Leben sucht den Rausch, weil es weiß, daß es sterben muß. Als Urgestalt des sterbenden, aber ständig auferstehenden und befruchtenden Lebens, des Sich-Verschwendens und der entfesselten Hingabe ist Dionysos Symbol jenes Urdrangs des Lebens, alle Entfernungen von sich selbst aufzuheben, ins elementar-vitale Zentrum allen Daseins zurückzuführen, dies in die Feier des Ekstatischen zu steigern - so wie Nietzsche im Trunkenen Lied des Zarathustra singt: "Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will tiefe, tiefe Ewigkeit..."
Dionysos, dieser sehr früh im griechischen Raum eingeführte, vermutlich aus Kleinasien eingewanderte, jedenfalls schon in minoischer Zeit weithin kultisch verehrte und schließlich in den Olymp "kooptierte" Gott des Weines, des Tanzes und der Tragödie, dieser die nativen animistischen Wurzeln nie verleugnende wilde Schamanengott entgrenzender Ekstase, pandämonischer Todesnähe, dieser Hirte des Mysteriums des Lebens, des Sterbens und Wiederauferstehens und des Urritus animalischer Lebensregeneration, dessen Anblick die Frauen in nymphische Naturwesen zurückverwandelt und sie die im Innersten verborgene Lebens- und Tierherrin wiederfinden läßt, die sich von mächtig erregten, kopulations- und zeugungslüsternen Bockgöttern umringt sehen - dieser Dionysos ist gewiß kein gewöhnlicher "Liebesgott".
Entgegen den später oft komödiantisch parodierten und schließlich verballhornten "bacchantischen" Momenten des Kultes, ist er vielleicht der elementarste und rätselhafteste der Götter, der Hirte und Wanderer zwischen den Welten, das geheimnisvoll mit dem Tod vermählte Leben, gleichsam das personifizierte Fort- und jähe Wiederaufleben jener eruptiven Aufstände, wie sie immer nur im Anfang sind. Dionysos verkörpert jene ebenso paradoxe wie souveräne Lebensenergie selbst, in der die Lust zu Vergehen und zu Werden in eins verschmelzen, in der, mit anderen Worten, inständiges Sein und grenzenloses Werden noch nicht als "Gegensätze" empfunden werden.
Die vitalen, durchaus den unheilbaren, weil heiligen Wahn (manía) einschließenden Dimensionen dieser Gestalt hat u.a. G. Bataille besonders hervorgehoben, der Dionysos als Acéphalus-Gestalt, als die ek-statische "Kopflosigkeit" charakterisiert. Doch Dionysos ist nicht allein der Gott jenes Lebensmysteriums, in dem Tod und Leben, höchste Hingabe und höchste Macht eins werden, er ist nicht nur entfesselnder, sondern zugleich die befruchtende, in neues Leben überführende Gottheit. Er ist als der "leidende Freudebringer", als der zyklisch sterbende und auferstehende Gott der intime Hirte der ekstatischen Ursprungshochzeiten, die Bataille im Auge hat, aber zugleich auch der Begleiter jenes übergänglichen Untergangs, den jeder Sterbliche einmal selbst bewältigen muß.
Dionysos ist in seinem Charakter zweifellos das Gegenteil einer "einfältigen Einheit", er ist in denkbar höchstem Maße paradox aufgespannte, exzessiv lebendige, bipolare Einheit in sich selbst: größte Sanftmut und zerstörerische Leidenschaft, würdige Gelassenheit und panische Entrückung - Dionysos ist gleichsam die immersiv intensivierte Einheit des denkbar Widersprüchlichsten - und hat vielleicht gerade deshalb für alles Lebendige Platz. Es gibt das monadische Alleinheitsgefühl und das in sich Widersprüchlich-Zerrissene - Dionysos scheint von beiden Polen gleich weit entfernt. Er ist die beides auf die Spitze treibende und zugleich die beides, in dieser Klimax, in Lebenserneuerung auflösende und kosmisch versöhnende Energie selbst:
"Verschmelzen können die Individuen erst in einem Dritten, das die Kraft hat, ihre Eigenheit zu verzehren, ihrer Verfügungsgewalt aber entzogen ist." In der dionysischen Ekstasis, bemerkt G.Bergfleth, "entkörpern sich die Körper, indem sie die dionysische Lust des Außersichseins" selbst verkörpern, dieser höhere Geist aber heiße: "Sterben und Wiedergeburt - Zurücktauchen in die Nacht des Nichtseins und Wiederkehr zu neuem, verjüngtem Leben..."
Als Gott dieser ekstasis, dieser selig gesteigerten Existenzfülle und des erfahrenen Werdens durch alles Vergehen hindurch, aus dessen Kult schließlich das tiefe Wissen um die existentiellen Weiten und Abgründe des Daseins in der griechischen Tragödie erwuchs, nennt W. F. Otto Dionysos auch den Gott des "tragischen Widerspruchs". Diese einerseits zarte, alles Kreatürliche wärmend umfangende Gestalt - wie sie offenbar besonders von den Frauen verehrt wurde, vor allem, wie der an verschiedenen Orten bezeugte gemeinsame Kult mit Demeter nahelegt, der erdnahen, im Gebärakt gereiften Frauen (auch noch beim späten Euripides besteht sein Gefolge aus starken Ammen, deren Brüste die Menschenknaben ebenso wie die Rehkitze und Wildtiere nähren) - ist nämlich zugleich der leidende, sterbende, der sich opfernde und gerade deshalb stets wiederauflebende Gott.
