Auszug: H.D. Jünger, Die Kunst der Zeit und des Erinnerns Ş Andrej Tarkovskijs Konzept des Films, Ostfildern 3995 (ohne Anmerkungsapparat)
Film als Zeitkunst
3. Zu Andrej Tarkovskijs Konzept von Film als "Bildhauerei aus Zeit"
"Nehmen wir die Musik. Sie ist doch mit
der Wirklichkeit am allerwenigsten verbunden.. Und dennoch: trotz
alledem dringt die Musik durch irgendein Wunder mitten in unsere
Seele! Was für ein Echo gibt es in uns als Antwort auf die zur
Harmonie gebrachten Töne! Welch einen Quell höchsten Genusses
bildet sie, uns miteinander verbindend, und erschüttert uns..." (Stalker in dem gleichnamigen Film zum Wissenschaftler)
Man kann sagen: So wie die Musik Töne, Klänge und Themen auf hörbarer Ebene in der Dimension der Zeit entfaltet, so werden auch in der Zeitkunst des Films audiovisuelle Elemente in der Dimension der Zeit entfaltet. Dies ist in einem ganz allgemeinen Sinn bei jedem Filmwerk als motion picture, als bewegtem Bild der Fall, so daß es nicht verwundern kann, daß die Fragen nach den Strukturverwandtschaften von Musik und Film sowie, in diesem Rahmen, nach den möglichen Eigengesetzlichkeiten des Films von Beginn an die Reflexion dieses Mediums mitprägten. Film ist als Medium der "bewegten Anschaulichkeit" zwangsläufig mit der Frage nach der Zeit konfrontiert. Während die auditiven Elemente, wie die frühen Meisterwerke des Stummfilms zeigen, ebenso wenig zwingend notwendig sind, um vom Film als Film zu sprechen, wie Anleihen bei der mise en scéne des Theaters oder des gesprochenen Wortes der Literatur, verhält es sich mit dieser bewegten Bildhaftigkeit und der Entfaltung des Films in der Dimension der Zeit anders, so daß man ohne weiteres sagen kann: Ohne sie gibt es keinen Film. Nähme man dem Film das Prinzip der Bewegung in der Zeit, stünde er sozusagen wieder "still", wäre er wieder Fotografie (aus deren Weiterentwicklung und "Dynamisierung" er technisch hervorgegangen ist).
Nun ist es so, daß dieses grundlegende zeitdynamische Materialprinzip des Films zwar Vergleiche zur strukturell verwandten Musik nahelegt - und solche sind, auf freilich unterschiedlichste Weise, auch immer wieder versucht worden -, doch besagt diese zunächst sehr formale Übereinstimmung allein noch sehr wenig. Sie gibt, wie Eisler bemerkte, keinerlei "eigengesetzliches musikalisches Verfahren her", und zwar weder ein solches in Hinblick auf Musikkompositionen für den Film (was Eisler im Auge hat), noch, was entscheidender ist, in Hinblick auf die Bildkomposition und das Filmrhythmische selbst. Denn so, wie nicht jedes Geräusch schon Musik für unsere Ohren ist, sondern manchmal nur Lärm, so kann auch längst nicht jede Bewegtheit im Film schon für sich beanspruchen, künstlerischer Rhythmus oder, um eine Vision Bachs aufzugreifen, "optische Musik" zu sein. Wie also werden aus Tönen und Geräuschen für unser Ohr überhaupt musikalische Gestalten und wie wird aus audiovisuellen Bewegungen im Film eine solche Rhythmusgestalt, der wir eine besondere künstlerische Bedeutung und Bildkraft oder zuweilen sogar eine solche Qualität zuzusprechen geneigt sind, daß sie uns zu Einsichten verhilft, die wir durch die Wahrnehmung dieser Gestalt selbst allererst gewinnen?
