Bataille: Heilige Einverleibung
Die Einverleibung ist ein heiliger Akt der Natur, meint Canetti. Bataille nimmt diesen gerne verdrängten und doch ganz unabweisbaren Gedanken zum Ausgangspunkt seiner "Theorie der Religion". Im ganz natürlichen, allgegenwärtigen und scheinbar so banalen Akt der Einverleibung und des Gefressenwerdens erkennt er - neben bzw. ineins mit der Leben zeugenden sexuellen Vereinigung - die denkbar innigste und tiefste Einung in und mit dem Leben. Die Selbstverständlichkeit und 'Apathie', so Bataille, "die der Blick des Tieres nach dem Kampf erkennen läßt, ist Zeichen einer Existenz, die wesenhaft identisch ist mit einer Welt, in der sie sich bewegt wie das Wasser inmitten der Wasser..."
Es ist diese Einverleibung freilich eine Einung und Lebenswirklichkeit, der der Mensch zunächst geflohen ist, die er später systematisch entwertet, tabuisiert und verfemt und schließlich im modernen Technizismus weitestgehend von seinem Bewußtsein abgespalten hat. In gewisser Hinsicht kann man den gesamten menschlichen Zivilisationsprozeß als einen Fluchtversuch vor jenem Leben verstehen, in dem die Hingabe und der Tod so selbstverständlich und allgegenwärtig sind wie die Tatsache, daß der Fluß fließt. Insbesondere mit der Herstellung und dem Gebrauch von Werkzeugen tritt der Mensch aus dieser lebendigen und elementaren Welt mehr und mehr heraus. Mag dieser Werkzeuggebrauch für das physische Mangelwesen Mensch, dem die Natur nicht einmal ein Fell mitgegeben hat, auch überlebenswichtig und insofern "nur natürlich" gewesen sein, so isoliert er ihn doch zunehmend von seiner Welt, den Tieren, der Natur, dem Kosmos, trennt ihn schließlich nahezu vollständig ab von jener ursprünglichen Einheit des Lebendigen. Im "prometheischen" Herstellen und Gebrauch von Werkzeugen erweist sich der Mensch als äußerst listiger und wirkungsvoller Erfinder und berechnender Techniker - und freilich ineins damit als konkurrenzlos "erfolgreicher" Lebensvernichter....
In dieser Praxis des Fluchtwesens Mensch liegt zugleich der Keim eines "Bewußtseins" vom eigenen Tun ("Selbstbewußtsein"/Intention) und damit auch für jenes, für den homo faber seither typische, dualistisch zerrissene, Mitwelt instrumentalisierende Denken und Verhalten in den Kategorien von Mittel und Zweck, Subjekt und Objekt, "Ich" und Welt. In diesem sich zunehmend verselbständigenden Werkzeuggebrauch liegt also die Wurzel einer abgründigen Entwurzelung, der Schaffung einer zweiten, artifiziellen Eigenwelt (Zivilisation) neben und schließlich zunehmend gegen die vorgegebene eine, einige, in sich verständigte und natürliche Welt. Mag der Werkzeuggebrauch des Menschen auch für ihn selbst viele "nützlich" erscheinende Gegenstände schaffen, er bringt doch all das erst in die Welt, was uns als Verdinglichung, Entfremdung, Arbeitswahn, allseitige Instrumentalisierung und utilitaristisches Zweckdenken selbst versklavt.
Das wilde Tier (sofern der Mensch dies noch zuläßt) ist frei, es muß keine Kreditkarte haben, keine Miete zahlen, sich nicht an geschriebene oder ungeschriebene Gesetze halten, es muß nicht ins Gefängnis - aber es entbehrt nichts wirklich Wesentliches: es spielt, kommuniziert, liebt und kopuliert, hat Kinder und Familie, es kennt sich mit hellwachen Instinkten in seiner und der einen Welt aus, es weiß instinktiv wie man lebt und wie man stirbt - und daß man vor allem die Menschen meiden muß... Von Kant stammt der Gedanke, daß auch der Pavian wohl reden könnte, es aber tunlichst unterlasse, damit er nicht auch noch zur menschlichen Fron- und Sklavenarbeit herangezogen werde... Das Tier ist in seinem Sosein eins mit sich selbst und zugleich eine unmittelbare Einheit mit der Natur/dem Sein - eben "wie das Wasser im Wasser". Es ist wild und unschuldig das, was es ist, grübelt und reflektiert sich nicht ständig, es will sich weder "selbst erkennen", noch braucht es Moralvorschriften oder weiß etwas von jener Aufteilung der Welt in Gut und Böse, Oben und Unten etc., worauf sich der Mensch so entsetzlich viel einbildet.
