Leben muß hoffen, sonst lügt es...
DJ: In einem Vortrag vor der Jenaer Universität sagten Sie kürzlich: "Wir sollten uns nicht einreden lassen, daß der technische Fortschritt als solcher das Ziel sein kann. Das Ziel kann doch nur ein Leben sein, in dem Kultur lebt und die erhöhte Wirklichkeit dessen, was man Kultur nennt, uns wirklich erfüllt..." Sie erinnerten daran, daß Kultur eigentlich eine Leistung der Natur, Bildung im Grunde ein organischer Vorgang sei, so wie wir auch davon sprechen, daß sich ein Gebirge "gebildet" hat. Sind wir Gebirgsmenschen auf den Gipfeln des technischen Fortschritts zugleich auf dem Höhepunkt der Verzweiflung angelangt?
HGG: Noch nicht, aber wir wissen natürlich nicht, bis wohin der Wahn, daß der technische Fortschritt das Ziel des menschlichen Lebens sei, noch führen wird. Allerdings habe ich gesagt, und wiederhole es: Das vergangene Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem die Menschheit Waffen zur Selbstzerstörung ihres gesamten Lebensraums entwickelt hat. Erst jetzt fangen wir überhaupt an, mit Notwendigkeit kritische Gedanken über diesen Fortschritt entwickeln zu müssen. Wir sind jetzt in dieser Lage, daß wir etwas tun müssen, damit die Erde nicht zu einem Mond wird. Nur wenn die großen Weltreligionen lernen könnten, voreinander Achtung zu haben. Worum es geht: Man muß nicht alle anderen Sitten durch eine Siegersitte dominieren wollen. Das ist das, was uns im Augenblick droht, Amerkanismus.
DJ: Sie haben als eine philosophische Grunderfahrung immer wieder das sokratische Wissen um unser Nichtwissen gegen alle Versuchungen menschlicher Hybris ins Feld geführt. Philosophie beginnt mit dem Staunen, sagt Aristoteles, und Platon bemerkt einmal, daß es auch im Staunen endet...
HGG: Ja, und dieses Ende wird uns mit dem heutigen wissenschaftlich-technischen Fortschritt, etwa in der Biochemie, nicht gerade ferner gerückt, man sieht es eher deutlicher. Insofern kann man dem Stellenwert dieser sokratischen "Unwissenheit" auch gar nicht widersprechen, wenn ich an solche Dinge wie die Transzendenz im weitesten Sinne des Wortes denke, was ja nicht nur ein Begriff der Religion ist. Es zielt auf jenes "Gutsein", und Sokrates vor allen hat doch gezeigt, was das konsequente Anerkennen der Unbeantwortbarkeit dieser durch nichts zu vermeidender Fragen bedeutet (...)
DJ: Eine Art Initialzündung erfuhr Ihr philosophischer Lebensweg in der Begegnung mit dem jungen Dozenten Martin Heidegger in Freiburg. War auch dieser junge Heidegger so eine Art Sokrates, der seine Schüler in Aporie zwang, um sie so zum Selberdenken zu bewegen?
HGG: Sicher, in einer Hinsicht schon. Ich glaube auch, daß die sokratische Gesprächsführung immer in dieselben Aporien führt. Jene neue Art des Argumentierens, die uns unter dem Titel Sophistik bekannt ist, hatte ja tatsächlich den Anschein erweckt, als wäre hier ein Instrumentarium gegeben, das alle möglichen Fragen beantwortet. Und dann hat Sokrates gezeigt, daß das zumindest für das Gute nicht zutrifft, denn das ist nichts, was für uns ohne weiteres definierbar ist. Der platonische Sokrates findet dafür nur den Vergleich mit der Sonne. Die Menschen der zerfallenen athenischen Demokratie sahen in ihm freilich jemanden, der all das, was man für wahr hielt, anzweifelte.
DJ: Einen Spielverderber sozusagen? Jemand, der nicht der political correctness entsprach, die damals eben weitgehend von den Sophisten bestimmt wurde, von Gelehrten also, die gegen Bezahlung "die Wahrheit lehrten"? So wie es ja auch immer noch Leser geben soll, die in Ihrem wohl bekanntesten Werk "Wahrheit und Methode" so etwas wie eine erlernbare Methode, eine Technik der Wahrheit suchen?
