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Zu den Künstlern, die, zumindest vordergründig,
an Hegels System der Künste anknüpfen, gehört der späte
Eisenstein, wenn er etwa zum Verhältnis der Prinzipien der Musik
und des Films am Beispiel der "Nebel-Suite" aus dem
Film Panzerkreuzer Potemkin schreibt: "Die Nebel-Suite ist
noch Malerei, wenngleich eine besondere Form Malerei, die über
die Montage schon eine Erfahrung vorweggenommen hat, die in
reiner Form nur der Musik eigen ist, nämlich den Rhythmus der
Abfolge realer Zeitausdehnungen und das spürbare Nacheinander
von Wiederholungen in der Zeit. Ich möchte sagen, wir haben es
hier gewissermaßen mit einer post-Malerei zu tun, die übergeht
in eine eigentümliche prä-Musik." Eisenstein versucht hier
nicht nur Film als originäre Zeitkunst und als "Rhythmus
der Abfolge realer Zeitausdehnungen" näher zu bestimmen,
sondern ihm sozusagen nachträglich "einen Platz" in
Hegels System der Künste zuzuweisen, nämlich jenen zwischen
Malerei und Musik. Der Film, so der Grundgedanke Eisensteins,
verbindet die Prinzipien der Anschaulichkeit der Malerei mit
jenen des Rhythmus der Musik.
Wörtlich verwendet Eisenstein hier
auch den Begriff der "Augen-Musik", wie ihn in den
zwanziger Jahren schon Vertreter des "Absoluten Films"
in Deutschland prägten: "So gut man auf gewissen
Holzblasinstrumenten Tierstimmen imitieren und doch auch wieder
ernste Musikstücke blasen kann, so wenig hat die neue Kunst mit
dem alten Filmhandwerk zu schaffen. Der Film war bisher
kunstgewerbliche Photographie, war Romanersatz, Theaterersatz.
Jetzt aber ... Die Malerei hat sich mit der Musik vermählt. Es
gibt Augenmusik", schrieb etwa Bernhard Diebold über Walter
Ruttmanns photodram opus 1, einem frühen Beispiel des
sogenannten Absoluten Films, dessen experimentell-puristische
Grundidee - ähnlich den unmittelbar abstrakt bemalten
Zelluloidstreifen von Richter oder Eggeling oder den Grafik-Partituren
von Bauhaus-Künstlern wie Moholy-Nagy, Hirschfeld-Mack, Graeff
oder Doesburg - die rhythmische Organisation abstrakter
graphischer Elemente in der Dimension der Zeit ohne irgendwelche
Anleihen bei anderen Künsten war.
Was sich auf dem Gebiet der Malerei unter Begriffen wie "kinetische Kunst" zum Teil als außerordentlich folgenreich erwies, bewegte im Bereich der Filmkunst selbst jedoch zunächst nur wenig. Zwar trennte man sich mit diesen Experimenten - wie es auf andere Weise auch bei konstruktiven und technoiden Richtungen der russischen Revolutionskunst der Fall war - radikal von allen "Anleihen" bei Theater und Literatur, doch allzu häufig um den Preis einer um so größeren und deutlicheren Abhängigkeit von der hörbaren Musik, ohne die "die Augenmusik" vielfach "stumm" blieb. Zu offenkundig blieben diese faszinierenden "Lichtspiele" im archaischen Sinn mithin, wie ein Wortführer selbst formulierte, "in bewegter Grafik stecken" und in aller Regel gerade auf das angewiesen, womit sie unmittelbar zu konkurrieren oder was sie sogar zu übertreffen trachteten: die "tonangebende" Musik selbst. Offenbar etwas zu kurzschlüssig und "technisch" wurden hier Prinzipien der Musik auf den Film übertragen, als daß das Ergebnis einer solchen Zeitkunst hätte gerecht werden können, in der "das Innerste der Seele selbst" erklingt. Am Beispiel Eisenstein nun - freilich mehr dem Theoretiker als dem Künstler - läßt sich ein erhebliches Stück des Ringens um die "Rhythmus-Frage" im Film sehr unmittelbar erfahren.