Dionysos ist für Otto die Urgestalt des Abwesend-Anwesenden, das heißt, die gespürte Gegenwärtigkeit der rätselhaften, unerschöpflichen Ursprungsfülle des tragischen Daseins selbst. Er ist der einzige in jenen, historisch betrachtet vergleichsweise jungen, griechischen Olymp aufgenommene "fremde" und archaisch-"barbarische" Gott, der vielleicht auch deshalb zuweilen in der, für griechische Verhältnisse, seltenen Sonderform eines Maskengottes verehrt wurde. Das Wesen der Maske ist eine Entpartikularisierung, ein Rückgängigmachen der begrenzenden Individuiertheit, Aufgehen in Gesicht und kairos. Die Maske ist Symbol unmittelbarer Gegenwärtigkeit des immersiv verdichteten Augenblicks: "Ihre gerade gerichteten Augen sind unentrinnbar, ihr Gesicht von unerbittlicher Starrheit. Hier ist nichts als Begegnung, der man sich nicht entziehen kann..., bannendes Gegenüber... Die Maske ist ganz Begegnung - und nur Begegnung, nichts als Gegenüber. Sie hat keine Rückseite... Sie ist Symbol und Erscheinung dessen, was da ist und zugleich nicht da ist... Sie erschüttert durch eine Nähe, die zugleich Entrücktheit ist. Die letzten Geheimnisse des Daseins und Nichtseins starren den Menschen mit ungeheuren Augen an..." Von dieser climax an Intensität und Begegnung sagt Otto, daß "alle Gegensätze plötzlich ihr Gesicht (entschleiern) und zeigen, daß sie Leben und Tod heißen. Dionysos, der sie zusammenhält, muß deshalb der göttliche Geist einer ungeheuren Realität sein..."
Ein Grundzug jeder ekstatischen Daseinserfahrung ist immer auch, eine allzu enge "Leibeshaft zu sprengen" (E. Rohde), eine entrückende Weitung der Sinne, eine Überwindung der lastenden Schwere und aller äußerlichen Gewohnheiten, der Auflösung eines immer schon reduzierten "Selbst", damit die Seele auffliegen oder in Urgründe abtauchen oder im gesteigerten Lebensfluß zerfließen, vergehen und, paradoxerweise, gerade so erst ganz und heil werden kann - bis hin zu jenem innigsten und intimsten Akt des Lebens überhaupt: der Zeugung neuen Lebens!
Diesen befreienden Aufflug nannten die Griechen auch manía oder enthousiasmós, ergriffene Hingabe, eine göttliche Besessenheit und Begeisterung - oder einfach auch: göttlicher Wahnsinn. Nietzsche bemerkt: "Mit dem Wort 'dionysisch' ist ausgedrückt: Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus..."
Gleichwohl ist zumindest der olympische Dionysos diese erotische manía, wie sie die ekstatisch Liebenden und Zeugenden kennen, nicht pur und ungebrochen. Er ist, wie die mit seinem Namen verbundenen Kulte nahelegen, zugleich der Platzhalter des Rätsels des menschlichen Daseins überhaupt, seiner tragischen Zwiespältigkeit und Unfaßbarkeit - getreu dem Vers des Sophokles: "Unfaßbar ist vieles, doch nichts rätselhafter als der Mensch..."
Daraus erst erwuchs der unverwechselbare Geist der Tragödien eines Aischylos oder Sophokles, erwuchs wohl auch jener, oft bestaunte oder irritierende, gemeinsame Apoll-Dionysos-Kult in Delphi. Dionysos wurde also deshalb zum Inbegriff des göttlichen erotischen Wahnsinns und der paradoxen menschlichen Existenz, weil er es ist, der selbst noch diese letzten Gegensätze zusammenbindet und miteinander verjocht, ja vielleicht aus dieser tiefer erfahrenen Einheit von Leben und Tod heraus allererst alles intensiver und lebendiger erscheinen läßt:
"Wer Lebendiges zeugt, muß in Urtiefen untertauchen, wo die Gewalten des Lebens wohnen. Und wenn er emportaucht, ist ein Glanz von Wahnsinn in seinen Augen, denn dort drunten wohnt der Tod mit dem Leben zusammen... Aus der durch den Tod abgründig gewordenen Lebenstiefe kommt alle Trunkenheit herauf. Ihr entsteigt die Musik, das Dionysische, und verwandelt die Welt, in der das Leben eine Gewohnheit und Sicherung geworden war, und der Tod ein drohendes Übel... Darum riß sein Sturm das Menschliche aus aller Gewohnheit und bürgerlichen Gesittung heraus in das Leben, wo es, vom Tode umrauscht, am lebendigsten glüht, wo es liebt, zeugt, gebiert und Frühling feiert..." So auch Heraklits Fragment: "Dionysos und Hades sind eins..."
So wie Dionysos, der "Waldwohner, Gigantenvertilger und Hirte", wie es in einem späten hellenistischen Hymnus aus dem fünften Jahrhundert heißt, selbst die wildesten Raubtiere in wärmendem Einverständnis umfängt, so vermag er offenbar auch die tiefsten Sehnsüchte und auf orgiastische Entladung drängenden Lebensenergien seines Gefolges rückhaltlos zu entfesseln - und doch zugleich zu binden. Er vermag offenbar noch der scheinbar maßlosen ekstasis ein geheimes Maß zu verleihen, selbst dem Untergang den Übergang zu weisen. Dionysos ist jener Gott, der alle Werdekräfte der Natur, einschließlich der "dunklen", die Ordnung potentiell auflösenden Seiten des Menschen, zu ihrem Recht kommen läßt, der dem ekstatischen, befruchtenden und Lebendiges zeugenden Leben zum Durchbruch verhilft, der als Hirte jenes lebendige und sich erneuernde Leben noch durch alle Untergänge hindurch hütet.