Die bloße Berufung auf den ohnehin schwierigen Begriff der "Zeitkunst" - der ja zunächst allenfalls einen materialbedingt herausragenden und "unausweichlichen" Umgang bestimmter Kunstgattungen (wie Musik, Film oder Tanz) mit "dem Zeitlichen" im Werk selbst benennt (während etwa die Wahrnehmung von Kunst immer und bei allen Kunstgattungen in der Dimension der Zeit erfolgt) - entbindet weder von den spezifischen Fragen, wie dieses "Zeitliche" und "Rhythmische" im Einzelfall vom Künstler je konkret aufgefaßt wird und je einzigartig im Werk erscheint, noch von der grundsätzlichen Frage, was Zeit und Rhythmus, ja was letztlich das Poetische als das Musische überhaupt ist. Die insbesondere in der Filmtheorie oft überstrapazierte "materialästhetische" Perspektive jedenfalls, die über der Suche nach letztlich technischen Besonderheiten des Mediums nicht selten den Eigenwert des Musischen aus dem Auge verliert, ist in gewisser Hinsicht selbst ein Kind der wissenschaftlich-instrumentellen und abstrakten Haltung gegenüber der Kunst, von der her sich die Frage nach dem Rhythmischen und Zeitkünstlerischen als einem Grundmerkmal des Musischen nicht entfalten läßt.
Natürlich sind die Eigengesetze des jeweiligen künstlerischen Materials (und des "Handwerkzeugs") für den Künstler von zentraler Bedeutung, doch werden sie deshalb noch nicht, wie in mancher Materialästhetik, zum Selbstzweck. Sie bleiben vielmehr Material im aristotelischen Sinne, das seine Form und Gestalt erst durch den tätigen Künstler erhält. Und so wie manche Komponisten mit Tönen virtuelle "Landschaften malen", so versteht es beispielsweise ein Maler wie Klee, mit Farben auf der Leinwand "Fugen erklingen" zu lassen, ohne daß damit dem Material, wie es ein theoretischer Purismus nahelegen könnte, seine Eigengesetzlichkeit geraubt würde. Tatsächlich kann man auch nicht bestreiten, daß selbst so vermeintlich "zeitlose Raum-Künste" wie die Bildhauerei oder die Architektur über einen ausgeprägten Rhythmus verfügen.
Mit anderen Worten: Der Rhythmus und das Musische sind primär überhaupt keine "materialästhetischen" Größen, sondern offenbar je schon "inner-seelische" Dimensionen, die die künstlerische poiesis allererst dem Material entlockt beziehungsweise diesem einprägt, so wie eine beseelte Wahrnehmung darin auch je schon eigene Gestalten wiedererkennt. Diese poiesis ereignet sich sogar in aller Regel derart, daß der Künstler in den seltensten Fällen sagen könnte, wie dies im einzelnen geschieht. Niemand würde etwa ernsthaft von Bach eine begriffliche Erklärung seiner Musik erwarten - wie erbärmlich wäre sie im Vergleich zur tönenden Welt seiner Musik selbst -, auch kann man die "innere Zeit" dieser Musik nicht wirklich messen und ihre Weite allein berechnend durchmessen; dennoch muß man sagen, daß in ihr etwas zum Erklingen und zum Schwingen kommt, in dem die Seele des Zuhörers durchaus eigenes, Wesentliches wiedererinnert. Wenn nachfolgend der Versuch unternommen wird, diese Fragen nach dem Rhythmischen und dem Musischen an Tarkowskijs Filmkunst in ihrer Fragwürdigkeit zu entfalten und dabei Begriffe, wie sie vor allem in der Musik gebräuchlich und vertraut sind, zur Beschreibung und phänomenologischen Erhellung des Rhythmischen auch im Film herangezogen werden, so ist dies mithin nicht so zu verstehen, als würden damit die künstlerischen Differenzen der jeweiligen Kunstgattungen überhaupt ignoriert oder eingeebnet.
