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Die High-Tech-Welt, so heißt es, erfordere ein besonderes Maß an "Kommunikationsfähigkeit". Ist dieser Begriff aber hier nicht gründlich von den letzten Resten seiner ursprünglichen Bedeutung gereinigt, selbst schon technisch "umprogrammiert"? Wer kennt nicht das befremdliche Gefühl mit einem Anrufbeantworter oder gar einer computergesteuerten Hotline "zu kommunizieren"? Was also hat die Verhinderung und tendenzielle Zerstörung des Gesprächs und erst recht einer communio als Verstehen, was der Übergriff eines entfesselten babylonischen Technojahrmarkts, der, das ist die Pointe, von seinen Opfern, die sich für Privilegierte und Befreite halten, auf Schritt und Tritt Gebühren verlangt, mit Kommunikation zu tun? Betrachten wir nur einmal die gewöhnlichen Nutzungsformen am Beispiel eines Home-PC – wobei rein berufliche Nutzanwendungen wie "Textverarbeitung", die Datenverwaltung des Versicherungsvertreters oder die "Music-Machines" der Nachwuchsmusiker außer acht bleiben –, so lassen sich, ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, eher ernüchternde "User-Profile" erkennen.

Da gibt es den Ahnungslosen, er hat sich, nach langem Zögern, einen Computer zugelegt, weil jeder einen besitzt und die Werbung ihn überzeugt hat, daß die Bedienung ein Kinderspiel sei. Ein Kinderspiel vielleicht, aber was nützt das jenen, die bisher vergeblich versuchten, einen Videorecorder, Anrufbeantworter oder auch die volldigitale Waschmaschine "zu programmieren". Da ist der Verspielte, für den der PC eine Art Wohnzimmer-Spielhölle ist. Von den zahllosen Simulationen über die verschiedensten Racing-, Baller- und bizarren Adventure-Spiele bis hin zu ausgefallenen Spezialprogrammen (wie z.B. eine Simulation des Angelns oder auch einer alten mechanischen Schreibmaschine) ist alles vorhanden und jederzeit abrufbar. Ein weiterer Typus, der Voyeur, bedarf keiner Erläuterung, denn das Internet schwillt über vor Pornographie und Kuppelanzeigen jeglicher Geschmacksrichtung, die der besessene Archivar rastlos auf eigene CDs brennt. Da gibt es als weitere Gruppe die Schnäppchenjäger, stets auf der Suche nach preiswerter, also möglichst kostenloser Software, mit der die Maschine gefüttert sein will. Stunden verbringt man damit, überflüssige oder redundante Programme auf dem Rechner zu installieren, ganze Tage aber damit, deren "Nebenwirkungen" einigermaßen auszubügeln – und die Selbstreferentialität der schönen neuen Medien ist enorm. Der Zapper bzw. die Chaterin im Internet, also die mit der Telefongesellschaft direkt vernetzten User, sind eine Gattung für sich. Was die Nur-Neugierigen, die Gewohnheitssurfer oder auch die passionierten Chatforen-Besucher jedoch eint, ist vor allem die Gleichgültigkeit gegenüber dem Computer als solchen.

Natürlich ist diese Liste ganz unvollständig. Was jedoch zu beobachten ist, ist – einerseits – ein Nebeneinander von neuen Technologien und ganz gewohnten, althergebrachten, teilweise ausgesprochen anachronistischen Umgangsweisen mit diesen Technologien. Man verhält sich gegenüber seinem Homecomputer vielfach nicht anders wie gegenüber seinem Auto, so daß wir hier wie da die ganze Palette möglicher Umgangsformen vom Tuner oder Dekorateur über den Technikfreak bis zum Raser finden. Grundsätzlich gilt das auch für die Handynutzung. Manche haben es nur, um alle paar Wochen neue Verkleidungen oder Zierblenden für dieses Gerät zu erwerben, anderen ist es ein Blendmittel an sich, wieder anderen dient es der unendlichen Fortsetzung des "Chatens", dem Überspielen von Langeweile oder Mußeanfällen – oder eben auch der Fernsteuerung des Homecomputers. Grundsätzlich wird die digitale Unterhaltungselektronik immer kombinier- und mitunter auch austauschbarer, so daß in modernen "ferngesteuerten" Autos zunehmend Computer und Navigationssysteme ihren Dienst tun, man aber am Computer auch das Autofahren simulieren oder aber mit dem Handy vom Auto aus den häuslichen Anrufbeantworter bzw. die Autosimulation fernsteuern kann. Verständlich, daß es dabei häufiger zu den angedeuteten bizarren Überlagerungen der Nutzungsformen kommt, die man gerne euphemistisch als "zusammenwachsende Technologien" ettiketiert.

