Eine einzige Fuge des aber...

Sein und Erinnern bei Hölderlin und Heidegger -
Eine Notiz zu den späten pindarischen Andenken-Gesängen
[1]


In Heideggers Deutung von Hölderlins ANDENKEN-Gesang findet sich u.a. der Hinweis: "‘Andenken‘ ist eine einzige in sich gefugte Fuge des aber, die das Wort des Rätsels nennt (...)" [2] Diese Formulierung stellt keine geringe Herausforderung dar. Am ehesten können wir uns ihr vermutlich über den in der Musik geläufigen Begriff der Fuge nähern. Grundlegendes Merkmal der Fuge als musikalischer Gestalt, wie sie vor allem von Bach zu polyphoner Vielfalt und Meisterschaft entwickelt wurde, ist die Entfaltung eines Grundthemas über den dynamischen Dialog zwischen Thema und Gegenstimme (auch Kontrapunkt oder Antwort genannt), wobei die organische Einheit der Fuge u.a. dadurch gewährleistet bleibt, daß alle Stimmen dem Grundthema entstammen. [3] Darüberhinaus ist die Fuge aber eine universale, die verschiedenen Kunstgattungen durchaus übergreifende Verlaufsgestalt (Klee etwa malte, Celan dichtete Fugen, Hegel gar baute auf dieser Basis sein atemberaubendes Gebäude eines "Systems der Logik"). Man kann in gewisser Hinsicht durchaus sagen, daß sie als dynamischer Dialog von Einheit und Widerspruch eine im Grunde ausgesprochen heraklitische Form ist (und die überlieferten Fragmente Heraklits jeweils kleine Fugen in sich sind). Lesen wir Heideggers BEITRÄGE/VOM EREIGNIS, so können wir keinen Augenblick zweifeln, daß der Autor um all diese Zusammenhänge wußte und sie auch für das eigene Werk fruchtbar zu machen verstand.

Daß Hölderlins ANDENKEN-Gesang von Heidegger als eine Fuge in diesem erweiterten Sinn gekennzeichnet wird, erscheint ohne weiteres nachvollziehbar, denn hier wird tatsächlich ein Grundthema - das poietische Andenken - in einem überaus dynamischen, zuweilen kontrapunktischen Dialog von Thema und Antwort bzw. Gegenstimme zu einer organischen Einheit entfaltet. Warum spricht Heidegger jedoch explizit von einer "Fuge des aber" - und inwiefern nennt gerade dieses aber "das Wort des Rätsels" unseres Daseins? Welche Beziehung besteht zwischen diesem rätselhaften Fugenwort "aber" und dem Grundthema des Gedichts, dem poietischen Andenken?

Von Hölderlins Dichten hat Heidegger gesagt, es sei "wie eine Glocke, die im Freien hängt". [4] Glocken verkünden etwas, sie rufen. Seit Menschengedenken künden sie von außergewöhnlichen Ereignissen, von großen Unglücken und hohen Festen, sie zeigen an, was die Stunde geschlagen hat und mahnen zum Eingedenken der Vergänglichkeit und zugleich eines Fortdauernden. Zugegeben, dies ist im wachsenden Lärm immer leichter zu überhören und immer schwerer zu erhören, so daß Hans-Georg Gadamer mit Recht fragt, ob und wie "dieses gedankenvolle Brandungsgeräusch" der Dichtung Hölderlins und ihres Echos zu Beginn des Jahrhunderts noch "in unserem industriellen und technischen Getöse weiterschallen wird oder ob es verstummt". [5] Doch vielleicht wird diese Dichtung deshalb auch nur umso bedeutsamer.

