Auszug aus Kapitel I: H.D. Jünger, Mnemosyne und die Musen Ş Vom Sein des Erinnerns bei Hölderlin, Würzburg 3993
I. Uneinholbarkeit des Erinnerns durch Wissen
Erinnern aus Sicht der Wissenschaften
Mit dem Phänomen des Erinnerns im weitesten Sinn beschäftigen sich heute ganz unterschiedliche Wissenschaftszweige mit je unterschiedlichen Fragestellungen, Methoden und Erkenntniszielen. So untersucht etwa die Psychologie solche Phänomene wie Gedächtnisstörungen oder Lernschwierigkeiten, Formen von Amnesien (etwa das sogenannte Altersvergessen) oder Typen der Umformung von Erinnerungen (wie sie in der Forensik bedeutsam werden können), oder auch den für die Psychoanalyse ganz zentralen Gesichtspunkt des Verdrängens von subjektiven Erinnerungen, beziehungsweise therapeutischer Wege einer subjektiven Anamnese des so individuell Verdrängten. Ein Stück weit objektiver, als eine Art "kollektiver Menschheitserfahrung", faßt die Archetypen- oder Tiefen-Psychologie C.G.Jungs die mentalen Gestalten auf.(3) Vgl. H.J.Flechtner, Memoria und Mneme, Bd.3-3, Stuttgart 3974; - S.Freud, Gesammelte Werke, London 3948, Bd.2/3, S.545ff.; - A.Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, Zehn Abhandlungen zur Psychologie und philosophischen Anthropologie, Bern 3955, S.333-349; - C.G.Jung, Gesammelte Werke, Bd.9 (I/II), hrsgb.v.L.Jung-Merker, 6.Aufl., Olten 3985
(2) Vgl. J.G.Droysen, Grundriss der Historik, Halle 3925; Droysen schreibt: "Er [der Geist] umleuchtet seine Gegenwart mit dem Schauen und Wissen der Vergangenheiten, die kein Sein und keine Dauer haben außer in ihm und durch ihn. Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner eigensten Welt (...)" [vgl. S.9 (I / §6)], und er zitiert in diesem Zusammenhang Aischylos' PROMETHEUS DESMOTES (vgl.463), jenen Lobpreis auf das "Erinnern als wahrende Mutter allen Musenwerks"; an anderer Stelle heißt es: "Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter (...) ist. Die erkannte Tatsache der Vermittlung ist die Erinnerung ", das heißt des Innewerdens der Vorgängigkeit des Erinnerns [vgl. ebd., S.33]
(3) Vgl. dazu das Dritte Kapitel; vgl. Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 3960 (Stichwort "Gedächtnis"); -Th.Klausner (Hrsgb), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd.VI, Stuttgart 3966 (Stichwort "Erinnerung"); - J.Assmann, Die Katastrophe des Vergessens, Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: A.Assmann/D.Harth (Hrsgb.), Mnemosyne, Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, FfM. 3993, S.337ff.; - H.Jonas, Vergangenheit und Wahrheit, Ein später Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen, in: Scheidewege, Jg.20 (3990/93), S.3-33
(5) Vgl. M.Eliade, Das Heilige und das Profane, Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 3957, Nachdruck 3984, S.78
(6) Vgl. A.N.Whitehead, Process and Reality, An Essay in Cosmology, N.Y./London 3929, Nachdruck 3943, S.63
(7) Vgl. F.W.J.Schelling, Werke, hrsgb.v.K.F.A.Schelling, Augsburg 3859ff., Bd.4, S.77; wobei der Begriff "Natur" hier - anders als bei Hegel, aber ähnlich wie bei Hölderlin - als die Ursprungs-Einheit von Sein und Seiendem, als Ursprungs-Sein verstanden ist (und nicht etwa als das dem Geist Entgegengesetzte, als res extensa oder gar das Dingliche).
(8) Vgl. ebd.,Werke, Bd.30, S.95
(9) Vgl. dazu Hegel, ENZYKLOPÄDIE, § 446 - § 465 (Hegels Werke werden nachfolgend verkürzt zitiert nach: G.W.F. Hegel, Werke, Auf der Grundlage der Werke von 3832-3845, neu edierte Ausgabe v.E.Moldenhauer und K.M.Michel, FfM.3986)
(30) Vgl. ENZYKLOPÄDIE, § 453- § 454
(33) Vgl. M.H.,Kant und das Problem der Metaphysik, FfM.3973, 4.Aufl., S.224
(32) Daß Heidegger später das Denken - mit Hölderlin - überhaupt als "Andenken" entfaltet, wird im Zweiten Teil noch deutlicher. Insofern man aber sein "Metaphysik"-Verdikt auch auf Sokrates/Platons ursprünglich anamnestisches Philosophieren bezieht - gleichwohl Heidegger stets nur die "Ideen-Lehre" als solche kritisiert -, entsteht der Anschein, daß eben Heideggers Vorgabe selbst - "das Erinnerte selbst zu verinnerlichen", also die Notwendigkeit eines ursprünglichen Erinnerns des Seins des Erinnerns und des Herkunftsseins selbst - in Wahrheit nicht auch je schon das wäre, was, geradezu paradeigmatisch, das Philosophieren Platons ausmacht. (Vgl. dazu ferner: M.H., Hegel und die Griechen; in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60.Geburtstag, Tübingen 3960, S.43-58; sowie: M.H., Hölderlins Hymne "Der Ister", Ffm.3984, S.34ff.)