Das ist im übrigen kein neues Phänomen, denn auch die ersten Automobile waren den Postkutschen nachempfunden, der Soldat behandelt sein Gewehr wie eine Braut, der Disco-DJ seinen Plattenteller wie ein Instrument. Das "Netz" wird einerseits engmaschiger, doch zwangsläufig wächst, aufs Ganze gesehen, auch Dysfunktionalität. Wie jedem technologischen Zeitgewinn stehenden Fußes ein neuer, größerer Zeitverlust folgt, so fördert jeder scheinbare Funktionalitätsgewinn im Kleinen – er will ja seinerseits gesteuert, gepflegt und verwaltet sein – die Fragwürdigkeit im Großen und Ganzen. Der Konsument meint Produkte in seinen Dienst zu stellen, in Wahrheit stellen diese ihn in ihren Dienst, machen ihn zum Kalfaktor einer grotesken, ferngesteuerten und "strangen" Welt, in der auch – und gerade – das Gespräch und die Kommunikation plötzlich eine bloße Ware und mautpflichtig wird.

Können denn Geräte, die Tag und Nacht wie ein Tamagotchi gewartet und "versorgt" sein wollen, die zum unpassenden Zeitpunkt piepsen, vibrieren, ihren Dienst versagen und immer – und immer mehr – Lebenszeit rauben, nüchtern betrachtet etwas anderes sein als eine Belästigung? Welche Nöte müssen erwachsen sein, daß das Nötigende wie eine Befreiung scheint? Die Zumutung getarnt als Anmut, das Abzocken getarnt als Service, die Eroberung getarnt als Dienst –neu ist das alles weniger im Prinzip, sondern in seiner hypertrophen, flächendeckenden Massierung: Das "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber) scheint sich immer fester zu schließen. Sollen und können diese "Dienste" der schönen, neuen Onlinegesellschaft je anderes sein als ein gigantisches Groschengrab wie die 0190-Servicenummern oder jener - auf ganze gesehen - globale Erfahrungs-Shredder namens WorldWideWeb? Mag die "Kommunikation im Netz" auch in einer Hinsicht räumliche Ungleichzeitigkeiten überwinden, gewiß bewirkt sie eine gesteigerte Ferne, ja Abwesenheit von Welt und eine Verstellung von unmittelbarer Welterfahrung. Nicht ohne Grund bedürfen die neuesten Erfindungen des Technokults der Aura des Sakralen. Ob in weltweiten Initiationsfeiern Microsofts neueste Produktpalette als Ereignisse wie Weihnachten und Ostern zusammen zelebriert oder hierzulande die Preissenkungen der Telekom als achtes Weltwunder inszeniert werden (und sich doch jeder fragt, warum man jahrzehntelang Wucherpreise entrichten mußte) – dagegen verblaßt jeder kleinere oder größere Krieg um Rohstoffe zur Marginalie. Was vermag der Schein einer Kerzenflamme noch gegen das glitzernde Handy unterm Weihnachtsbaum? Was sind die Bibel oder Homer gegen Windows 2000 oder den neuesten Megahertz-Chip?

In diesem Paradigmenwechsel und Kulturbruch bündelt sich die Fragwürdigkeit des homo sapiens, seine "flüchtige" Natur, der Pyrrhussieg des Technoiden über die condition humaine. Die Simulation "ewiger Präsenz" ist vielleicht seit jeher ein religiöses Grundbedürfnis des Menschen, ihre wohlfeile Käuflichkeit jedoch ist Blasphemie und Betrug, der Glaube an ihre "Machbarkeit" aber ein hybrider und letztlich totalitärer Aberglaube. Dort, wo das Bewußtsein von Ferne und Differenz schwindet, gibt es auch keine wirkliche Nähe und keinen Sinn für Rang und Würde mehr. Wo Abwesenheit verleugnet und lautstark überrauscht wird, verliert Präsenz selbst jede Bedeutung. Jenes technoid-virtuelle Himmelreich, das uns scheinbar zum Souverän über Zeit und Raum macht, verstellt uns nichts geringeres als das Leben, die Wahrheit unseres Daseins.