Das ungezähmte Tier einverleibt sich auch das andere Leben nur aus Sympathie, gleichsam in liebendem Einverständnis. Es tötet nur aus Notwendigkeit und folgt dabei einem inneren Drang und Fluß des Lebens selbst. Jedenfalls tötet es nicht, wie der Mensch, aus Übermut oder technischer Überlegenheit, aus sportlichem Ehrgeiz oder gar "auf Vorrat" - und mit Vorliebe seinesgleichen. Das mit der Natur einverständige Leben sagt, wie das Kind, sein großes Ja zu seinem Dasein, zeigt nirgends ein "schlechtes Gewissen", es fürchtet weder das Leben noch (in jenem abgründigen und absoluten Sinn) das Sterben oder den Tod, weil dieser noch selbstverständlicher organischer Bestandteil des sich ständig erneuernden Lebens, sozusagen nur sein Geliebter und Befruchter ist.
In den sog. primitiven Naturreligionen hat auch der Mensch noch ein waches Bewußtsein von dieser privilegierten, überlegenen Stellung des ungezähmten animalischen Lebens. Wenn dieses native Leben selbst aber schon in sich der höchste Wert des Lebens ist, und wer könnte außer dem lebensflüchtigen Zivilisten daran zweifeln, dann braucht das Tier, das mit ihm noch eins ist, selbstredend keine Religion, denn es lebt und ist per se Religion (hier verstanden als re-ligari=Verbundensein mit dem Leben/Rückverbindung mit den Ursprüngen). Es muß keine Götter verehren, so wenig, wie Ghandi einmal bemerkt hat, die Götter selbst eine Religion haben.
Die hunderttausendjährige menschliche Kultpraxis, in der Totemtiere, Kraftübertragung durch heilige Tiere (insbesondere den bevorzugten Jagdtieren), Opferriten zur Wiedervereinigung mit der numinosen Natur und zur Regeneration des Lebens im Mittelpunkt standen, bezeugt anschaulich die besondere Wertschätzung dieses animalischen Lebens seitens jener Menschen, die sich ihrer Mängel und Verschlagenheiten noch allzu bewußt waren, denen nichts bedrohlicher erschienen sein dürfte, als daß sie aus diesem Einverständnis mit dem Leben je gänzlich herausfallen könnten. Im Gegenteil bestanden die hunderttausendjährigen Kulte des Menschen in der rituellen Versöhung mit dem animalischen Leben und Mutter Erde. Was wir oft vergessen: Unsere Ahnen lebten über mindestens hunderttausend Jahre hinweg derart verständigt in und mit der Natur - dagegen wirkt die gerade mal zwei- oder dreitausendjährige abendländische Zivilisationsgeschichte als ein kurzer Atemzug.
Mehr noch, nichts spricht wirklich dagegen, daß diese hunderttausendjährige Erfahrung - wie verschüttet auch immer - in den tiefsten Schichten und Sedimenten mächtig fortlebt, gleichgültig ob man dies nun mit C.G. Jung das "kollektiv Unbewußte" oder die natürliche Seele oder die animalischen Instinkte in uns nennt, die immer noch dann die Entscheidungen treffen, wenn die Vernunft versagt, die zivilisatorische Erziehung uns im Stich läßt - kurz, die immer dann von entscheidender Bedeutung sind, wenn es wirklich um Bedeutendes oder gar um Leben und Tod geht. Im Zentrum dieser hunderttausendjährigen menschlichen Regenerationsriten standen deshalb naturgemäß - ineins mit den Kommunions- und Versöhnungsriten mit dem animalischen Dasein - die fraglosen Wirklichkeiten und unverzichtbaren essentials des Lebens selbst: der fruchtbare weibliche Schoß als das heilige Tor zu Geburt und Tod (aus ihm kommt alles und in ihn kehrt auch alles zurück), die belebende und Leben zeugende Kraft des männlichen Phallus, dessen Samen die Erde befruchtet und alles wachsen läßt, und selbstverständlich der Akt ihrer Vereinigung im hieros gamos als der eigentlichen Quelle unmittelbarer und beständiger Lebenserneuerung. Unsere Ahnen verehrten in alldem nichts Abstraktes, Gedankliches, Jenseitiges, sondern jene irdisch-lebendige Fülle, als deren integraler Teil sie sich selbst noch begriffen, jene Natur, die rätselhafte Zaubermacht hat und die, wie Hölderlin dichtet, größer, "heiliger und älter denn alle Götter des Orients und Okzidents ist..."