Von besonderen Ereignissen, großen Festen und Unglücken, von einem außerordentlichen Andenken künden auch Hölderlins Gesänge, in ihren hellen wie dunklen Obertönen. Allerdings sind diese Gesänge, darin der abgründig tiefen musikalischen Textur der Lieder Schuberts ähnlich, überaus stille Gesänge, die, weit abseits des Zerstreuenden, Flüchtigen und Lauten, auf Gedeih und Verderb einem Ursprünglichen, einer erfahrenen "Nähe zur Quelle" verpflichtet sind. Wir müssen sie in ihrer fernen Nähe erst aufsuchen und auffinden lernen, sie dann in ihrer inwendigen Gegenwendigkeit aushalten, um das Lichtende und vielleicht sogar Rettende auch - und gerade - dort zu vernehmen, wo höchste Gefahr ist. Weil Hölderlins späten Gesänge so unmittelbar in und mit dem Rhythmus einer erfahrenen Anfangsnähe schwingen, dessen Fülle und zuweilen "blendendes" Licht so unverfälscht weiterreichen, gibt es hier auch, wenn irgendwo, kein Verfügen, Haben und endgültiges Wissen dessen, was dieses Dichten ist. Unsere Aufgabe bleibt es, eine ständig von neuem wieder-zu-holende Nähe zu jenem Sein zu finden, aus dem heraus, von und mit dem dieses Dichten spricht. In diesem außerordentlichen Sinne hat Hölderlins Dichten "keinen Boden". Sein Boden ist der selbst grundlose und insofern "abgründige" Grund unseres rätselhaften Daseins, so daß jede Interpretation, die meint, diese Dichtung wirklich "begründen" oder gar mit den technischen Zaubermitteln der Wissenschaften "erklären" zu können, von vorneherein fehlen muß.

Wenn nun im Zusammenhang mit Hölderlins Werk von Erinnern und Andenken die Rede ist, gerät zunächst meist der HYPERION und eine vermeintlich "subjektiv" oder "romantisch" aufgefaßte Innerlichkeit in den Blick. [6] Man hat den HYPERION, wie auch die "noch zugänglichen" späten Gedichte, lange Zeit als eine mit "antikisierenden Reminiszenzen" versehene Darstellung der verzaubernden, doch gleichwohl verklärenden Macht des Erinnerns gelesen. Angesichts einer ernüchternd dürftigen Gegenwart überziehe dort, so glaubte man lange, dichterische Phantasie eine idealisierte Vergangenheit im nachhinein mit einer umso reizvolleren Patina. Der sich in ein ideales griechisches Fabelland hinwegträumende Eremit - mit dieser Legende machte man sich Hölderlin erträglicher, während der späte Hermetiker diesem "romantischen" Hölderlin-Verständnis nur als "der arme Umnachtete" erscheinen konnte (als wären die letzten Wege nicht immer notwendig einsame).

Diesem sentimentalischen Zugang zu Hölderlin ist, was heute allzu leicht in Vergessenheit gerät, eigentlich erst zu Beginn dieses Jahrhunderts ein tieferes hermeneutisches Verständnis entgegen getreten, wofür insbesondere die Namen Norbert von Hellingrath und, in dessen vertiefender Nachfolge, Martin Heidegger stehen können. Jene unerhört modernen Brüche und krisis-Erfahrungen, die sich in Hölderlin vorwegnahmen, konnte man wohl nur, voller Erstaunen, nach und nach erahnen. Heideggers wegbahnende Eröffnung eines in bisher verborgene Schichten dieses Dichtens, insbesondere des späten Werks, vorgreifenden Verständnis-Horizonts hat, die Bemühungen des George-Kreises aufnehmend, [7] im Grunde allererst die unerhörten und philosophisch "stiftenden" Dimensionen in aller Deutlichkeit aufgewiesen.

Er hat darüberhinaus eine Haltung zu dieser exemplarischen dichterischen Existenz einzunehmen versucht, die diese, vorausgesetzt man senkt sich wirklich ein in die unmittelbar andenkende Erfahrung dieser Dichtung und in den Ernst und die Gewissenhaftigkeit, mit der Heidegger die "Nennkraft" ihrer Worte zu entfalten versucht, im eigentlichen Wortsinn " das sein läßt, was sie ist" - und das ist vielleicht noch immer mehr, als wir schon zu erinnern vermögen. Wenn heute wie selbstverständlich auch die späten, "in Feuer getauchten" Dichterworte das - freilich nicht immer hinreichend "scheue" - Interesse der Interpreten auf sich ziehen, geht dies leider nur selten mit einer Besinnung auf den unscheinbaren, aber weitsichtigen Wink Heideggers einher, wonach wir "meinen, wir hätten die Gedichte schon immer so verstanden" . [8]

Die außerordentliche, bis heute andauernde Vielstimmigkeit und zuweilen auch von Ratlosigkeiten gekennzeichnete Breite der Wirkungsgeschichte dieser Dichtung, wie auch die nicht wenigen ideologischen Bemächtigungsversuche, [9] kommen insofern nicht von ungefähr. Sie weisen zuletzt auf die Ursprünglichkeit und "Quallnähe" dieses Dichtens zurück, das sich offenbar noch allen sozial- und literaturhistorischen oder auch nur ästhetischen Einordnungsversuchen entzieht, das in seiner Inständigkeit standhält (und ganz ähnliches gilt ja auch in Hinblick auf die Nachwirkungen des denkerischen Andenkens Martin Heideggers).

