Um dieses staunende Fragen nach dem Sein des
Erinnerns, welches das Erinnern, wenn es sich seiner innewird,
selbst aufwirft, überhaupt als Fragen deutlicher zu vernehmen,
kann eine nähere Betrachtung der Darlegungen zum herkünftigen
Erinnern (bei Augustinus: memoria) im Zehnten Buch von
Augustinus' CONFESSIONES hilfreich sein.
Bei seinen Wanderungen durch das
Inwendige des Gebäudes des Erinnerns stellt
Augustinus voller Erstaunen fest: "(...) auch in Finsternis
und Stille verweilend, erwecke ich, wenn ich will, in meinem
Erinnern Farben (...), bei ruhender Zunge und schweigender Kehle
singe ich, so viel ich will" (vgl.8,33). In der Tat
kann man im "stummen" und "stillen" Erinnern
singen, wie man ohne weiteres selbst leicht überprüfen kann.
Welch eine geheimnisvolle, im allgemeinen vergessene und
verborgene innere Welt, die tönt und spricht, und die man doch
nicht mit den Ohren hört; die zu sehen, zu schmecken, zu riechen
und zu fühlen ist, und die man doch nicht mit dem Auge sehen,
mit dem Mund schmecken, mit der Nase riechen und mit den Händen
erfassen kann. "Man kann hundertmal das Wort 'Honig' sagen,
es wird nicht süß auf der Zunge", heißt ein Sprichwort,
das sagt, daß die Worte, die Sprache, diese inneren Gestalten
nicht sind. Wohl aber kann man - wenngleich nicht ohne weiteres
willkürlich - im Erinnern den Geschmack von Honig vergegenwärtigen.
Das Erinnern scheint insofern jener "sechste Sinn", der
eigentliche Allgemeinsinn zu sein.
"Dort begegne ich auch mir selbst und
erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und
was ich bei diesem Tun empfunden (...) Dort ist alles, wessen ich
mich entsinne, sei es von mir erlebt oder daß ich es von anderen
erfahren habe. Aus derselben Masse hervor verknüpfe ich mir
selber auch immer neue Bilder erlebter (...) Dinge mit
vergangenen zu einem Gefüge und erwäge aufgrund dessen auch
schon künftiges Tun, wie es aussehen mag, was sich hoffen läßt,
und wiederum ist dies alles wie gegenwärtig vor meinem Geiste."
(8,34) Das Erinnern umfaßt also auch immer schon die
selbst-reflexiven, die je schon inwendigen Wahrnehmungen.
Erinnern ermöglicht die Verknüpfung und so überhaupt erst das
Herstellen sinnhafter Zusammenhänge zwischen den verschiedensten
Erinnerungsgestalten selbst. Erinnern ernährt gleichzeitig, wie
Augustinus hervorhebt, das Nach-Vorne-Schauen, die Hoffnungsfähigkeit,
welche in der Tat nicht einfach die schiere Negation alles Je-Dagewesenen
und selbst nicht jenseits des Seins des Erinnerns ist, sondern
sich vielmehr in diesem bewegt, sich aus diesem heraus am Leben
erhält. Das Erinnern stiftet insofern auch erst so etwas wie
eine personale Kontinuität und damit eine je
unverwechselbare Persönlichkeit.
"Da sind auch all die gelernten, noch
unversunkenen Dinge des Wissens und der Bildung, gleichsam tiefer
weg verstaut an noch inwärtigerem Ort - und doch nicht Ort
(...)" (9,36) "Ebenso enthält das Erinnern
von Zahlen und Maßen unzählige Verhältnisse und Gesetze [die 'mathematischen
Ideen'], deren keines je durch einen körperlichen Sinn ihm
eingeprägt worden, weil sie doch nicht farbig sind, nicht tönen
und nicht riechen, sich nicht schmecken und nicht tasten lassen.
