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7. Diotima
Die von Sokrates referierte Diotima-Rede eröffnet mit der Antithese zu Pausanias, daß nicht das Geliebte/Liebenswürdige, sondern das Liebende/Begehrende in Wahrheit "bedürftig" sei. Da Eros offenkundig im Begehrenden in aller Regel mächtiger am Werk sei als im Begehrten, sei Eros notwendigerweise "bedürftig" und er könne deshalb "keine Gottheit" sein. Er sei vielmehr "zwischen Weisheit und Torheit" und "zwischen Sterblichem und Unsterblichem" bzw. Menschlichem und Göttlichem angesiedelt. Er ist also nicht nur im Sinn des Empedokles wesenhaft zwiegesichtiger, sanfter und raubender, zeugender und alles Gewohnte zerstörender und hinwegfegender "Liebesstreit", sondern für Diotima überhaupt "nur" ein daimonion und Mittlerwesen.
Da Eros an sich, so jedenfalls Diotima, offenbar selbst des Guten-und-Schönen ermangele und eben deshalb so begierig nach ihm sei, könne nicht er selbst, sondern - darauf läuft im weiteren alles hinaus - das von ihm "Begehrte" und "Geliebte" als das "Liebenswürdige" allein das wirklich Schöne und Göttliche sein. Und dieses Göttliche ist in Diotimas weiblichem Empfinden ausschließlich eine Gottheit - Aphrodite. Nicht Eros, sondern Aphrodite als die schöne Göttin einer "sich selbst genügenden" Liebes- und Lebenslust, die alles Begehren immer schon auf sich zieht, ist für Diotima das nicht übertreffbare "Schöne selbst". Diotimas höchste Gottheit oder arché ist mit anderen Worten weder männlich noch geistig, noch übergeschlechtlich, sondern das als an sich weiblich empfundene schöne Leben selbst.
Allerdings ist dieses weiblich empfundene Leben als Arché und Sein wesenhaft ein wesentlich werdehaftes und lebendiges Leben - und dazu bedarf es dann auch wieder, wie noch näher zu sehen ist, des wild begehrenden "männlichen Eros"! Es "verkündet und überbringt" dieser "männliche" Eros für Diotima als großer Mittler "Göttern, was von Menschen, und Menschen, was von Göttern kommt" (202e). Und dieser Eros erscheint als das "zwischen Sterblichem und Unsterblichem" allererst eine Verbindung herstellende, ja darüberhinaus allererst "ein Ganzes" konstituierendes Wesen:
"In der Mitte zwischen beiden (Menschen und Göttern) ist es also die Ergänzung, daß nun das Ganze in sich selbst verbunden ist" (202e). Diese Kennzeichnung deutet auf nichts geringes: Diotima spricht dem (bei ihr immer schon als "männlich" apostrophierten) Eros die Rolle eines Allvermittlers und großen "Verkupplers", kurz: die Rolle einer axis mundi zu, also jene allererst Leben antreibende, befruchtende, bewegende und beständig in Gang haltende Kraft, die in weniger philosophisch verfeinerten, naturnah-energetischen Kulten wie dem Dionysoskult oder erst recht in den uralten Fruchtbarkeitskulten seit jeher dem aufgerichteten Phallus, dem vereinigungsgierigen und befruchtenden männlichen Bock- oder Stiergott zukommt.
Auch wenn Diotimas sublime Rede diese archaischen Fruchtbarkeitskulte nicht explizit erörtert, so erklären doch sie allein letztlich ihre strikte und vehemente Ablehnung eines anfänglichen übergeschlechtlichen Eros, wie ihn die Symposionteilnehmer bisher umkreisten. In Diotimas Empfinden erscheint Eros nicht als jenes selbst übergeschlechtliche Urprinzip, als arché, die in allem - und selbstredend auch in und durch beide Geschlechter hindurch - wirkt, und das geschlechtlich Geteilte immer wieder und unstillbar zur Vereinigung drängt. Vielmehr gilt ihr Eros als ein entschieden männlicher und zugleich ihrer Arché-Gottheit "Aphrodite-Geia" nachgeborener Halbgott.