HGG: (lacht)Ja, ja... Aber erinnern wir uns doch einmal an jenes Pathos der Naturwissenschaften zu Beginn dieses Jahrhunderts. Welche Faszinationskraft ging plötzlich von der Physik, von Einstein und Planck aus! Ich glaube zu sehen, daß die moderne Wissenschaft sich in der Aufgabe verzehrt hat, die christliche Religion verständlich zu machen. Was hat sich hier, zu Beginn unseres Jahrhunderts, geändert? Es hat sich im wesentlichen geändert, daß die Mathematik und die aus ihr abgezogenen Konsequenzen - ohne Erfahrungsbestätigung - die Grundlage der modernen Wissenschaften bilden. Wir sehen überall die Konstruktionsmöglichkeiten und nirgends mehr die Folgen.
DJ: So daß auch das Wort in den digitalen Technologien zunehmend mathematisch wird, eine Ausdrucksform der Zahl, also der Konstruktion?
HGG: Ja, aber wir sollten doch nicht glauben, daß das Internet oder das Englisch der Geschäftswelt je die Muttersprachen ersetzen werden!
DJ: Neben der Frage nach einem Verstehen, das keine Frage der Technik oder der Methode ist und neben dem lebendigen, stets auf Vergegenwärtigung zielenden Dialog mit unseren griechischen Vordenkern, hat Sie auch von Beginn an die Rolle und Herausforderung der Kunst beschäftigt?
HGG: Ja, weil da auch etwas ist, was man nicht übertreffen kann. Jedes Kunstwerk ist schon ein 'Jenseits', etwas, das mit uns geht, das uns bleibt. Das Kunstwerk hat diese Kraft: Man bleibt sozusagen betroffen stehen, daß es so etwas gibt. Die künstlerische Erkenntnis überrascht uns immer wieder durch Werke, zu denen wir immer wieder zurückkehren. Dann ist es auch so, daß mir in der Begegnung mit der Kunst immer wieder klar geworden ist, daß es hier nicht in demselben Sinne Fortschritt geben kann wie in den Wissenschaften...
DJ: ...jeder fände die Behauptung absurd, daß Wagner gegenüber Bach "ein Fortschritt" sei...
HGG: Eben. In der Musik wird das besonders deutlich. Ja, in der Kunst wird der Beweis vermißt, das ist es...
DJ: Jedes Philosophieren ist eine Form der Seinserinnerung, schreiben sie einmal. Welche Rolle spielte in Ihrer Andenkenarbeit der große Dichter des Erinnerns, Friedrich Hölderlin?
HGG: Eine große und - das weiß ich noch genau - nicht erst von Heidegger her. Also, zu Goethe bin ich erst später gekommen, Schiller schon früher... Nun, die Art wie Hölderlin für mich da war, war gewiß eine andere als bei Heidegger. Für ihn ist Hölderlin ja die letzte Stufe auf seiner Gottsuche...
DJ: Hölderlin kommt am weitesten her, schreibt Heidegger...
HGG: Eben, aber man kann sich letztlich nicht auswählen, was man lernt. Trotzdem würde ich sagen, daß dies für mich noch nicht der Weg war. Nun muß man sagen - die Menschen sehen das ja im allgemeinen nicht, was ein so genialer Denker wie Heidegger mit sich selbst abzumachen hatte - daß ein Mensch mit diesem Verstand sich in bestimmter Hinsicht selbst betrügen mußte. Und das tat er ja auch reichlich.
DJ: Im Gegensatz zu Heidegger, der seine Kritik an der überlieferten Metaphysik mit Vorliebe an Platon festmachte, begegnet uns bei Hans-Georg Gadamer ein ganz anderer, ein sehr sokratischer Platon. Kein Ahnherr der neuzeitlichen Rationalität oder einer unüberbrückbaren Zwei-Welten-Lehre, sondern ein rastlos Suchender?