Aber gleichwohl wird dem besonderen und zumindest in gewisser Hinsicht die einzelnen Kunstgattungen übergreifenden und mehr oder weniger stark prägenden Charakter der Musik oder, präziser ausgedrückt, des Rhythmischen oder "des Musikalischen" - das nicht von ungefähr in der frühgriechischen Kultur, auch sprachlich, noch der Inbegriff der Musen und des Musischen überhaupt ist - Rechnung getragen. Friedrich Schlegels Satz, "Jede Kunst hat musikalische Prinzipien und wird vollendet selbst Musik", trägt, einmal ungeachtet der besonderen Implikationen des romantischen Kunstprogramms, grundsätzlich nur jener besonderen Ursprünglichkeit des Musischen innerhalb der Künste Rechnung, wie sie insbesondere dem frühgriechischen Musen-Verständnis ganz selbstverständlich ist. Es ist ratsam, will man Tarkowskijs Verständnis von Film als einer "poetischen" und "der Musik verwandten" Zeit- und Erinnerungskunst näher erfahren, sich zunächst diese ursprünglichen Dimensionen des Begriffs des Musischen in Erinnerung zu rufen. Dies ist auch deshalb notwendig, weil eines der häufigsten Mißverständnisse in der Auseinandersetzung mit dieser Filmkunst darin besteht, daß man Tarkowskijs Symbol-Begriff auf geradezu sinnwidrige Weise auf die Bedeutung einer bloßen Allegorie verkürzt. Tarkowskijs Symbole sind aber das genaue Gegenteil eines bloß "stellvertretenden" oder uneigentlich-verweisenden Sprechens, sie sind vielmehr als unvermittelter Ausdruck einer poietischen Ursprungserfahrung zu verstehen: "Das Symbol ist nur dann ein wahres Symbol, wenn es in seiner Bedeutung unerschöpflich und grenzenlos ist, wenn es in seiner geheimen (hieratischen und magischen) Sprache Andeutungen und Suggestionen auf etwas Unaussprechliches, dem äußeren Wort nicht Adäquates aussagt ... Es ist eine organische Bildung, wie ein Kristall, sogar eine Art Monade. Eine Allegorie gibt eine Lehre, das Symbol nennt ... Die Allegorie ist logisch begrenzt und in sich nicht beweglich - das Symbol hat eine Seele und innere Entwicklung, es lebt und wird wiedergeboren."
In unmißverständlicher Abgrenzung zur "lehrhaften" und auch "logisch begrenzten" Allegorie ist das Symbol für den Filmdichter Tarkowskij also nicht ein bloßes "Zeichen für etwas anderes" (das man letztlich auch mit gewohnten Begriffen sagen könnte), sondern es ist ein spezifisch musisch-poietischer Aufschein "des Unaussprechlichen" selbst, das man deshalb auch nicht mit dem "äußeren" Wort geradezu sagen könnte, sondern das als das verbum interius, als das selbst "beseelte" innere Wort im Sinne Augustinus' nur das Resultat einer besonderen "Sprachnot" angesichts des Unsagbaren sein kann. Diesen Symbolbegriff hat nicht zuletzt Hölderlin von innen heraus zu erhellen versucht, der in diesem Zusammenhang sagt, daß die poietische Sprache "...überall mehr dem Symbol sich nähern muß, je unendlicher, je unaussprechlicher, je näher so dem nefas [d.i. das Unfaßbare] die Innigkeit ist." So wie das symbolon im ursprünglichen griechischen Wortsinn das aus zwei genau zueinander passenden Teilen bestehende "Wahr-Zeichen" zwischen Freunden (oder deren Freunden) ist, so ist es hier für Hölderlin jene dichterische Gestalt, die zu einer ursprünglich erfahrenen Wahrheit gleichsam wie "ein Schlüssel zum Schloß" paßt. Mit anderen Worten: Im Symbol als einer Rede vom Unsagbaren bewahrt sich etwas von diesem Unsagbaren selbst, und darin besteht gerade sein Wert. Es ist authentischer Ausdruck des Ringens mit diesem Unsagbaren des Seins im Vollzug und gerade deshalb, wie Heidegger sagt, das "stiftende Nennen des Seins", das "kein beliebiges Sagen" ist, sondern jenes, welches das Sein in seiner Unfaßbarkeit allererst "ins Offene treten" lasse.