Man hat in Hinblick auf die verschiedenen
Entwicklungsstufen der filmischen Montagetheorie Eisensteins, die
diese Auseinandersetzung dokumentiert, vor allem drei Phasen
unterschieden: die Attraktionsmontage (oder "emotionale"
Montage), die "intellektuelle" Montage (Eisenstein
selbst nennt sie auch die "synthetische" Montage) und
die späte Oberton-Montage (Eisenstein spricht auch von der
"polyphon-rhythmischen Montage"). Die
Attraktionsmontage erprobt Eisenstein zunächst am Proletkult-Theater,
von dem er sie auf den Film überträgt. Unter einer solchen
Attraktion versteht er "jedes aggressive Moment", das
den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt,
die möglichst "experimentell überprüft und mathematisch
berechnet" werden soll. Zweifellos muß man hier von einem
behavioristischen Ansatz sprechen. Auf der Theaterbühne gelten
als solche Attraktionen, wie später bei Brecht, etwa reale Boxkämpfe
oder artistische Zirkusnummern.
In der filmischen Praxis führt
dieses Attraktions- und Einwirkungsprinzip um jeden Preis zu den
berühmten Kollisionsmontagen und "image-chocs" in
Eisensteins frühen Filmen. Von der Kollisionsmontage, die auf
einer vereinfachenden, aber überdeutlichen Antithetik auf der
Basis des Gegenschnitts beruht, ist es in einer Hinsicht kein
sehr weiter Schritt zur sogenannten "intellektuellen"
oder "synthetischen" Montagetechnik. Hierbei versucht
Eisenstein, durch Bildgegenüberstellungen nicht mehr nur einen
überdeutlichen und gerade deshalb auf Dauer spannungslosen
Widerspruch augenfällig zu machen, sondern, in Anlehnung an
Hegels dialektische Logik, stattdessen etwas Neues und "Drittes",
eine Synthese, etwas selbst nicht Sichtbares im Betrachter zu
evozieren (zum Beispiel soll der Gegenschnitt von "Auge"
und "Wasser" die selbst nicht sichtbare "Synthese"
des Weinens im Zuschauer hervorrufen). Die einzelnen Bilder
werden hier also gleichsam "wie Begriffe" gebraucht,
und es ist, wie Eisenstein selbst bemerkt, zugleich ein "intellektueller"
Betrachter im vielleicht allzu rationalistischen Sinn gefordert.
Während der Attraktions- und Intellektualmontage ein ausgesprochen rationalistisches und in der Praxis auch technizistisches Kalkül zugrundeliegt und sich die Bedeutung des Filmrhythmischen hierbei auch ganz auf die Rolle des Filmschnitts zu beschränken scheint, beten Eisensteins späte Reflexionen zur "Oberton-Montage" tatsächlich Neuland in Hinblick auf die Frage nach Zeit und Rhythmus im Film. Die Grundidee macht schon der Name deutlich: So wie in der Musik ein Grundton stets viele mitschwingende Obertöne (beziehungsweise in der Fugenkunst ein Grundthema auch vielfältige Variationen des Themas) erzeugt, so erstrebt Eisenstein eine solche "polyphone" Zeit- und Rhythmuskunst auch im Film. Wichtig ist dabei vor allem die völlige Gleichgewichtigkeit sämtlicher "Intonationselemente" des audiovisuellen Films, deren Zusammenklang erst den "Ton" (oder das "Thema") und mithin auch den inneren Rhythmus eines Films konstituiert. Zumindest was den theoretischen Horizont angeht, wird man zugestehen, daß Eisenstein mit dieser "Oberton"-Konzeption das herkömmliche Montage-Paradigma überwindet und in Bereiche vorstößt, die vielleicht erst in Tarkowskijs Filmkunst Praxis werden.