HGG: Nun, Sie dürfen nicht vergessen, auch wenn es vermessen klingen mag, daß selbst der genialste Mensch seine bevorzugten und seine weniger klar gesehenen Dinge hat. Und Heidegger war zunächst einmal der großartige Entdecker des Aristoteles, eines Aristoteles gegen Thomas von Aquin und die kirchliche Dogmatik, des "ersten Phänomenologen" Aristoteles eben. Heidegger hat dann in Marburg sehr bald auch Platon mit einbezogen, und da gab es dann zum Teil sehr große Annäherungen. Trotzdem hat sich das - vor allem in den Nietzsche-Vorlesungen - für ihn immer wieder verdunkelt. Ich würde also sagen: Heidegger hat mit einer wunderbaren Kraft seinen Aristoteles zu neuem Leben erweckt.
DJ: Unmittelbar nach 1945 wurden Sie Rektor der Leipziger Universität. In Ihrer Rede begrüßten Sie die Öffnung für junge Werktätige, erinnerten aber vor allem an den 'humanistischen' Humboldtschen Universitätsgedanken, an den Stellenwert eines nicht vernutzbaren und instrumentalisierbaren Fragens, Forschens und Besinnens. Könnte man in diesen inhaltlichen Schwerpunkten nicht gewisse Parallelen zu jener Rektoratsrede Heideggers erkennen, der allerdings ein so verhängnisvolles Schicksal beschieden war?
HGG: Auch wenn Heidegger das von wenigen Sachen gesagt hätte, die ich getan habe - aber in diesen Dingen hätte er mit Sicherheit gesagt: "Das hätte Gadamer besser gemacht..."
DJ: In Ihren Gesammelten Schriften, die nun als Sonderausgabe auch einem größeren Interessentenkreis zugänglich werden, überwiegt, wie mir immer wieder aufgefallen ist, die Form der Rede, des Vortrags, also des gesprochenen Worts im weitesten Sinne.
HGG: Zweifellos ist es so geworden... Ich hatte als Privatdozent meine Vorlesungen immer ausgearbeitet und vorgelesen. In dem Augenblick, als ich nach Leipzig kam, habe ich gesehen: Ich mußte frei sprechen. Auch das Griechische ist ja, wie wir wissen, der gesprochenen Sprache noch viel näher...
DJ: ...nun hat es mit dem gesprochenen Wort bei Gadamer ja noch eine besondere Bewandtnis. Dort wo zwischen die Suche des Wortes und dem gesprochenen Wort keine Zwischeninstanz - wie die Schrift - mehr tritt, da hat man oft den Eindruck, daß Ihr Andenken noch eine besondere Kraft und gesteigerte Präsenz gewinnt. Ist diese Suche des Wortes, wie Sie gelegentlich formulieren, erst das eigentliche Sprechen?
HGG: Das denke ich. Und diese Suche des Wortes ist es, die den anderen erst zum Denken bringt, ihn "mitdenken" läßt. Daher der unvergleichliche Vorrang der direkten Rede, wo der Antwortende wirklich auf die Worte "antwortet". Ich bin mir völlig bewußt, daß wir durch das Schreiben einen sehr großen Teil der Verständigung erst einmal preisgeben, und das müssen wir dann durch die Kunst des Schreibens zu überwinden wissen - oder auch nicht. Noch anders ist es in der Musik, da klingt es ja mit einem mit...
DJ: ...während die Schriftkultur, ich komme noch einmal darauf zurück, nicht ohne eine gewisse Zwangsläufigkeit zu den heutigen Informations-Technologien führte, wo oft schneller geantwortet wird als wir fragen können bzw. noch bevor wir das Fragen gelernt haben?
HGG: Aber wir können uns damit trösten, daß wir das Sprechen in jedem Fall erst noch lernen müssen. Man fängt auch in absehbarer Zukunft nicht mit dem Internet an. Die Mutter oder das Kind, die mit dem Internet anfangen, wird es nicht geben. Es wird am Anfang immer eine Muttersprache sein...
DJ: 'Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache', lautet eine der bekanntesten - und umstrittensten - Thesen von Hans-Georg Gadamer. Im Zeitalter der Programmiersprachen scheint dieser Begriff erläuterungsbedürftig...