Vorbetrachtung zum Begriff des Musischen und der Zeitkunst
Dem ursprünglichen frühgriechischen Verständnis des Musischen, dem, auch noch in der Negation und Vergessenheit, die europäische Kultur- und Geistesgeschichte Maßgebliches verdankt, ist es wesentlich, daß "die Musen" als eine ganz eigenständige und überaus wirkkräftige Seinsmacht erfahren werden, die den Künstler gleichsam zum Werk "aufruft", so wie dieser die Musen als seine eigentliche Inspirationsquelle im allenthalben begegnenden Musenanruf "anruft". Die Musen sind bei Hesiod, der neben Homer ältesten erhaltenen Quelle, unmittelbare Töchter des Zeus und merkwürdigerweise der Mnemosyne, also der Seinsmacht des Erinnerns oder des Seins-Gedächtnisses. Die Musen, in Hesiods Mythos erscheinen sie als "neun Mädchen, einträchtig im Sinn / Die von Gesang erfüllt sind in ihrer Brust", werden im weiteren als die Singenden, Tanzenden, Festlichen, auch die Erfreuenden gekennzeichnet. Alle Kennzeichnungen aber, und zwar weit über Hesiod hinaus, kreisen um das im weitesten Sinne Musikalische und Rhythmische, so daß F.G. Jünger mit gutem Grund urteilt: "Ohne den Rhythmus, dessen göttlicher Ursprung den Griechen gewiß war, ohne seine Bewegung, die eine festliche ist, bleibt alles stumm. "
Die Musen sind dem frühgriechischen Selbst- und Seinsverständnis aber nicht nur die durch Gesang Erfreuenden und durch Fest, Tanz und Eurhythmie das Dasein Beglückenden, sie sind auch im strengen Sinn die "Wahres Sagenden", also die die Wahrheit des Seins Bewahrenden, ja allererst Offenbarenden. Noch Sokrates stellt im Phaidros (244a-245a) die poietikas unmittelbar neben die Seher, Priesterinnen und Wahrsager und kommt zum Schluß, daß, wie diese, auch der wahre Philosoph von einer Art "göttlicher manía" ergriffen sei, aus der heraus allererst ein "Wahrsprechen" möglich sei (vgl.249c). "In dem Gesang, den die Musen singen, ertönt die Wahrheit aller Dinge als gotterfülltes Sein, aus der Tiefe leuchtend, und noch im Dunkelsten und Leidvollsten die selige Unbeschwertheit des Göttlichen offenbarend" umschreibt W. F. Otto ein Dasein, dessen Hervorbringungen - vom epischen Kosmos eines Homer über die Gesänge Pindars, Aischylos' oder Sophokles', die Bildhauereien und Tempel bis hin zur Blüte der Philosophie - keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.