Ein anderer Beitrag zur Diskussion des Filmrhythmischen im Rahmen der sowjetischen Filmtradition ist hier zumindest ansprechen, und zwar Dziga Vertovs Filmpurismus, der auf eine merkwürdige Weise die damalige Maschinenreligion ("Der Künstler ist ein Ingenieur") mit einer Suche nach den "inneren Rhythmen der Dinge" verbindet: "Wir säubern die Filmsache von allem, was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur, dem Theater; wir suchen ihren irgendwo gestohlenen Rhythmus und finden ihn in den Bewegungen der Dinge (...)", heißt es bei Vertov im spektakulären Manifest-Tonfall, und er fügt an: "Weg ins reine Feld, in den Raum der vier Dimensionen (drei+Zeit!) Auf zur Suche nach ihrem Material, ihrem Jambus, ihrem Rhythmus! Das Psychologische stört den Menschen, so genau wie eine Stoppuhr zu sein, es hindert ihn in seinem Bestreben, sich mit der Maschine zu verschwägern (...) Die Filmsache ist die Kunst der Organisation der notwendigen Bewegungen der Dinge im Raum und - angewandt - das rhythmische künstlerische Ganze, entsprechend den Eigenschaften des Stoffes und dem inneren Rhythmus jeder Sache." Als fern und ahnungslos erweist sich aus heutiger Sicht dieser Maschinenkult, doch wirft Vertov mit dem Stichwort des "inneren Rhythmus der Dinge" zugleich eine nach wie vor bedeutsame Frage der Zeitkunst Film auf.
Will man nun den neuen filmkünstlerischen Einsatz Tarkowskijs vor dem Hintergrund dieser kurz skizzierten Beiträge zum Wesen des Musischen und des Rhythmischen andeuten, so könnte man sagen, daß er Vertovs filmische Suche nach den inneren Rhythmen der Dinge durchaus fortführt, ja radikalisiert, aber für dessen Stoppuhr-Ideale und metrische "Ingenieurkunst" wohl nur ein Kopfschütteln übrig hat, da ursprüngliche "Zeit-Erfahrung" für ihn gerade nicht vom uniformierenden Gleichmaß der Maschinen diktiert sein kann, sondern die unmittelbare Erfahrung "der Musik der Seele" und der beseelten Natur ist. Man könnte sagen, daß er Eisensteins späte Visionen einer polyphon-rhythmischen Obertonmontage aufgreift und vertieft, ja daß in seinen Filmen, insbesondere seinem Spätwerk, eigentlich allererst wirklich augenfällig wird, was Eisenstein selbst vielleicht vorgeschwebt haben mag; daß ihn aber zugleich wiederum Welten trennen von dessen rationalistischen Kalkülen, denn Tarkowskijs Filmkunst will nicht Wirkung und Beeinflussung um jeden Preis, sie psychologisiert, soziologisiert und instrumentalisiert nicht; vielmehr macht es das Ursprüngliche, das Klassische und gleichsam Griechische dieser Kunst aus, daß sie Ausdruck einer unmittelbar poietischen Welt- und Zeit-Erfahrung ist.
Insbesondere die (frühe) Auffassung Eisensteins, daß die Montage das entscheidende formbildende Element des Films sei, bekämpft Tarkowskij mit einer gewissen Vehemenz: "Schon oft wurde mit Recht darauf hingewiesen, daß jedwede Kunst notwendigerweise mit Montage operiert, das heißt, mit einer Auswahl und neuen Zusammenstellung von Teilen und Teilstücken. Das Filmbild entsteht nun aber während der Dreharbeiten und existiert innerhalb einer Einstellung" halb achte er auch schon während des Drehens "auf den Zeitfluß innerhalb der Einstellung", während der Filmschnitt "bereits zeitlich besetzte Einstellungen" zum "lebendigen Organismus des Filmes" verknüpfe, "in dessen Blutgefäßen die seine Lebensfähigkeit garantierende Zeit mit rhythmisch unterschiedlichem Druck pulsiert". Tatsächlich gehört gerade dieser "innere Puls" zu den besonderen Auszeichnungen dieser Filmkunst, der, ähnlich dem pulsenden basso continuo Bachs, den inneren Rhythmus seiner Filme entscheidend mitprägt, gleichwohl sich "der Ort" dieses Pulses gar nicht positivistisch bestimmen läßt und vielleicht nur "zwischen dem Sichtbaren" zu finden ist. Es mag der Hinweis durchaus zutreffen, daß die kritische Auseinandersetzung insbesondere mit Bazins (aber wohl auch unmittelbar mit Eisensteins früher und später) Filmtheorie diese Erkenntnis Tarkowskijs in die Beschränkungen des gewohnten Montage-Paradigmas gefördert hat, aber sie reicht bei genauerer Betrachtung auch weit über Bazins Theorie der "Einstellungs-Montage" hinaus.