Ich habe wohl, wenn die Rede davon war, den Schall der Worte gehört,
durch die sie bezeichnet werden; aber ein anderes sind diese
Worte, ein anderes jene Gegenstände. Denn die Worte klingen
anders im Griechischen, anders im Latein, die Gegenstände aber
sind weder griechisch noch lateinisch, noch überhaupt von
sprachlicher Art (...)"(32,39)
Nachdem Augustinus mit den noch unmittelbar
an Sensationen geknüpften (oder sensuellen)
Erinnerungsgestalten die Erörterung begonnen und im weiteren die
selbst-reflexiven Erinnerungen an je schon geist-immanente
Wahrnehmungen betrachtet hat, spricht er nunmehr den je schon
vorgängigen Bereich jener Erinnerungsgestalten an, die - wie
etwa die Allgemeinbegriffe, Kategorien oder "mathematischen
Ideen" - nicht durch einen körperlichen Sinn ins Reich des
Erinnerns gefunden haben können, sondern offenkundig immer schon,
wenngleich oft "ungeweckt", inwendig vorhanden sind.
Diese sind, wie Augustinus im Vorgriff auf den späteren
scholastischen Nominalismusstreit hervorhebt, keineswegs bloße
Nominalia, das heißt rein sprachliche Charaktere, sondern
durchaus Realia, also seinshafte Wesenheiten. Ihre Existenz
beginnt nicht erst mit dem Erlernen der Sprache, sondern dies
setzt (als Sprachkompetenz wie man heute sagen würde)
ihre Existenz vielmehr schon voraus. Freilich sind diese
Allgemeinbegriffe und Kategorien solche Realia, die nicht
schlechthin nicht-sprachlich sind, sondern sich vielmehr - als
"Schemata" im kantischen, beziehungsweise als kathólou
im aristotelischen Sinne - im "begrifflichen Begreifen"
wesenhaft vollenden und darin, anders als die "Ideen"
im platonischen Sinn, zu sich selbst finden.
Selbst ein vergleichsweiser einfacher
Klassenbegriff wie zum Beispiel "Obst" ist in gewisser
Hinsicht schon eine solche, je schon inwendige oder denkimmanente
Gestalt, denn weder wächst Obst selbst an einem Baum
(sondern dort wachsen Äpfel, Birnen oder Kirschen), noch kann
man Obst an sich essen (sonst wüßte man zu sagen,
wie Obst an sich schmeckt, man weiß aber rein
sensuell nur soviel, daß Äpfel und Birnen ganz verschieden
schmecken). In einem noch strengeren Sinne als für derartige
Verallgemeinerungsbegriffe gilt das, was Augustinus
hier (in teils aristotelischer, teils platonischer Tradition) anführt,
aber für die eigentlichen, logisch nicht weiter ableitbaren Kategorien,
also die Grundstrukturen des Denkens wie Einheit, Vielheit,
Quantität, Qualität, Möglichkeit, Notwendigkeit etc. Was für
diese Denk-Kategorien schon richtig ist - daß sie der sensuellen
Erfahrung vorausliegende Realia sind -, gewinnt noch eine
ausgezeichnete Bedeutung für jene selbst nicht kategorialen,
sondern selbst seinshaften Wesenheiten oder Ideen im
eigentlich platonischen Sinn, die ganz offenkundig nicht sensuell
(oder sprachlich) erworben, sondern allein in wieder-erinnernder
unmittelbarer Erfahrung, also in ursprünglicher Anamnesis
erfahrbar sind. Diese "Urphänomene" oder
Ursprungserinnerungen sind - im Gegensatz zu den zwar sprach-vorgängigen,
doch in Hinblick auf ihren Charakter sich gleichwohl wesentlich
in Sprache entfaltenden Kategorien - selbst seinshafter Natur. So
hat die Idee des "Schönen-und-Guten" (kalós)
in verschiedenen Sprachen zwar ganz verschiedene Namen, doch die
Tatsache, daß die Idee "Schönheit-und-Gutheit" als
solche überhaupt und überall existiert, daß dem herkünftigen
Erinnern eine begriffslogisch und kategorial niemals ganz
einzuholende Urgestalt von diesem Schönen-und Guten
überhaupt innewohnt, zeigt, daß dies eine Wesenheit, eine
eigenständige Realität ist. Auch wenn die Wesenheiten Liebe
oder Wahrheit in allen Sprachen anders heißen, so
sind doch - durch alle Sprachen hindurch und völlig unabhängig
von der Sprache als Sprache - deren einwohnende