Noch Platon, in dessen Akademie ein Musenaltar den Mittelpunkt bildete und der zwar nicht dem ursprünglichen Mythos als einer authentischen Seins- und Ursprungs-Kunde, aber doch den inzwischen um sich greifenden sekundären Mythologien außerordentlich kritisch gegenübersteht, erinnert unmißverständlich an den Ursprung der Künste "aus dem Geiste der Musik", wenn er etwa in der Politeia (403d) hervorhebt: "Beruht nun nicht eben deshalb das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Rhythmus und Harmonie besonders tief in das Innere der Seele eindringen und sie am stärksten erfassen, indem sie gute Haltung in sich tragen und also auch gute Haltung bewirken?" Ganz ähnlich legt sein Schüler Aristoteles in der Politik dar: "Die Rhythmen und Melodien aber enthalten Ebenbilder (homoimata), die der wahren Natur des Zorns, der Sanftmut, ferner der Tapferkeit und Selbstbeherrschung und aller ihrer Gegensätze sowie der anderen Charakterzüge in höchstem Grade nahekommen. Das zeigen die Tatsachen: wir erleben nämlich eine seelische Umstimmung beim Anhören derartiger Rhythmen und Melodien ... Daraus ergibt sich, daß die Musik den Charakter der Seele irgendwie formen kann." In den musischen Rhythmen erkennen also diese beiden großen Gründergestalten der europäischen Geistesgeschichte noch unhintergehbare Urphänomene, sozusagen durch alles beseelte Leben hindurchgehende archetypische Gestalten, die sich ganz unmittelbar in der hörbaren Musik, darüber hinaus aber als "Eurhythmie" in allen musischen Künsten wiederfinden. Beide betonen die "unmittelbare" Wirkung der Musik auf die Seele, weil sie selbst auch offenbar ganz unmittelbar dem Innersten der Seele entspringt. Die Musik kann als der Seele je schon eingeborene Musik solchen Grundstimmungen wie Freude oder Leid, Melancholie oder Euphorie, Liebe oder Zorn unmittelbar Gestalt verleihen und diese zugleich beim Hörenden wieder hervorrufen. Dieses anamnestische Verständnis des Musischen bei Platon stellt mithin zugleich eine Rückverbindung zu Hesiods Mnemosyne-Musen-Mythos her.
In der Tat darf man in diesem Zusammenhang von Erinnern und Musik, Anamnesis und Poiesis ein zentrales Moment des frühgriechischen Daseins überhaupt erkennen. Aus diesem Verständnis heraus erhellt sich auch, warum sich Dichter wie Hesiod oder Empedokles zugleich als Philosophen und Wahrer der Wahrheit des Seins, aber ebenso Philosophen wie Sokrates oder Platon sich zugleich als im Dienst der Mnemosyne und der Musen verstehen, warum diese ursprüngliche Einheit von Philosophie und Kunst also noch nicht aufgebrochen ist. Daß eine Philosophie ohne den Zuspruch der Mnemosyne und der Musen, wie Sokrates mit Pindar sinngemäß mehrfach hervorhebt, zur bloßen Rhetorik, Sophistik und "Scheinweisheit" gerät (vgl. Phaidros, 275a-b), wie umgekehrt eine Dichtung ohne innere "Liebe zur Wahrheit" zum bloßen "trügerischen Schein" wird, wie etwa Hesiod andeutet, findet also im genuin mnemosynischen Charakter der Musen und des religiösen Mythos der Griechen seinen eigentlichen Rückhalt. Der Verlust dieser Einheit ist immer wieder als ein entscheidender Verlust erfahren worden, und ihre "Wiedergeburt" aus dem Geiste der Musen und der platonischen Philosophie steht nicht von ungefähr im Mittelpunkt der Anstrengungen der frühen Renaissancekunst in Europa wie auch etwa jenes "Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus", das die jungen Stiftler Hegel, Schelling und Hölderlin einte und in dem es heißt: "... Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen. Zuletzt die Idee die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen ... Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie ... Die Poesie bekömmt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war - Lehrerin der Menschheit ..."
Auch wenn Hegels Philosophie im Zeichen des "Begriffs-Logos" (und auch der christlichen Theologie) von diesem gemeinsamen Neuaufbruch immer mehr abrückt, hält Schelling, neben Goethe, in seiner Philosophie des Mythos und der Kunst an einem Neuanfang der Philosophie "aus dem Geiste der Musen" fest. Derjenige, der dieses "Systemgramm" jedoch mit seinem ganzen Werk und Leben einläßt, ist Hölderlin, in dessen Poiesis der frühgriechische Anfang eine in seiner Unmittelbarkeit ganz einzigartige Auferstehung findet. Die vielfältigen Ausstrahlungen dieser klassischen deutschen Kunstphilosophie auf die russische Poesie sind ebenso unverkennbar wie die vielfältigen Formen eines Rückaustauschs. So wie etwa der junge Dostojewskij - ein künstlerischer Ahne Andrej Tarkowskijs - im Geiste Schellings seinem Bruder mitteilt: "Merke Dir, daß der Dichter im Augenblick der Begeisterung Gott erfaßt, folglich die Aufgabe eines Philosophen erfüllt ... Folglich ist die Philosophie nichts anderes als Poesie, als eine höhere Stufe der Poesie", so wirksam wird der radikale dostojewskijsche Existentialismus seinerseits auch bei Nietzsche oder etwa für die Daseins-Philosophie Heideggers.