HGG: Ja, das ist es. Das ist ein ständig von meinen Kritikern - und mir selber - bedachter Satz. Was ich ursprünglich sagen wollte, ist: Sein, das verstanden werden kann, fängt an zu uns zu sprechen. Das ist doch das Gespräch, das wir führen...
DJ: Und das wir immer schon sind...
HGG: ...das habe ich gemeint. Die Satzlogik der Wissenschaften hingegen, eine Logik des "richtigen" Aussagens, erst recht Informationstechniken, sind von vorneherein Formen einer gestutzten Erfahrung.
DJ: Es geht weniger um eine Technik des Aussagens, sondern um das Herzenswort, das wirklich Gemeinte, das verbum interius? Steht da auch ein stückweit christliche Wort- und Liebestheologie im Hintergrund? "Wir verstehen, wo wir lieben", sagt Augustinus einmal, mit dessen Schriften Sie sich früh und gründlich auseinandergesetzt haben.
HGG: Zweifellos ist Augustins, insbesondere sein "De Trinitate", ein Hauptwerk für mich gewesen. Da kam mancher Anstoß her, ja...
DJ: Sie fanden als philosophischer Lehrer früh namhafte Schüler und konnten in Heidelberg bedeutende Berufungen fördern, etwa von zwei so unterschiedlichen Denkern wie Karl Löwith oder Jürgen Habermas. Ihr Einfluß in der internationalen akademischen Welt ist nach Ihrer Emeritierung 1968 nur gewachsen. Erstaunlich genug für jemanden, der Heideggers Satz, daß "die Wissenschaft nicht denkt", nie als vordergründige Polemik abgetan, sondern selbst immer wieder betont hat, daß die moderne Wissenschaft selbst zu einer Technik geworden ist.
HGG: Das Erstaunliche ist ja, das würde ich bei der Gelegenheit unterstreichen, daß keiner meiner Schüler durch eine Empfehlung von mir eine Professur erhalten hat, mit der einzigen Ausnahme von Volkmann-Schluck in Köln vielleicht. Darauf kommt es auch gar nicht an, es kommt darauf an, daß sie frei denken wollen, ins Offene hinein denken wollen. Allerdings muß man von der akademischen Welt im Augenblick sagen, daß ein trauriger Verfall stattfindet. Man muß sich auch fragen, ob man talentierten jungen Menschen heute wirklich noch empfehlen kann, den akademischen Weg zu gehen - auch wenn ich nicht weiß, was sie stattdessen tun können.
DJ: Nietzsche verkündete uns den Verlust Gottes, Rilke den Verlust der Natur und 'der Dinge', Botho Strauß beobachtet den Verlust des Sozialen. Droht uns nun am Ende unserer unheilvollen Heilsgeschichte so etwas wie der Verlust des Bewußtseins vom Stellenwert von Kultur, vom Rang ursprünglicher geistiger Erfahrung überhaupt? Sind Technik, Wissenschaft und Ökonomie in ihrer zunehmenden Amalgamierung zu unserer "letzten Kultur" geworden?
HGG: Aber das schlägt ja schon zurück. Ich glaube nicht, trotz aller unbestreitbaren Tendenzen in diese Richtung, daß es eine vereinheitlichte Weltsprache und Kultur geben wird. Ich glaube auch, daß sich eine neue Bildungsschicht herausbilden wird, auch in Amerika. Meine Erfahrungen bei Gastvorträgen in Amerika zeigen mir jedenfalls, daß es dort sehr viele junge Leute gibt, die das alles schon sehr langweilt, was ihnen heute geboten wird. Auch in Nordamerika wird man sich wieder viel mehr zum Humanismus hin orientieren...
DJ: Sie sehen eine keimende Sehnsucht nach neuen Spielen?
HGG: Ja, das denke ich. Leben muß hoffen - sonst lügt es.
Das Gespräch führte ich im Auftrag des Südwestrundfunks im Oktober 1999 im Philosophischen Seminar
am Marsiliusplatz in Heidelberg; Erstveröffentlichung im SWR, einer gekürzten Printfassung in der FRANKFURTER RUNDSCHAU
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