Mit dem virtuellen Verschwinden von Zeit und Vergänglichkeit schwinden diese selbst zwar noch keineswegs, wohl aber der Sinn für die Würde des mühsamen Erinnerns, der Ahnen – und schließlich des Prinzip des Lebendigen und Unverfügbaren überhaupt. Es verflüchtigt sich inmitten einer virtuellen "Kommunikation mit jedem und keinem" gründlicher der kairos als Einbruch der ekstatischen in die erstarrte, alltägliche Zeit. Was als Überwindung und "Beherrschung" von Zeit und Raum angepriesen wird, entpuppt sich immer deutlicher als ein planmäßig organisierter Zeitraub, eine zunehmend vollständige Enteignung von ureigener Lebenszeit und Freiheit. Was Paranoiker uns als Befreiung verkaufen wollen, hinterläßt bei vielen Menschen zunehmend das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben beziehungsweise die Zeit mit Falschem zu vertun. Vieles deutet allerdings darauf hin, daß ein "überhandnehmendes Maschinenwesen", das Goethe schon vermerkte, und eine Existenz "im Gestell", die in unserem Jahrhundert Heidegger so nachhaltig erhellte, solcher "Wundermittel" inzwischen "physisch" bedarf, um, einem substituierten Süchtigen vergleichbar, den schwindenden Lebens- und Freiheitsinstinkt wenn schon nicht mehr zu heilen, so dich wenigstens immer gründlicher zu betäuben. Wenn jener unstillbare Schmerz in uns schon nicht zu stillen ist, gilt es ihn zumindest vergessen zu machen: Ich kaufe, also bin ich! Andenke nicht, telefoniere! Sorge nicht, surfe! Suche nicht, greif zum Handy!

In Aldous Huxleys Brave New World steht der letzte Wilde und Freiheitsbewußte verzweifelt "Eurer Fordschaft", dem Weltaufsichtsrat persönlich, gegenüber, der ihn belehrt: "...Die Menschen sind glücklich, sie kriegen, was sie begehren, und begehren nichts, was sie nicht kriegen können. Es geht ihnen gut (...) sie sind nicht mehr mit Müttern und Vätern behaftet, haben weder Weib noch Kind...". Doch räumt er ein: "Wirkliches Glück sieht immer recht jämmerlich aus, verglichen mit den Überkompensationen von Unglück (...) Zufriedenheit hat nichts vom Ruhmesglanz eines tapferen Kampfes gegen Ungemach (...) Glück ist niemals erhaben..." In jener bereits 1931 von Huxley mit erstaunlich visionärer Kraft beschriebenen furchtbaren Wohlstandsgesellschaft dünkt sich jeder deshalb "glücklich", weil alles Fragwürdige, Tragische, Lebendige – Religion und Kunst, Natur und Familie, Liebe und Erinnern – im Interesse der Wahrung eines künstlichen "Augenblick-Glücks" strikt verbannt ist. Es gelten nur noch zwei Maximen: "Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit" und: "Jeder ist seines nächsten Eigentum" – die vollendete Demokratie also. Mann und Frau sind restlos gleich, denn das unkalkulierbare Zeugen und Lebendgebären ist zugunsten einer sorgfältig geplanten Retortenlogistik abgeschafft. In dieser Welt der genetischen Diktatur und standardmäßigen In-vitro-Zeugung, die weder Kindheit noch Alter, weder das Unberechenbare noch das Unverfügbare kennt, ist sich der Mensch selber gänzlich fraglos, sozusagen selbst virtuell geworden, in einer hoffnungslos stabilen, stillstehenden, eingefrorenen Gegenwart ohne Herkunft und Zukunft gefangen. Huxley geht es, wie Nietzsche, um die Erinnerung an unsere dionysischen Quellen, um deren Verteidigung gegen die An- und Übergriffe eines technokratischen Gestells: Das Prinzip des Lebendigen gilt es gegen alle Versuche seiner Verfügbarmachung ins Recht zu setzen.