Dem Gesichtspunkt und dem Stellenwert jenes bisher erst andeutungsweise berührten poietischen oder, in Heideggers Worten, "stiftenden" Andenkens gilt es dabei wohl noch auf längere Sicht nachzudenken. Zwar sind die Erinnerungswege des Dichters teilweise bis in die mitunter allzu geographischen Einzelheiten erschlossen. Zwar ist auch die konstitutive Beziehung zwischen dem Vollzug des poietischen Erinnerns und der Genese der späten Gesänge bemerkt worden. [10] Doch welche Bedeutung dem herkünftigen und inständigen Andenken, also der Mnemosyne als Sein - und so anfänglich-griechisch erfährt Hölderlin das musen-schaffende Erinnern - in seiner Selbstentfaltung innerhalb dieses Dichtens zukommt, dies bleibt noch durchaus zu erhellen.

In Heideggers Hölderlin-Zwiesprache zumindest wird der Stellenwert dessen, was Hölderlin das "idealische Andenken" nennt, wiederholt hervorgehoben und, wenn auch nicht in jedem Fall explizit, als bleibende Herausforderung deutlich. Im Vortrag DIE ZEIT DES WELTBILDES heißt es: "Sie (die Besinnung) versetzt den künftigen Menschen in jenes Zwischen, darin er dem Sein zugehört und doch im Seienden ein Fremdling bleibt. Hölderlin wußte davon." [11] Deutlich heben auch die BEITRÄGE den für die späte Philosophie Heideggers ganz allgemein gültigen - und im wesentlichen unmittelbar auf Hölderlin gründenden - Einklang von Denken als Andenken und von Andenken als Ereignis, das heißt als das Erinnern jenes Anfangs, der nicht historisch zu fassen, sondern gleichsam immer vor uns liegt, hervor: "In der Besinnung und durch sie geschieht notwendig das Immer-noch-Andere, das zu bereiten es eigentlich gilt." (S.52). Dieses schaffende, poietische Ahnen wird hier "als das in sich selbst zurückgründende Aufbehalten der stimmenden Macht (...) des Ereignisses" gefaßt: "Die Ahnung legt die anfängliche Inständigkeit in das Da-sein. Sie ist in sich Schrecken und Begeisterung zugleich - gesetzt immer, daß sie hier als Grundstimmung die Erzitterung des Seyns im Da-sein als Da-sein anstimmt und bestimmt" (S.22). Dort heißt es, analog zu Hölderlins Schrift DAS WERDEN IM VERGEHEN, wo diese "idealische Auflösung" als "das neue Leben" gekennzeichnet wird: "Wirklich, d.h. seiend, ist erst das Erinnerte (...)" (S.14).

Wir können diesen außerordentlichen Stellenwert, den Hölderlin wie Heidegger diesem poietischen Andenken einräumen, kaum hoch genug einschätzen, um sowohl Hölderlins wie auch Heideggers Spätwerk in uns aufzunehmen, diesem wie jenem gerechter zu werden. Vor diesem Hintergrund wird etwa verständlicher - und fällt im übrigen auch ein erhellendes Licht auf die oft allzu wörtlich genommene und vordergründig historistisch aufgefaßte Platon- und Metaphysik-Kritik Heideggers -, wenn in den BEITRÄGEN als Aufgabe der Philosophie "die schonungslose Nötigung in die Not der Besinnung" genannt wird, die nicht, wie es heißt, durch Rücksichten auf die philosophische Tradition "geschwächt" (95) werden dürfe. Das "Besinnen", also ein weniger kategoriales als vielmehr existentiales Erinnern, jenes sokratische Ethos mithin "innerlich sich selbst und unmittelbar zu erinnern", ist hier wohlbemerkt dasjenige, was nicht durch Kenntnisse und Tradition, Wissen und Gelehrtheit geschwächt werden soll und darf. Hölderlin aber war gerade darin für Heidegger derjenige, "der am weitesten herkommt" - und wohl auch am weitesten gegangen ist.