Der Regisseur verweist in diesem Zusammenhang zunächst auf das seltsame Phänomen - das jedem, der mit Filmschnitt umgeht, vertraut ist -, daß sich bestimmte Einlungen "einfach nicht montieren lassen": "Mich auf eigene Erfahrungen stützend, kann ich sagen, daß zum Beispiel die Montage des Spiegel mit ungeheurer Mühe verbunden war. Hier gab es etwa über zwanzig Schnittvarianten. Ich meine dabei nicht etwa einzelne Schnittstellen, die ausgewechselt wurden, sondern prinzipielle Veränderungen der Konstruktion, der Episodenanordnung. Es gab Momente, in denen es sogar schien, als sei dieser Film überhaupt nicht zu montieren. Der Film ... floß vor unseren Augen immer wieder auseinander..." Für den Regisseur bestätigt dies nur die Einsicht, daß "die Vereinigung der einzelnen Filmsequenzen vom ,inneren Zustand' des gedrehten Materials", genauer, vom Zeitfluß oder "Zeitdruck", der jeweils in diesen Einstellungen immer schon herrscht, abhängt. "Der Rhythmus eines Films entsteht in Analogie zu der innerhalb der Einstellung ablaufenden Zeit. Den filmischen Rhythmus bestimmt nicht die Länge der montierten Einstellungen, sondern der Spannungsbogen der in ihnen ablaufenden Zeit ... Gerade die in einer Einstellung festgehaltene Zeit diktiert dem Regisseur das jeweils entsprechende Montageprinzip ... Demnach ist die Montage eine Form der Vereinigung von Filmteilen unter Berücksichtigung des in ihnen herrschenden Zeitdrucks."
Was sich genauer erst in der nachfolgenden
unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Filmen in ihrer zeitkünstlerischen
Spezifik ausweisen läßt, wird hier zumindest in Umrissen schon
sichtbar: Tarkowskij geht es keineswegs nur um Bazins Prinzip,
der horizontalen (Schnitt-) Montage eine vertikale "Montage"
innerhalb der tiefenscharfen (Einzel-) Einstellung gegenüberstellen,
sondern um die Bewältigung des Zeitproblems und die Grundfrage
des Rhythmischen und seines "Ortes" im Filmwerk überhaupt.
Tarkowskij fragt nicht nach Montage-Techniken, sondern, eine
Schicht tiefer, nach dem in sich zeitdynamischen Wesen des
Filmbildes und gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die
eigentliche künstlerische Potenz und Aufgabe des Filmbildes
darin besteht, unmittelbar Zeit selbst zu erfahren. Das Filmbild
selbst (die Einstellung) ist in sich sozusagen eine "Zeit-Monade"
und wird für ihn zunehmend zu einem Mikrokosmos der durée
interieure überhaupt.
In jüngerer Zeit kommt auch Deleuze im
Rahmen eines umfangreichen zeit- und filmphänomenologischen
Entwurfs zu durchaus ähnlichen Ergebnissen. Der verbreiteten
Auffassung, der auch schon Bergson anhängt, daß die
Kinematographie als vermeintlich "seelenlose Maschinenkunst"
und ein "Kind der Technik" (und des Jahrmarkts)
letztlich unfähig sei, die "innere Zeit" (durée
interieure) erfahrbar zu machen, weil sie aus "abstrakten
Zeitpunkten" (temps) - nämlich den fotografischen
Einzelbildern - aufgebaut sei, also allenfalls eine falsche
"Illusion" der belebten und beseelten durée interieure
liefere, hält Deleuze entgegen, daß dieser "abstrakte
Zeitpunkt" in Wahrheit im Film ein selbst bewegter und, im
Gegensatz zur Fotografie, selbst eine "Dauer" sei, und
dies auch durchaus im Sinne der beseelten durée interieure sein
könne. Bergson übersehe, wie bisher die meisten Filmtheoretiker,
so der Grundgedanke von Deleuze, daß die Grundbausteine des
Films gar nicht die (im Wahrnehmen überhaupt nicht existenten)
Einzelfotografien, sondern die in sich dynamischen, selbst über
eine Zeitdauer verfügenden Einstellungen seien.