Sie kann sich Eros sozusagen nur als einen integralen Teil ihrer selbst, als jenen aus sich selbst gezeugten "Sohn" der Großen Erd- und Gebärmutter vorstellen, der sie dann seinerseits als Liebhaber immer wieder befruchtet. Die insgeheimen Nähen dieses aphroditischen Selbstverständnisses der Diotima zu dem alten Isis- oder Kybele-Kult sind offensichtlich - auch in ihnen ist der Anfang des Lebens schlechthin nicht anders vorstellbar, als daß zuerst die große Erd- und Gebärmutter da war, die dann in einem Geburtsakt aus sich heraus das seinerseits erotisch begehrenden Leben gebiert, es wieder in ihren Schoß zurücknimmt und - im Akt der Vereinigung und Befruchtung mit ihrem phallischen "Sohn" - doch beständig erneuert und regeneriert.
Während also diesem "matriarchalen" Selbstverständnis gemäß der phallische Bocksgott im dionysischen Mysteriums beständig stirbt und doch wieder neu aufersteht, ist die weibliche Gebärmutter als die Geburtshöhle des Lebens selbst gleichsam "fließende Ewigkeit", in sich ganz und unsterblich. In diesem heiligen Zyklus eines mithin als wesenhaft weiblich verstandenen Lebens nimmt der "männliche Eros" offenbar zwangsläufig und primär die Rolle eines ebenso "himmlischen" wie "unterirdischen" Bockgottes und großen Befruchters ein, der ständig, wild und ungestüm die Vereinigung mit der Großen Gebärmutter sucht und begehrt - und eben so das Werden und das Leben als ein lebendiges in Gang hält. Eros ist mithin in Diotimas Verständnis "ein Kind" des weiblich verstandenen Lebens als Gebärmutter, er dient ihr, indem er sie begehrt, ihre Schönheit schaut, sie befruchtet.
Es fällt, rein "theoretisch", leicht, gegen dieses "einseitige" und gänzlich "vereinnahmende" weibliche Seins- und Lebensverständnis Einwände vorzubringen: Wer etwa war, so könnte man fragen, jener große Unbekannte und erste Befruchter, als die aus dem Chaos hervorgegangene Geia und große Gebärmutter selbst noch jungfräulich, der befruchtende "phallische Sohn" noch gar nicht geboren war? Wer auch könnte ernsthaft für sich selbst Unsterblichkeit und uneingeschränkte Seinsfülle in Anspruch nehmen, wenn, wie Lichtenberg einmal bemerkt, nicht einmal die Fixsterne wirklich fix und ewig sind? Ist also diese weibliche Allgöttin der Diotima als selbst ungewordene und unsterbliche Gaia-Aphrodite und arché nicht ebenso aporetisch wie etwa jener biblische Schöpfergott, der als männlich gedachter "Handwerker" zuerst den Mann und aus dessen Rippen dann die Frau geschaffen hat?
Eines allerdings ist dieser "urweiblichen" Kosmologie nicht völlig abzusprechen - sie ist vermutlich so alt (und gleichzeitig so ewig jung) wie das menschliche Leben selbst. Das unterscheidet sie auch von den vergleichsweise jungen biblischen Geschichten, in denen Handwerkergötter den Ton angeben, aber die Große Gebärmutter Leben selbst keine Rolle, jedenfalls keine zentrale heilige Rolle mehr zu spielen scheint. Wer unvoreingenommen auf die menschliche Kultpraxis und die geschichtlichen Zeugnisse ihrer zentralen Regenerationsriten blickt, staunt immer wieder, wie sich vor unseren Augen über mindestens hunderttausend Jahren hinweg ein imposantes und sehr einheitliches Pandämonium eines ursprünglichen "Tanzes um den Lebensbaum" öffnet:
Da wimmelt es an Felswänden von heiligen Hochzeiten, Vereinigungen, eregierten Phalloi, von geöffneten und von gebärenden Frauenschößen. Die unverkennbar zentrale und heilige Stellung dieser Leben erneuernden Vereinigung über Jahrhunderttausende hinweg bedarf offensichtlich keiner weiteren "Legitimation" - hier belehrt uns sozusagen das Leben selbst darüber, was ihm als unverzichtbar, wahr und heilend gilt.