Doch auch noch Hegels Philosophie der Kunst und insbesondere der Musik - die hier vor allem deshalb von Interesse ist, weil in ihr ein klar umrissener Begriff von "Zeitkunst" überhaupt entwickelt wird - ist ohne das ursprüngliche griechische Verständnis des Musischen nicht denkbar. Zwar steht Hegels Logik von Zeit und Raum (und damit auch der Begriff der "Zeitkunst" selbst), trotz aller Bemühungen um eine "neue Synthese", noch zwangsläufig in der cartesianischen Tradition des Dualismus von "res cogitans" ("Erkenntnissubjekt") und "res extensa" (die "räumlich ausgedehnte Welt als Objekt"), wie er dem griechischen Denken gerade uneigentlich ist (so daß ihm auch eine Unterscheidung von "Raumkunst" und "Zeitkunst", wie sie Hegel eigentlich allererst in systematischer Form ausarbeitet, so gar nicht notwendig ist). Zwar ist man angesichts der herausragenden und einzigartigen Bedeutung der Musik gerade für das frühgriechische Musen-Verständnis besonders überrascht, daß Hegel nun die Musik - wie übrigens auch den zentralen Begriff der Erinnerung - ausgerechnet dem nach-griechischen Äon, nämlich der christlichen Epoche als eigentliches Wesensmerkmal vorbehält (während er das Wesen der griechischen Kunst selbst gleichsam "aus dem Geist der Skulptur" erklärt). Doch gerade Hegels nachfolgend etwas näher zu erörternde Grundbestimmung der Musik als die "Bewegungsform der Seele selbst" ist eine unverkennbare Anleihe bei der griechischen Philosophie des Musischen, ist reiner Platonismus, bei Hegel sozusagen ein "christianisierter" Platonismus.
In Hegels "System" der Ästhetik gelten Malerei, Musik und Poesie gleichermaßen als wesentlich "christlich-romantische Künste", in Abgrenzung zur "symbolischen" Architektur und zur "klassischen" (griechischen) Skulptur. Zwar sagt Hegel von letzterer: "Schöneres kann nicht sein und werden." Doch gleichwohl gibt es für ihn überhaupt "Höheres" als das Schöne, als "den sinnlichen Schein der Idee", nämlich die christliche Religion, in der sich die Idee sozusagen "selbst verinnerlicht". Gewiß sind diese "epochalen" oder geschichtsmetaphysischen (also letztlich heilsgeschichtlichen) Bestimmungen streitbar und in einer Hinsicht abwegig, insofern der frühgriechischen Kunst in Wahrheit keineswegs allein die Skulptur wesentlich ist, sondern Malerei, Musik und Poesie, aber auch die Architektur, nicht minder ausgeprägte Gestalttiefe und- höhe erreichen. Mit "Romantik" im erweiterten Sinne benennt Hegel gleichwohl die gesamte nach-antike, christliche Kunstepoche, deren Besonderheit er darin erkennt, daß sich "das Subjekt" zunehmend seiner selbst als Subjekt inne werde und daß sich die Kunst mithin in zunehmendem Maße die Gestaltung "des Subjektiv-Innerlichen" zum Gegenstand nehme. In der "romantischen" Kunst drücke der Geist seine "ideelle besondere Subjektivität, das aus seinem leiblichen Dasein in sich gekehrte Gemüth" und seine "eigene Innerlichkeit" aus, umschreibt Hegel diesen, aus seiner Sicht vom Christentum ausgelösten "Ruck des Weltgeistes."
