Nach diesem Modell darf man sich den rätselhaften
Vorgang des Erinnerns so vorstellen, daß die "äußeren
Dinge" irgendwie "Eindrücke" (auch Spuren,
Abbilder oder eben Engramme genannt) im Gehirn
des Menschen "hinterlassen". Diese Eindrücke werden,
so die moderne High-Tech-Version dieser sehr alten Wachstafel-Analogie, wie in einem Computer "gespeichert" und bei
Bedarf "abgerufen". So wie ein Fotokopiergerät
Abbilder von einer Vorlage erzeugt oder ein Videogerät Bilder
und Töne aufnimmt und wiedergibt, so soll nach diesem Modell im
Grunde auch das menschliche Erinnern funktionieren. Aber "funktioniert"
es wirklich so?
Daß der Mensch, wie es der inneren Logik
dieses Modells entspricht, innerlich leer als tabula
rasa geboren wird und erst die "äußeren Dinge"
diese leere Tafel "beschreiben", er also solange
neuronale Eindrücke erhält, bis diese Spuren früher
oder später (im Zuge der körperlichen Abbauprozesse) wieder
nach und nach "gelöscht" werden, so daß man die Welt
auch wieder leer verläßt - das erscheint eine verblüffend
einfache, einprägsame und vielen Wissenschaften
sogar eine völlig hinreichende Erklärung des
Erinnerns (und des Vergessens).
Doch wie kommt es wirklich zu dieser Aufnahme
von Eindrücken? Wie wird etwa aus einem materiellen
Ding, wie zum Beispiel einem von Hand behauenen Stein, das innere
Bild dieses Dinges, denn wir haben ja nicht den mit Händen
greifbaren Stein im Kopf, sondern eine Art Bild, das uns, im
genannten Beispiel, sogar an das Antlitz eines bestimmten
Menschen wiedererinnern kann? Auch sehen wir ja
selbst dann noch diese Bilder, wenn wir die Augen
schließen, sogar im Schlaf. Und was heißt überhaupt "Bild"?
Diese inneren Gebilde bestehen ja keineswegs nur aus Sichtbarem,
sondern ebenso aus Tönen, taktilen Werten, Geschmäcken, Gerüchen,
ja sogar aus solchen Charakteren - wie etwa Zahlen oder
Kategorien -, die als solche doch gar nicht mit den Sinnesorganen
wahrzunehmen sind.
Wie auch kommt es zum "Löschen"
dieser lebendigen und oft auch höchst eigenmächtigen Gestalten,
die das Reich des Erinnerns bewohnen und angeblich bloße Abbilder
oder Eindrücke sind? Ganz anders als in der Welt der
technischen Erfindungen erscheint dies Vergessen häufig als ein
sukzessives Verblassen, manchmal auch als ein plötzlicher
Wegfall. Doch andererseits erscheinen ebenso plötzlich längst
vergessen geglaubte innere Gestalten in aller Ursprünglichkeit
und Unberührtheit wieder. Wie ist das möglich? - Dies sind
Fragen, die sich auf der Basis des Engramm-Modells allein deshalb
nicht beantworten lassen, weil dort erst gar nicht danach gefragt
wird, weil man dort in Wahrheit gar nicht nach dem herkünftigen Sein
des Erinnerns fragt, sondern allenfalls modellhaft nach dem
zeichenhaft und sekundär erworbenen Gedächtnis.
Auf diesen wesentlichen Unterschied macht schon
Aristoteles´ Schrift PERI MNÉMES KAI ANAMNÉSEOS aufmerksam, wo
zwar das Gedächtnis (bei ihm: mnéme) -
ganz im Sinne des besprochenen Engramm-Modells - als das "Behalten
von Wahrnehmungen (Engrammen)", das Erinnern (anámnesis)
hingegen, im Grundansatz mit Platon, als ein wesenhaft anderer
und diesem empirischen Aufnehmen von Eindrücken ontisch
vorausliegender Prozeß, als vorgängige Erscheinung (hypárchonta)
aufgefaßt wird: "Denn wenn man zum erstenmal etwas
lernt oder fühlt, dann nimmt man nicht das Gedächtnis wieder
auf (weil dieses noch gar nicht vorangegangen ist), sondern hebt
es aus dem vorgängigen Grund des Geistes selbst (ex árches lambánei)."
Das Erinnern selbst jedenfalls gibt zu
verstehen: So wenig ein Computer existentiell und
vorgängig, aus sich selbst heraus erinnert, so wenig läßt sich
jenes herkünftige und unmittelbare Erinnern (Anamnesis) mit äußerlichen,
formalen Analogiebildungen zur Welt der Technik erklären,
geschweige denn in seinem Sein erfahren und verstehen. Das
Erinnern ist überhaupt kein quantitatives und quantifizierbares
Phänomen. Auch mnemotechnische
Rekordleistungen, wie etwa das
Auswendig-Lernen ganzer Lexika oder Telefonbücher, und was
dergleichen mehr nicht nur das Fernsehpublikum "beeindruckt",
haben an sich mit inwendigem Erinnern gar nichts zu tun. Man kann
diese "kleinen ganzen Welten" in uns nicht messen,
berechnen oder, wie Zeichen und Daten, in Bits
aufteilen. Die eigentliche mnéme ist viel mehr, etwas
viel Kostbareres als solche Datenkenntnisse, wie sie freilich häufig
in der empirischen Psychologie allen Ernstes zur Feststellung des
Gedächtnisses oder gar der Intelligenz oder des Erinnerungsvermögens
eines Menschen abgefragt werden:
"Es verrät die ganze (...) Hilflosigkeit
der experimentellen Richtung in der Psychologie (...), daß sie
das Gedächtnis der Menschen durch Aufgaben, wie das Erlernen von
Buchstaben, mehrziffrigen Zahlen, zusammenhanglosen Worten prüfen
zu können glauben. An das eigentliche Gedächtnis, das in
Betracht kommt, wenn ein Mensch die Summe seines Lebens zieht,
reichen diese Versuche so wenig heran, daß man sich zu der Frage
gedrängt sieht, ob jene fleißigen Experimentatoren von der
Existenz dieses anderen Gedächtnisses, ja eines psychischen
Lebens überhaupt, etwas wissen (...)"