Der Film ist also, wie Deleuze ganz im Sinne von Tarkowskij schlußfolgert, nicht aus in sich unbewegten "Zeit-Punkten" zusammengesetzt, sondern vielmehr aus in sich immer schon "unmittelbar bewegten" Einstellungen (coupes mobile). Deshalb "illusioniere" Filmkunst auch nicht nur die "konkrete Dauer" der durée interieure, sondern könne, wie jede echte Kunst, diese selbst erfahrbar machen, ja diese sogar, wie die ebenfalls in sich bewegte Musik, besonders unmittelbar zum Ausdruck bringen. Es gelte zu erkennen, daß die "großen Autoren des Kinos" unmittelbar "in Bewegungs-Bildern (image-mouvement) und Zeit-Bildern (image-temps) denken", ja bestimmte innere Dimensionen des Bewegten und der Zeitlichkeit so allererst in Erfahrung gebracht hätten. Das muß man keineswegs so verstehen, daß das Materialprinzip des Films allein und als solches schon die durée interieure "garantiert", der Film aber dem Künstler dies sehr wohl erlaubt.
Dieser phänomenologische Befund, daß die dynamische Einstellung im Film im Prinzip genauso "zeithaltig" und transitorisch wie der Ton in der Musik ist, zeigt zugleich, daß es zumindest in dieser Hinsicht sehr wohl berechtigt ist - was sich aus Hegels Bestimmungen der "Zeitkunst" zu verbieten schien -, Film und Musik als "verwandte" Künste zu betrachten, deren Material gleichermaßen in sich "bewegt" ist. Sofern ein Künstler nur "sein Instrument" zu spielen versteht, kann er damit auch die inner-seelische durée interieure unmittelbar ausdrücken. Tarkowskij hebt dieses dynamische Verständnis des Filmbildes, aber zugleich auch das jede Materialästhetik übergreifende Prinzip des Poietischen mit den Worten hervor: "...so lebt ein wirklicher Film mit einer auf dem Filmstreifen präzis fixierten, aber über die Grenzen der Einstellung hinausströmenden Zeit auch nur dann in der Zeit, wenn die Zeit zugleich in ihm lebt ... Wenn dies der Fall ist, dann wird der Film auch mehr als zu einem lediglich abgedrehten und zusammengeklebten Filmstreifen. Mehr als eine bloße Erzählung und auch mehr als ein Stoff. Er läßt sich von seinem Autor und beginnt ein eigenständiges Leben zu führen..."
Wenn Tarkowskij immer wieder von der "eigenständigen Lebendigkeit" oder dem "Organismus" des Filmwerks spricht, in dessen "Blutgefäßen" die Zeit und der Rhythmus "lebendig pulsieren", so wird zugleich einmal mehr deutlich, daß es hier überhaupt nicht um Zeit in einem technisch-abstrakten Sinne von Formen der metrischen Zeit geht, sondern stets um jene "innere Zeit" der durée interieure, die auch schon bei Bergson keineswegs zufällig vor dem Hintergrund des Seins der "mémoire" entfaltet wird: "Deshalb existiert allein hier [in der mémoire] die durée. Die durée interieure ist das fortwirkende Leben des Erinnerns, das das Vergangene in die Gegenwart rettet." Eben dieser Inner-Zeitigkeit des Erinnerns aber gilt Tarkowskijs ganze Aufmerksamkeit. Tarkowskij selbst verweist zuweilen auch auf die ostasiatische Kunst, um das Wesen dieser inneren Zeit hervorzuheben. Er zitiert etwa ein Haiku von Bascho: "Für die Dächer wurde Schilf geschnitten / Auf vergessene Halme / Stiebt weicher Schnee." Er kommentiert, daß diese Verse einen "Augenblick" einfangen, der förmlich "in die Ewigkeit falle". In der Tat hat dieser kurze Dreizeiler in seiner Zeitfülle etwas Zeitloses, zaubert er etwas vom Wesen der Zeit herauf und läßt uns zugleich die einfachsten Dinge in ihrer Würde sehen.