Zwischen Malerei und Musik trifft Hegel nun die Unterscheidung, daß die Musik insofern eine Steigerung des Subjektiv-Innerlichen darstelle, als sie "sich das Subjektive als solches sowohl zum Inhalte als auch zur Form nimmt, indem sie als Kunst zwar das Innere zur Mittheilung bringt, doch in ihrer Objektivität selbst subjektiv bleibt." Hegel denkt hier, noch diesseits der Künste im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (vom Buchdruck einmal abgesehen), offenbar an die jeweilige Einmaligkeit der Musikdarbietung in ihrer "Exekution". Sie entsteht, insofern nur dem Theater vergleichbar, mit jeder Aufführung genuin neu, ja Musik "ist" überhaupt nur im Vollzug ihrer "Exekution". In eben diesem Sinne ist sie auch noch "in ihrer Objektivität selbst subjektiv". Diese Subjektivität auch in der Form und der Objektivation während der Ausführung bestimmt Hegel im weiteren mit dem an sich transitorischen Charakter der Töne und Klänge, "welche sich in ihrem Entstehen durch ihr Dasein selbst wieder vernichten. Der Ton entsteht dadurch, wie er an anderer Stelle erläutert, daß "ein bestimmtes Material sein ruhiges Außereinander aufgibt, in Bewegung gerät, doch so in sich erzittert, daß jeder Teil des kohärierenden Körpers seinen Ort nicht nur verändert, sondern auch sich in den vorigen Zustand zurückzuversetzen strebt. Das Resultat dieses schwingenden Zitterns ist der Ton, das Material der Musik." Gerade weil das Material der Musik insofern auch noch in seiner Objektivation - im Gegensatz etwa zur Skulptur, einem Gemälde, einem Bauwerk - ausgesprochen flüchtig und transitorisch ist, eignet es sich auch für Hegel offenbar in besonderem Maße zum Ausdruck für "die abstrakte Subjektivität als solche", denn ständig muß ein Individuum als Sänger oder Instrumentalmusiker unmittelbar gegenwärtig und schöpferisch tätig sein, damit überhaupt Musik "ist".
Man sollte meinen, daß sich nach diesen Bestimmungen Bezüge zum ebenfalls nur im jeweils aktualen Vollzug präsenten Theater aufdrängten, aber dieses taucht nicht auf, und seltsamerweise grenzt Hegel die Musik von der zuvor erörterten Malerei und der anschließend behandelten Poesie ab. In der Musik wird die schon in der Tafelmalerei angelegte Tendenz zur "Überwindung des Räumlichen" - denn sie ist, anders als die Skulptur, nur noch zweidimensional - sozusagen auf die Spitze getrieben: Das Räumliche wird gleichsam völlig negiert, es "zieht sich" in der Musik - wenn man diese erst einmal in unmittelbare Nähe zur Tafelmalerei bringt, wie Hegel es tut - "auf einen Zeitpunkt zusammen" . In eben diesem Sinne nun spricht Hegel eigentlich erst von "Zeitkunst": Musik ist deshalb und insofern "reine Zeitkunst", als sie überhaupt "das Element der äußeren Gestalt und deren anschauliche Sichtbarkeit verläßt." Mit anderen Worten: Nur weil und insofern Musik gerade nicht anschaulich, sondern abstrakt-transitorisch und unsichtbar ist, kann sie auch die Form des "Subjektiv-Innerlichen", das offenbar für Hegel von ähnlicher Wesensart ist, allererst adäquat ausdrücken.