Ursprungserinnerungen immer schon real und anwesend, so daß etwa
durchaus auch ein blinder oder stummer Mensch ihrer teilhaftig
ist, aber auch jedes kategoriale Reflektieren dieses Sein in
seiner Realitätsfülle nicht einholen kann, sondern dieses
vielmehr seinerseits je schon als Maßstab, wie bewußt oder
unbewußt auch immer, zur Voraussetzung hat. Im Erinnern selbst
"wohnt" also demnach offenbar diese herkünftige "Idee"
- und vor allem auch die Idee eines Herkünftigen selbst. So führt
Augustinus' Versuch, das Sein des Erinnerns selbst
wiederzuerinnern, folgerichtig zu der entscheidenden Frage:
"Woher nun und auf welchem Wege traten
diese Dinge [die Realia, Ideen oder Herkunfts-Erinnerungen] in
mein Erinnern? Ich weiß nicht, wie's geschah. Denn als ich sie
kennenlernte, glaubte ich nicht einem fremden Geist, sondern
erkannte sie wieder in dem meinigen (in meo recognovi),
anerkannte sie als wahr und vertraute sie ihm an, als stellte ich
sie nur zurück an ihren Ort, um sie von da hervorzuholen, wann
ich wollte. Dort in meinem Geiste also waren sie, und schon bevor
ich sie kennengelernt (antequam ea didicissem); nur in meinem
Erinnern waren sie nicht [das meint hier: im aktuellen Gedächtnis,
im Bewußtsein, waren sie nicht] (...) Wo also denn? Oder warum
erkannte ich sie, als sie ausgesprochen wurden, und sagte mir: 'So
ist es. Es ist wahr'? Doch nur deshalb, weil sie bereits auch im
Erinnern waren, freilich noch so fern und tief verborgen,
gleichsam in entlegenen Höhlen (...) Also finden wir: jene Dinge
lernen, von denen wir nicht durch die Sinne Bilder schöpfen,
sondern die wir ohne das Mittel des Bildes, so wie sie sind, an
und durch sich selbst inwendig schauen (per se ipsa intus
cernimus), heißt nichts anderes, als daß wir das, was
ungesammelt und regellos im Erinnern enthalten war, nun verstehen
lernen, zusammenzulesen (...)" (30,37)
Jenseits der äußerlichen "Eindrücke"
des zuvor angesprochenen Engramm-Modells erscheint aus Augustinus'
inner-anamnestischer Perspektive das Lernen und Denken genuin als
ein je schon innewohnendes Erinnern; nicht als ein "Verschlingen"
von äußeren Dinge, Worten und Zeichen, sondern als ein
aufweckendes Wieder-Erinnern des je schon im Innern Schlummernden.
Demnach übergeht das angesprochene weitverbreitete tabula-rasa-Modell
nicht nur allzu großzügig ganze Regionen dieses Urphänomens
- nämlich alle jene Formen des Erinnerns, die ohnehin nicht
sensuell erworben sein können -, sondern es stellt den
Sachverhalt von Grund auf auf den Kopf, indem es das ursprünglich
je schon Erfüllte - die mit herkünftigem Erinnern je schon
begabte Seele - als "erst noch zu füllende Leere" in
sein Gegenteil verkehrt. Wenn dasjenige, was offenbar erst alles
gestalthafte und sinnerfüllte Erkennen ontisch ermöglicht, aber
derart gründlich entleert wird, heißt das jedoch nichts anderes,
als daß die Frage - und die eigentliche Aufgabe - des Erinnerns
überhaupt verkannt, ein herkünftiges Erinnern als solches für
obsolet erklärt wird. Es erweist sich die scheinbar eingängige
Antwort der Engramm-Ontologie selbst schon als
Ausdruck der Vergessenheit.
Allein, das als Sein tatsächlich wirkende
Erinnern - als das Ontische vor aller Ontologie - kümmert sich
selbst offenbar wenig um solche logischen Modelle, denn es selbst
"vergißt nicht" und "vergißt sich nicht",
es erinnert sich seiner weiterhin und fragt auch - durch uns
hindurch - weiter, so wie es auch in und durch Augustinus schon
"weiterfragt". Das herkünftige Sein des Erinnerns in
seiner wirklichen Lebendigkeit erweist sich bei näherer
Betrachtung gerade so "selbstverständlich" und gerade
soweit "erklärt" wie der tägliche Sonnenaufgang, das
Blühen einer Blume oder die fortwährende Entstehung von Leben.