An anderer Stelle verweist der Regisseur auf die Japan-Erinnerungen eines russischen Journalisten: "Man meint hier, daß die Zeit an sich das Wesen der Dinge zu Tage fördere. Aus diesem Grunde sehen die Japaner in den Spuren des Wachstums einen besonderen Reiz. Deshalb fasziniert sie die dunkle Farbe eines alten Baumes, ein verwitterter Stein ... Diese Spuren des Alterns nennen sie saba, was wörtlich übersetzt ,Rost' heißt. Saba - das ist der nicht nachahmbare Rost, der Zauber des Alten, das Siegel, die ,Patina' der Zeit." Wenn Tarkowskij sein Buch Die versiegelte Zeit nennt und in seinem Filmkosmos diese Spuren der Schönheit des Wachstums und der "Er-Zeitigung" allenthalben begegnen, so weist das auf dieses "nicht nachahmbare", gewachsene und jedem Dasein erst seine Würde gebende saba als "das Siegel der Zeit" und als Aufruf zum Erinnern der eigenen Zeitlichkeit zugleich. In einer schönen Episode von Fellinis La Strada weckt der Gaukler in der verzweifelten Gelsomina neue Daseinsfreude, indem er auf einen Kieselstein in seiner Hand verweist: "Auch dieser Stein hat einen Sinn. Wenn er keinen Sinn hat, dann hat die ganze Welt keinen Sinn."
Doch zunächst gilt es, die im engeren Sinne filmsprachlichen Implikationen dieser dynamischen Filmbild-Auffassung Tarkowskijs, die ihm in die innere, existentielle Zeit unseres Daseins vorzustoßen erlaubt, etwas näher auszuweisen. Der Film entsteht als "bewegtes Bild der Zeit selbst" nicht erst am Schneidetisch, sondern bereits während des Drehens der Einlungen, in denen schon auf vielfältige Weise innere Zeit selbst gestaltet und aufbewahrt wird. Dies bedeutet zunächst einmal auch, daß die verschiedensten Elemente des Films - die Darsteller, die Schauplätze und Drehorte, die Kamerabewegungen, die Licht- und Geräuschregie usw. - in Tarkowskijs Filmen zunehmend zu Momenten einer polyphonen Intonation des Gesamtwerks werden. Sie verlieren gleichsam ihre traditionellen Rollen im Film und werden in einem strengen Sinne zu "Instrumenten" der spezifischen "Zeitsuche" und Zeitkunst des Regisseurs, zu gleichgewichtigen Intonationselementen, die erst in ihrem, seinerseits wiederum zeitkünstlerisch organisierten Zusammenspiel das Werk schaffen.
Eine so verstandene Filmkunst und ein so entstandenes Werk vergleicht der Regisseur deshalb auch mit gutem Grund wiederholt mit der Musik: "Strenggenommen bilden ja die filmisch und die musikalisch transformierte Welt zwei parallele, miteinander [im Film!] in Konflikt liegende Welten", und an anderer Stelle heißt es: "Film und Musik zähle ich in diesem Sinne den unmittelbaren Künsten zu, die keiner Vermittlung durch die Sprache bedürfen. Diese fundamentale, entscheidende Eigenschaft macht Musik und Film zu Verwandten ... Noch einmal möchte ich unterstreichen, daß Kino ebenso wie die Musik mit Realität operiert." Mit "Realität" meint der Regisseur hier offensichtlich nichts anderes als jene inner-seelischen Zeit- und Erinnerungsgestalten selbst, wie sie auch das Ausgangsmaterial der Musik (und des Musischen überhaupt) sind und nur "unmittelbar" - gleichsam "von Seele zu Seele" - wahrgenommen und weitergegeben werden. Gerade weil Tarkowskij Film aber in einem außerordentlichen Sinne "aus dem Geiste der Musik" versteht, versucht er, auf die hörbare Filmmusik im traditionellen Sinn weitgehend zu verzichten. Nicht, daß hörbare Musik an entscheidenden Stellen gleichwohl auch eigenständige Themen und Klangfarben hervorruft, aber entscheidend für Tarkowskijs Filmkunst ist doch der unverkennbare Anspruch, den Film selbst als Musik und "unmittelbaren Seelenrhythmus" zu entfalten.