Allerdings geben diese Zeugnisse und Riten keinerlei eindeutigen Hinweis auf eine dezidiert weibliche arché wie sie offenbar Diotima vorschwebt. Insofern mag man in Hesiods Theogonie und in jener griechischen Gestaltklarheit eine Sternstunde erblicken, wenn ein selbst übergeschlechtlich verstandener Eros als universale arché geschaut wird. Es ist dies vielleicht die in verschiedener Hinsicht am wenigsten mißverständliche "Ursprungsgeschichte". Ihre schlichte Genialität besteht darin, daß sie genau das in einem entscheidenden Punkt zusammenhält, was sich dem Menschen so leicht in Gegensätze verwandelt: Mann oder Frau, Immanenz oder Transzendenz, Körper oder Geist, Leben oder Philosophie, Leben oder Tod etc. Das ursprünglich griechische Eros-Verständnis erlaubt die durchaus fruchtbare Verjochung dieser Gegensätze ohne diese zugleich zu leugnen; Eros selbst macht sozusagen aus dem heillosen "oder" ein verbindendes "und".
Daß nun bei Diotima selbstredend auch das "Schöne" (kalón) eine eigene Färbung und Gewichtung erhält, kann kaum verwundern. Bei Sokrates steht das Schöne als kalón-kai-agathon, wie schon sein Kommentar zu Agathons "schöner", aber deshalb noch nicht "wahrer" Rede zeigt, stets in untrennbarem Bezug zum Wahren/Unvergeßlichen (alétheia) und zum Guten (agathón). Dagegen ist dieses Schöne bei Diotima weniger philosophisch oder moralisch, sondern gleichsam lebensimmanent bzw. lebenskultisch konnotiert. Diotima spart deshalb im weiteren Verlauf der Rede nicht mit Nadelstichen und provoziererenden Urteilen hinsichtlich des Stellenwerts des von ihr als "männlich" apostrophierten Eros, wie auch hinsichtlich der Philosophie des Sokrates, so als gelte es zu zeigen, wer hier am Ende wen auf dem Feld des Erotischen "belehren" wird...
Diotima will, so scheint es, den sokratisch-philosophischen Eros in ein geweitetes, noch wesentlicheres und ursprünglicheres Erotisches zurückführen. Verstünde man ihre Rede allzu vorschnell als (nur) "platonisch", würde man sie ihres eigentlichen und eigenständigen Anliegens berauben. Diotima ist schließlich keine Sokrates-Schülerin, die ihren Meister beeindrucken will, sondern sozusagen die Anwältin und Priesterin eines (zumindest im Selbstverständnis) lebendigeren, erotischeren Lebens, deren Winke wohlmöglich sogar allzu kluge und eloquente Sokratesjünger erreichen könnte. Ein "sokratisches Philosophieren" im engen Sinn kann und will das keineswegs sein, das wäre ein Mißverständnis. Eine ganz andere Frage aber ist, ob die erotische mania des Sokrates und die aphroditische mania der Diotima am Ende gleichwohl tiefere Gemeinsamkeiten erkennen lassen.
Diotima widerspricht also nicht nur entschieden der bisher nicht hinterfragten Auffassung der versammelten Symposionteilnehmer, Eros sei arché, sie ist es auch, die sogar "die Eltern" des Eros nennt: Eros, so Diotima, sei das Kind von "Reichtum" (poros) und "Armut" (penia), gezeugt am Tag der Geburt der Aphrodite, weshalb er auch "Aphroditens Begleiter und Diener" geworden sei. Zweifellos erscheint diese genealogische Ableitung aus so vagen Abstrakta wie "Armut" und "Reichtum" etwas dürftig. Überheblich könnte auch die grenzenlose Ausdehnung des Zaubers der inzwischen doch sehr anthropomorphen griechischen Aphrodite in jene angestammten Bereiche des kosmisch und universal wirkenden Eros, also auf die Tier- und Pflanzenwelt, die Wetter und Elemente überhaupt, erscheinen.
Freilich sollte man dabei vergegenwärtigen, daß Diotima offenbar all das vorausliegende mana jener großen Anfangs-, Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttinnen immer schon ineins mit dem Aphroditischen sieht. Tatsächlich sind - ganz ähnlich wie im Fall des Kleinasien-Imports Dionysos - die langen und vielfältigen mythischen Gestalt-Vorprägungen Aphrodites im kleinasiatischen Kulturraum gar nicht zu leugnen. Als deren unmittelbare Ahnherrinnen wären etwa die babylonische All- und Sternengöttin Astarte, jene mächtige ägyptische All- und Fruchtbarkeitsgöttin Isis oder auch die phrygische Muttergottheit Kybele zu nennen.