Die Problematik einer Übertragung zumindest dieser Bestimmung von "Zeitkunst" als transitorische Nicht-Anschaulichkeit auf die anschauliche Zeitkunst des Films ist offensichtlich. Während die bisherigen Bestimmungen mehr oder weniger auf der besonderen Art der "Objektivation" oder "Exekution" von Musik beruhen, gibt Hegel in einem anderen Zusammenhang auch einen entscheidenden Hinweis in Hinblick auf die Wahrnehmung von Musik als reiner Zeitkunst: "Das Selbst erfährt sich auf einer elementaren Ebene als in der Zeit seiend." Dies beschreibt vielleicht auch eine Vorliebe für ein ganz bestimmtes Musikprogramm - Hegel schätzt besonders die Musik Bachs -, in jedem Fall aber ein entscheidendes Bau- und Wirkprinzip der Musik überhaupt: Musik, wie sie Hegel versteht, kommt aus dem Rhythmus des Seins selbst und spricht unmittelbar zum Innersten der Seele. Das mag man, vor dem Hintergrund der Oratorien Bachs, als spezifisch christlich empfinden. Man kann es aber ebenso gut als ein im Grunde platonisches Wesensverständnis der Musik und des Musischen betrachten.
Die vielfältigen Fragen und Herausforderungen,
vor die Hegels System der Künste stellt, können hier nicht erörtert
werden. Unübersehbar aber ist, daß Hegels entscheidender Wink
in Hinblick auf die Musik auch eine Gefahr seines eigenen "Systems"
beim Namen nennt: "...so herrscht denn in der Musik eben so
sehr die tiefste Innigkeit und Seele als der strengste Verstand,
so daß sie zwei Extreme in sich vereinigt, die sich leicht
gegeneinander verselbständigen." Was jedenfalls Hegels
Begriff der Zeitkunst betrifft, so kann er seine begriffslogische
"Konstruktion" kaum verbergen, die im wesentlichen
darauf gründet, daß der "Raum"-Begriff im Sinne einer
protestantischen Logozentrik funktionalisiert, das heißt, de
facto abgewertet wird. Wenn Hegel zunächst die "christlichen"
Künste der Malerei, Musik und Poesie aufgrund ihrer "größeren
Subjektivität" und Innigkeit der klassischen griechischen
Kunst "überordnet", um dann in einem zweiten Schritt
noch einmal eine Rangfolge innerhalb dieser vermeintlich "christlichen"
Künste zu behaupten, wonach die "noch anschauliche"
Malerei die Innigkeit der Musik nicht erreicht und deren "Rest-Sinnlichkeit"
wiederum noch von der sozusagen (auch im theologischen Sinne)
"ganz und gar Logos gewordenen" Poesie überboten wird,
so wird mit dem theologischen Hintergrund zugleich deutlich, daß
Hegel diese Abstufungen letztlich allein entlang der Kategorie
"des Raumes" im Sinne von Sinnlichkeit überhaupt (beziehungsweise
von "Zeit" als Innerlichkeit überhaupt) entwickelt.
Die "christlich-romantische" Kunst kann zwar in
Hinblick auf die sinnliche Schönheit nicht mit der griechischen
Kunst wetteifern, aber gerade dieses tendenzielle Verschwinden
des Moments des Sinnlichen überhaupt macht aus Hegels Sicht
offenbar die höhere Geist-Adäquatheit des christlichen
Kunstgeistes aus. Das Weniger ist hier für Hegel ein Mehr. Diese
Aporie wird vollends deutlich, wenn man bedenkt, daß Hegel
selbst andererseits nicht müde wird hervorzuheben, daß das
Wesen sozusagen erscheinen muß , das heißt, daß die
Objektivation des Wesens keineswegs ein uneigentlicher Vorgang
und bloßer Anschein, sondern "der Schein selbst dem Wesen
wesentlich ist", denn "die Wahrheit wäre nicht, wenn
sie nicht schiene und erschiene". In Hegels Gesamt-System löst
sich diese Aporie freilich insofern auf, als dieses Wesen des
Geistes in der christlichen Epoche eben nicht mehr, wie bei den
Griechen, in der Kunst, sondern in der Religion "erscheint",
die schließlich ihrerseits in jener Philosophie aufgeht, in der
sich der absolute Geist "selbst weiß".