Es ist weiterhin Tarkowskijs Auffassung, daß
der Rhythmus und das je spezifische Zeitempfinden eines
Regisseurs einem Film oder einem gesamten Oeuvre überhaupt erst
das unverwechselbare Gepräge gibt, daß sich hieran eigentlich
erst die "Persönlichkeit" und Authentizität eines
Werks ablesen läßt. "Seine Individualität zeigt ein
Regisseur vor allem durch sein Zeitempfinden, durch den Rhythmus
... Der Rhythmus wird nicht erdacht, nicht willkürlich, auf rein
spekulative Weise konstruiert. Im Film kommt der Rhythmus
organisch auf, in Entsprechung zu dem seinem Regisseur eigenen
Lebensgefühl, entsprechend dessen ,Zeitsuche'."
Von seiner
eigenen "Zeitsuche" aber sagt Tarskowskij: "Ich
habe sozusagen die Vorstellung, daß die Zeit in der Einstellung
unabhängig und mit eigener Würde ablaufen muß ... Ein
ungenaues Wort in der Literatur zerstört den Wahrheitsgehalt
eines Werkes ebenso wie ein unpräziser Rhythmus im Film."
Der jeweilige Rhythmus, die Unverwechselbarkeit der Zeitsuche und
des Erinnerns des Autors verleiht demnach einem Kunstwerk überhaupt
seine Inständigkeit und künstlerische "Handschrift".
Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich Filmgewerbe und
Filmkunst nicht zuletzt darin unterscheiden, daß letztere überhaupt
über einen ausgeprägten und inständigen Rhythmus verfügt, daß
die Filme eines Fellini, Kurosawa, Bunuel, Pasolini oder Wenders
etwa nicht zuletzt durch eine je eigene und ganz unverwechselbare
Art des Umgangs mit der Zeit im Film geprägt sind.
Wie Tarkowskij nun im Konkreten die innere Zeit erfährt und den "Zeitdruck" in einer Einstellung aufspürt oder auch organisiert, wie er darauf aufbauend den synergetischen und "lebendigen Zeit-Organismus" des Films als polyphone Intonation sämtlicher zeithaltiger Momente regelrecht "komponiert", läßt sich nur unmittelbar an den Filmen selbst im Ansatz ausweisen. Allgemein kann man soviel sagen, daß die Konsequenz und Sorgfalt, mit der er dieses Kriterium der inneren Zeithaltigkeit auf ausnahmslos allen Ebenen und selbst noch in den unscheinbarsten Details des Films berücksichtigt und verfolgt, kaum Vergleiche zuläßt. Die Auswahl der Drehorte und Schauplätze erfolgt im wesentlichen ebenso nach diesem Kriterium wie etwa die der Geräusche. Wenn in Tarkowskijs Filmen so auffallend viele Ruinen und abblätternde Mauern, wenn so viele elementare Naturphänomene wie ein fließender Bach, eine nebeldampfende Landschaft, Schneefall oder Regen in den verschiedensten Gradationen und Klangfarben als Grundgestalten wiederkehren, so ist, bevor man zu vorschnellen und mehr oder weniger instrumentalisierenden allegorischen Deutungen Zuflucht nimmt, zunächst zu vergegenwärtigen, daß all diesen Phänomenen eines gemeinsam ist, nämlich eine ganz spezifische und inhärente Zeithaltigkeit; in ihnen ist, wie der Regisseur sagt, "Zeit versiegelt".
