kindheit noch Alter, weder das Unberechenbare noch das Unverfügbare kennt, ist sich der Mensch gänzlich fraglos seiner selbst, in einer eingefrorenen Gegenwart ohne Herkunft und Zukunft gefangen.

Aber "reden und sogar schreiben, wenn man nichts zu sagen hat?" wendet der letzte Wilde ein. - "Aber gerade dazu gehört die allergrößte Begabung!" entgegnet der WAR, um im selben Atemzug das Erfolgsrezept der schönen neuen Welt zu skizzieren: "Siebeneinhalb Stunden leichter, nicht ermüdender Arbeit, dann die Soma-Ration [eine Droge, die "die Vorzüge von Christentum und Alkohol ohne deren Nebenwirkunken" hervorruft], Sport und unbeschränkte Paarung und Fühlkinos. Was können Sie mehr verlangen? Natürlich könnten sie kürzere Arbeitszeiten fordern, und wir könnten die ohne weiteres bewilligen. Technisch wäre es ganz einfach, die Arbeitszeit der unteren Kasten auf drei oder vier Stunden am Tag herabzusetzen. Aber wären sie dann glücklicher? Nein! Es wäre einfach grausam, ihnen allzuviel Muße aufzubürden..." - So dürfen die unmüßig Geschäftigen und befreiten Sklaven nicht eher ruhen, bis auch noch das letzte Wild erlegt ist.

Was könnte noch aufbegehren und befruchten, wo alles nur begehrt - und noch mehr begehrt sein will. Die Global Titanic durchspukt ein großer Unbekannter der alles auffrißt, was dem geheimen Energiestoffwechsel - den immer noch schnelleren und größeren Umsatz, das immer nur noch mehr Geld heckende Geld - in irgendeiner Weise förderlich ist. Man tuschelt sich zu, sein Name sei »Full Catastrophy«, das sei griechisch und hieße Ewiges Leben... »Es werden noch Wetten angenommen«, ruft der Croupier und verteilt seine Puts und Calls auf das Leben.


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