Vor dem Hintergrund dieses außerordentlichen Stellenwerts des unmittelbaren Andenkens, wie ihn Heidegger nicht zuletzt in Hölderlins späten ANDENKEN-Gesängen in höchster Verdichtung gefunden und hervorgehoben hat, erweist sich natürlich die ganze Fragwürdigkeit jener, sich in der Hölderlin-Forschung erstaunlich lange behauptenden Vermutung, wonach der Dichter in diesen späten Andenken-Gedichten (ANDENKEN, DER ISTER, DIE NYMPHE MNEMOSYNE) nichts geringeres als den Untergang des poietischen Andenkens, den Tod der Mnemosyne also verkünde.



Anmerkungen


(1) Eine ausführlichere Erörterung dieser Fragen versuche ich in: Mnemosyne und die Musen, Vom Sein des Erinnerns bei Hölderlin, Würzburg 1993, S.264ff.

(2) Vgl. M. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1951, S.151.

(3) Grundlage eines musikalischen Fugenwerks ist ein Grundthema (dux), das zuerst meist von einer Stimme rein vorgetragen und dann von einer oder mehreren anderen Stimmen, die, um eine Quarte oder Quinte höher oder niedriger transponierte, mitunter auch umgekehrte, verkürzte oder enggeführte Variationen des Grundthemas sind, "beantwortet" oder auch "kontrapunktiert" wird.

(4) Vgl. M. Heidegger, Erläuterungen, a.a.O., Vorwort.

(5) Vgl. H.-G. Gadamer, Die Gegenwärtigkeit Hölderlins, in: Hölderlin-Jahrbuch 1982/83, S.178f.

(6) Daß in Wahrheit auch schon die Hyperion-Dichtung einen idealischen Begriff des Erinnerns dokumentiert, zeigt H.Bachmaier, Hölderlins Erinnerungsbegriff in der Homburger Zeit, in: Jamme/Pöggeler, Homburg v.d.H., a.a.O., S.139ff.

(7) Der George-Kreis hat entscheidend zum Verständnis der Dichtung Hölderlins beigetragen, nicht zuletzt wegen der von N.v. Hellingrath erstmals in Angriff genommenen Edition der bis dahin als gänzlich unverständlich geltenden Späthymnen [vgl.dazu auch N.v. Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, hrsgb.v. L.v. Pigenot, 2.Aufl., München 1944]; für Gundolf war es "das Unromantische" an Hölderlin, "daß er war, was er sang" [vgl. U. Häussermann, Hölderlin, Reinbek 1985, S.183]; für George selbst war Hölderlin "der grosse Seher", vor dessen "weitesten einigungen und ausblicken" wir "noch verhüllten hauptes" stehen [vgl. F. Schonauer, Stefan George, Reinbek 1979, S.100].

(8) Vgl. M. Heidegger, Erläuterungen, a.a.O., S.8.

(9) Vgl.dazu: A. Kelletat (Hrsgb.), Hölderlin, Beiträge zu seinem Verständnis in unserem Jahrhundert, Tübingen 1961; sowie J. Schmidt (Hrsgb.), Über Hölderlin, Aufsätze, FfM.1970. Der vielleicht nachhaltigste "Bemächtigungsversuch" droht im Zeitalter alles durchdringender Technik und Technokratie jedoch von einem Szientismus, dem Denken nicht länger einem ursprünglichen Andenken verpflichtet bleibt, sondern zu einer exakten Technik des "unwiderlegbaren Aussagens" geworden ist. Dies war es, was Heidegger zu der Formulierung bewog: "Die Wissenschaft denkt nicht", was heißt, daß eine selbst zur Technik gewordene Wissenschaft nicht mehr unmittelbar andenkt, nicht mehr erinnert(vgl. M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S.133).

(10) Vgl. etwa D. Henrich, Der Gang des Andenkens, Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986.

(11) Vgl. M. Heidegger, Holzwege, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1952, S.88.

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