Das Symbol (im eingangs erörterten Wortsinn)
eines fließenden Bachs steht also nicht "für etwas anderes"
(etwa für die "Große Mutter"), sondern ist das, was
es ist: Zeit selbst, und zwar als "ewige Bewegung" und
"ewige Dauer" zugleich. In Hinblick auf Hölderlins
"Strom-Dichtungen" spricht Heidegger einmal in diesem
weltzeitlichen Sinn vom Strom als "Ortschaft der
Wanderschaft". Ähnlich verhält es sich mit dem Regen oder
rauchenden Ruinen - in all diesen Momenten ist in der Sprache
Tarkowskijs "Zeit versiegelt", pulsiert gleichsam
"lebendige Zeit". Was die Sorgfalt dieser Intonation
betrifft, so muß man bei Tarkowskij von einer beispiellosen
audiovisuellen Musik sprechen: es regnet hier nicht einfach - um
nur ein Beispiel zu erwähnen -, sondern es erklingt regelrechte
Regenmusik, die etwas vom gemeinhin verborgenen Zauber dieses Phänomens
wiederholt oder allererst offenbart. Damit ist zugleich
angedeutet, daß diese Symbole und Weltbilder Tarkowskijs auch
nicht im Sinne jener "Errettung der physischen Realität",
von der Kracauer spricht, hinreichend zu verstehen sind.
Zwar
werden Kracauers durchaus differenzierte Darlegungen oft in
Richtung eines kruden "Abbild-Realismus" vereinfacht,
doch gleichwohl läßt sich Tarkowskijs Kunst mit Kracauers
Ansatz nicht angemessen erfahren. Gewiß ist Tarkowskijs erklärte
Absicht, den Dingen im Sinne Rilkes (und wohl auch Kracauers)
"die eigene Würde" zurückzugeben, durchaus wörtlich
zu nehmen. Dennoch sind aber zwei Dinge, die Kracauer in seinen
Überlegungen teilweise geradezu kurzschließt, bei Tarkowskij
auseinander zu halten. Das eine ist, daß Tarkowskij zwar mit
Kracauer die Auffassung teilt, daß "eine der wichtigsten
Bedingtheiten des Kinos darin (besteht), daß das Filmbild sich
nur in faktischen, natürlichen Formen visuell und akustisch
wahrgenommenen Lebens verkörpern kann". Dies heißt aber
nun für ihn, im Gegensatz zu Kracauer, keineswegs, daß diese
"Bedingtheit" auch schon das eigentliche Ziel und daß
diese "Formen" selbst auch schon das eigentliche Wesen
seiner Filme ausmachten: "Dennoch kann längst nicht jede
filmische Photographie Anspruch auf ein Weltbild erheben. Es
beschreibt meist nur dessen Konkretheit. Eine Fixierung
naturalistischer Fakten reicht noch längst nicht aus, um ein
Filmbild zu erschaffen."
Im Gegensatz zu Kracauers im Ansatz dokumentaristischen Konzept von der Errettung der physischen Realität, die durch die "Abstraktheit der modernen Wissenschaft" dem Menschen zunehmend verlorenzugehen drohe, dringt der Regisseur, der das Filmbild als ein geradezu hochverdichtetes Weltbild versteht, also gerade nicht durch eine bloße Mimesis des Sichtbaren zu dieser Realität und Poesie der Dinge vor, sondern vielmehr durch eine ganz besondere künstlerische Kraftanstrengung, durch eine poietische, das heißt im ursprünglich griechischen Wortsinn entbergend-hervorbringende Mnemesis. Zum selbst poetischen Wesen der Dinge kann man vielleicht überhaupt "nicht geradezu greifen", wie Hölderlin im Ister-Gesang dichtet, es bedarf wohl immer einer besonderen Zuwendung, ohne die es nichts Entgegenkommendes gibt, eines außerordentlichen "Sehens", ohne das das Verborgene verborgen und das Ding eben ein Ding bleibt.