Aber "reden und sogar schreiben, wenn man nichts zu sagen hat?" wendet der letzte Wilde ein. – "Aber gerade dazu gehört die allergrößte Begabung!" entgegnet der WAR, um im selben Atemzug das Erfolgsrezept der schönen neuen Welt zu skizzieren: "Siebeneinhalb Stunden leichter, nicht ermüdender Arbeit, dann die Soma-Ration [eine Droge, die "die Vorzüge von Christentum und Alkohol ohne deren Nebenwirkunken" hervorruft], Sport und unbeschränkte Paarung und Fühlkinos. Was können Sie mehr verlangen? Natürlich könnten sie kürzere Arbeitszeiten fordern, und wir könnten die ohne weiteres bewilligen. Technisch wäre es ganz einfach, die Arbeitszeit der unteren Kasten auf drei oder vier Stunden am Tag herabzusetzen. Aber wären sie dann glücklicher? Nein! (...) Es wäre einfach grausam, ihnen allzuviel Muße aufzubürden..." – Muße und Besinnung als Last. Eine tragischere Quintessenz der Flucht aus Natur und Kosmos ins selbstgemachte "Gehäuse der Hörigkeit" ist kaum denkbar. Wenn dem so ist, dann war die Abschaffung der Sklaverei nicht nur eine Lüge, sondern auch Frevel. Wenn es aber so ist, daß die Muße zur größten Last – und mithin zur letzten subversiven und erneuernden Kraft – geworden ist, dann dürfen die unmüßig Geschäftigen und die "befreiten Sklaven" nicht eher ruhen, bis auch noch das letzte Wilde, Lebendige, Freie "befriedet" worden ist. Zweifellos ist auch die Telekommunikation in der schönen, ferngesteuerten Online-Welt ein zentrales Instrument dieser Befriedung von Muße und Besinnung.

Die technoiden "Netze" scheinen, wie Heiner Müller gelegentlich anmerkt, wie die "Kamelhäute" über unseren Köpfen, eine Metapher, die sich auf den Roman Ein Tag länger als ein Leben von Tschingis Aitmatov bezieht, in dem eine archaische Form der Gehirnwäsche und Versklavung beschrieben wird: "Dem Gefangenen, der zum Überleben verurteilt und nicht für den Sklavenexport, sondern für den Eigenbedarf der Eroberer bestimmt war, wurde der Kopf kahlgeschoren und ein Helm aus der Halshaut eines frisch geschlachteten Kamels aufgesetzt. An Armen und Beinen gefesselt, den Hals im Block, damit er den Kopf nicht bewegen konnte, und in der Steppe der Sonne ausgesetzt, die den Helm austrocknete und um seinen Kopf zusammenzog, so daß die nachwachsenden Haare in die Kopfhaut zurückwuchsen, verlor er in fünf Tagen, wenn er sie überlebte, unter Qualen sein Gedächtnis und war, nach dieser Operation, eine störfreie Arbeitskraft, ein Mankurt." – "Keine Revolution ohne Gedächtnis...", kommentiert Müller und ergänzt: "Unsre Kamelhaut der Computer, er ist ganz Gegenwart." Eine zeitleere, von Herkunft und Zukunft abgeschnittene "Gegenwart" freilich, also eine solche, in der nichts wirklich mehr auf uns wartet – keine im Licht des kairos gesteigerte Gegenwart, nur eine fatale Simulation von Gegenwart, Herkunft und Zukunft. Und doch scheint sie vielen wie eine Befreiung. Goethe notiert: "Niemand ist mehr Sklave wie der, der sich frei wähnt ohne es zu sein."

Gegenüber diesem durchschlagenden mentalen Erfolg der modernen "Netz"-Technologien erscheinen andere Folgen fast nebensächlich. Etwa die zunehmende Verstrahlung, der Funk- und Wellensmog. Nirgends ist, von der Luftfahrt einmal abgesehen, die Rede davon, die Passiv-Schäden durch diesen Wellensmog auch nur annähernd energisch anzugehen wie es etwa in den Anti-Raucher-Kampagnen an der Tagesordnung ist, so daß man den Eindruck gewinnen könnte, bei letzteren handle es sich auch nur um Werbefeldzüge und eine Art "Marktbereinigung", so als stehe der, der noch immer dem Rauchen fröhnt, für die vielen, damit konkurrierenden und gewinnbringenden modernen Ersatzsüchte nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Doch was ist – vom Standpunkt der Muße, der Freiheit und mentalen Gesundheit betrachtet – der blaue Dunst gegen die Kamelhäute des extensiven Fernseh-, Computer-, Internet- oder Handymißbrauchs und dem damit einhergehenden Verkehrs-, Medien- und Wellensmog? Können wir uns unter der "Kamelhaut" dieses allgegenwärtigen Smogs noch vergegenwärtigen oder darüber aufregen, daß die Giftmenge in einem handelsüblichen Computer oder Fernsehgerät in geschroteter oder gemahlener Form ausreicht eine Familie auszulöschen, daß eine einigermaßen "unschädliche Entsorgung" dieses Fortschrittmülls ein vielfaches seiner Herstellung erfordert?