Man kann die naheliegende Antwort, die das
Engramm-Modell dem fragenden Erinnern anbietet - ohne überhaupt
die Frage, die das Erinnern selbst aufwirft, wirklich
wahrzunehmen -, für den Zweck eines hermeneutischen, selbst
erinnernden Fragens nach dem Erinnern erst einmal getrost
vergessen. Es gilt erst die "Frage des Erinnerns" überhaupt
in ihrem Fragen wahrzunehmen. Man muß sich dazu nur in
Erinnerung rufen, daß auch in dem Wort "Gedächtnis" -
gleichwohl es sich als terminus technicus in bestimmter Hinsicht,
wie schon zu sehen war, vom herkünftigen Erinnern unterscheiden
läßt - zunächst gar nichts Mechanisches, sondern ursprünglich
so etwas Schöpferisches wie das
Denken steckt. Denken aber gehört in den Bereich des
Dankens, Gedenkens und Andenkens, also des herkünftigen
Erinnerns. Im Wort "Erinnern" selbst aber steckt, wie
schon angedeutet, im Kern jene "Er-Innerung" als jener
ereignishafte Zuruf eines Unvergeßlichen.
Allerdings ist dieser ursprünglich mnemische
Charakter des Denkens als Andenken offenkundig von weither
verdeckt und verstellt. Nicht nur durch die bereits angesprochene
alltägliche Indifferenz gegenüber dem Erinnern und die Selbstverständlichkeit
des Vergessens, nicht nur durch das eingebildete Vielwissen
allgemein und die wilden,
mest technokratischen Analogiebildungen der modernen
Naturwissenschaften im besonderen, sondern grundlegender noch
scheint dieser fragende und fragwürdige Ruf des herkünftigen
Erinnerns durch jene subjektzentristische Welthabe verdeckt,
wonach das Erinnern nur als ein Moment des je eigenen "Selbstbewußtseins"
erscheint. Wo sich ein fraglos überaus vergeßliches
menschliches Selbstbewußtsein aber schon von vorneherein souveräne
Selbstverfügung zuspricht, dort gerät zwangsläufig das
Erinnern als "Er-Innern" - und mit ihm das Staunen - in
Vergessenheit. Dieser anthropozentrischen Haltung zum Sein darf,
abgesehen von sich selber, nichts heilig, das heißt eigenständig
und unfaßbar sein. So scheint eine teuthische Zivilisation in
der Tat emsig daran zu arbeiten, ihre Agenturen der
Seinsvergessenheit zu perfektionieren. Doch aufwirft das herkünftige
Sein des Erinnerns selbst - allem Wissen, aller curiositas
und aller Vergessenheit zum Trotz - das ursprünglich Fragen und
Staunen nicht immer wieder neu? Baut sich das, was die
Wissenschaft an fragendem Sein vor sich wegschaufelt und so der
Vergessenheit übergibt, hinter ihrem Rücken nicht als ebenso
machtvolles Fragen sogleich wieder auf?
Anmerkungen:
(33) Vgl.
H.-G.Gadamer, "Die Kontinuität der Geschichte und der
Augenblick der Existenz", in: Werke, Bd.2, S.343
(34) Vgl.
F.Nietzsche, Werke, hrsgb.v.K.Schlechta, München 3956, Bd.3, S.233
(Vom Nutzen und Nachteil der Historie)
(35) zit.n.D.Ritschl,
Gedächtnis und Antizipation; in: J.Assmann/T.Hölscher, Kultur
und Gedächtnis, FfM. 3988, S.53
(36) Vgl.
dazu Flechtner, Memoria und Mneme,a.a.O.
(37) Mit
dieser Wachstafel-Vorstellung setzt sich Platon ausführlicher im
THEAITETOS auseinander (vgl.390e-397a); Vgl. auch: Aristoteles,
Met.980a27-983a2
(38) Vgl.Aristotelis
Opera, Ed. Ac.Regia Borussica (J.Bekker), Berlin 3833, Neuabdruck
Darmstadt 3960, S.453 (vgl. dazu auch Met. AI ). Da es
nachfolgend nicht um dieses reproduzierende Gedächtnis und das
"Behalten", sondern ausschließlich um diese vorgängige
(herkünftige) Anamnesis geht, wird nachfolgend auch der Begriff mnéme
nicht in diesem aristotelischen Sinne des Behaltens,
sondern, gemäß dem platonischen Sprachgebrauch, als völliges
Synonym für anámnesis verwendet.
(39) Die
sogenannte Mnemotechnik ist eben eine Technik, sie
dient als solche gar nicht der mnéme, dem herkünftigen
Erinnern, sondern der (quantitativen) Merkfähigkeit durch meist
anschauliche Gedächtnisstützen, im Volksmund auch
Eselsbrücken genannt. (vgl.dazu Pauly-Wissowa,
Stichwort "Mnemotechnik"; - Yates,F., The Art of Memory,
London 3966)
(20) Vgl.O.
Weininger, Geschlecht und Charakter,Wien 3905, 7.Aufl., S346f.; -Vgl.
dazu auch Wellek,A., Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie,a.a.O.,
S.333f.