Dieser fortschreitende und uniformierende, zunehmend ein einziges "großes Rauschen" erzeugende Smog eröffnet zudem ungeahnte Gefahren in besonders sensiblen Bereichen, wie den Steuerungszentralen von Verkehrssystemen, Atomkraftwerken oder militärischen Einrichtungen. Passionierten Hackern gelingen immer wieder beeindruckende Einbrüche in die Schaltzentralen von Banken, Pentagon oder Telekom. Was der vieltelefonierenden Öffentlichkeit unter der Rubrik "Kuriosa" verkauft wird, löst bei Eingeweihten freilich Alpträume und hektischen Aktionismus aus. So wie das Automobil, erst zum Massenphänomen geworden, neben Staus immer strengere Verkehrsvorschriften und immer mehr Verkehrspolizisten notwendig machte, so dürfte auch das globale Netz über kurz oder lang zwangsläufig groteske Überwachungsbehörden und "WARs" hervorbringen. Es gehört wohl zur unüberwindbaren Logik menschlicher Erfindungen, daß Nutzen und Mißbrauch nicht nur von Anfang an um die Wette laufen, sondern, bei Lichte besehen, untrennbar eins sind.

Schon jetzt ist die Online-Gesellschaft, auch wenn man es tapfer ignoriert, alles andere als ein "freies" oder gar "sicheres" Netz. Jeder Schritt eines beliebigen Nutzers ist praktisch transparent und leicht nachzuverfolgen, von den Kontobewegungen über die angewählten Servicedienste bis hin zu vertraulichen und verschlüsselten E-Mails, von den Autofahrten per Navigationssystem bis zu den zurückgelegten Wegen per pedes und Handy. Kein "Netz", in dem man sich nicht verfangen könnte. Der Eröffnungssatz aus Kafkas Prozeß müßte eigentlich jeden Netzteilnehmer angehen: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines morgens verhaftet." Nur, daß es dazu nicht mehr unbedingt einer Verleumdung bedarf, sondern ein dummer digitaler Zufall, ein kleiner Bug in irgendeinem der ungezählten Computerprogramme Ungeahntes auszulösen vermag, denn die digitale Technik ist, jeder weiß es, alles andere als fehlerfrei. Sie ist stattdessen präzise und unpersönlich, aber unpersönlich nicht in dem Sinn, wie die Natur es, im Gegensatz zu staatlichen Einrichtungen, ist, wenn sie Menschen nicht nach Herkunft, Rasse oder Ausweis fragt, sondern in der Art des ebenso gnadenlos Indifferenten wie gnadenlos Exakten, also seellose Technokratie sozusagen in Perfektion.

Mögen die Troubadoure der schönen neuen Welt auch als "Spielverderber" und Ignoranten schelten, wer in einem sich schließenden "Netz" keine Befreiung zu entdecken vermag, wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß mit der Vernichtung des unvermittelten Erinnerns durch Datenarchive, mit der technischen Perfektionierung unseres Vergessens und der wirksameren Betäubung unserer Schmerzen jener innerste, unbetäubbare Schmerz nur wächst. Natürlich, so räumt die "kühle Berechnung" ein, sei da vieles heiße Luft und manche Entwicklung fragwürdig, doch liege denn in der Simulation des Lebens nicht unsere letzte Zukunft? Ist die Arbeit an der immer perfekteren Illusion von Freiheit, das "Fühlkino" Huxleys also, nicht der heroische Bau am letzten Mythos der Menschheit? – Jedem Verstummten also sein Handy, jedem Blinden seine 300 TV-Sender und 500 Zeitungen täglich per Internet. Was könnte noch aufbegehren und befruchten, wo alles nur begehrt – und noch mehr begehrt sein will. Überlassen wir unseren Schmerz dem Netz, die nicht geschriebenen Liebesgedichte dem Funksmog. Die Computer werden sich an uns erinnern. Und jeder trägt fortan die Kamelhaut wie eine Krone.



© HD Jünger / Erstabdruck in SCHEIDEWEGE 1999/2000

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