Die erstaunlichsten Rätsel stecken im Nächstliegenden und
scheinbar Selbstverständlichen. Mit einem solchen
ursprünglichen Staunen (to
thaumázein) aber beginnt, wie
Aristoteles sagt, und endet zugleich, wie Platon hervorhebt,
jedes Philosophieren.
Ist es vielleicht deshalb so, weil dieses
Staunen der Selbstvollzug des ursprünglichen Erinnerns ist,
und weil Philosophieren im platonischen Verständnis Anamnesis,
Teilnahme an diesem erstaunlichen Sein ist? So daß man durchaus
sagen kann: wo kein solches Staunen ist, da ist auch kein
wirklich herkünftiges Erinnern und kein ursprüngliches
Philosophieren?
Um die Kostbarkeit und Bedeutung dieses in sich
inständigen Erinnerns zu vergegenwärtigen, ist aber, wie man am
Beispiel des Augustinus sehen kann, ein Sich-Aufschließen
des Erinnerns in sich selbst für sich selbst erforderlich, denn
nur so "aufgeschlossen" vermag sich Erinnern in seinem
Sein als Sein allererst wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung ist ein
Staunen im und vor dem wieder-erinnerten Sein, von dem Augustinus
sagt: "(...) Groß ist die Macht meines Erinnerns, gewaltig
groß, o Gott, ein Inneres, so weit und grenzenlos. Wer ergründet
es in seiner ganzen Tiefe? Diese Kraft gehört meinem eigenen Ich
hier an, sie ist in meiner Natur gelegen, und gleichwohl fasse
ich selber nicht ganz, was ich bin. So ist die Seele zu eng sich
selbst zu fassen (ergo animus ad habendum se ipsum angustus est)?
Wo aber ist es, was sie an eigenem nicht fassen kann? Ist es etwa
außerhalb, nicht in ihr selbst? Wie also faßt sie es nicht? Ein
groß Verwundern überkommt mich da, lähmendes Staunen (stupor)
ergreift mich (...) (8,35)
Doch mit diesem "lähmenden Staunen"
angesichts der ursprünglich erfahrenen unhintergehbaren und
uneinholbaren Vorgängigkeit des Erinnerns kann und will sich,
zumindest in einer Hinsicht, der zum christlichen Glauben
bekehrte Augustinus - und nichts kennzeichnet deutlicher in aller
Nähe auch den Abstand vom Philosophieren eines Platon oder gar
vom Fassenkönnen dieses Erstaunlichen und
Aporetischen im anfänglichen olympischen Mythos - nicht abfinden.
Im Gegensatz zur teuthisch-verzauberten Neuzeit erstrebt
Augustinus nicht lediglich eitle Selbsterforschung der
menschlichen Vermögen, sondern er sucht die
unmittelbare Begegnung mit dem Inständigen selbst, mit dem Sein,
mit Gott. Doch erlaubt auch der neue, christliche Gott noch
dieses Staunen?
Nicht dieses Fragen nach dem Sein selbst - was
auch für Sokrates/Platon und den ursprünglichen olympischen
Mythos keineswegs weniger wesentlich ist - kennzeichnet den
Abstand, sondern eher die Tatsache, daß die ursprüngliche
lichte Weite und Gelassenheit des olympischen Kosmos, der noch für
so viele Wesenheiten und schwerzufassende Realitäten Platz hatte
und dem so viele Gegebenheiten noch ein "Gut" und ein
Geschenk waren, offenbar geschwunden ist und einem scheinbar
notgedrungenen Eifer des nunmehr ganz auf sich allein gestellten
Menschen gewichen scheint, dem alles Seinshafte, was ihm "unterwegs"
im herkünftigen Erinnern begegnet - und sei es die Realität des
grenzenlosen Erinnerns selbst -, als gleichsam "noch nicht göttlich
genug" erscheinen will.
Augustinus' Memoria-Verständnis zwischen
Phänomenologie und christlicher Theologie
Augustinus will, wie er selbst sagt, in seiner
Gottsuche auch "über das Erinnern noch hinaus" (vgl.37,26).
Doch was für ein Ort könnte ein solches Außerhalb
des Seins des Erinnerns sein, von dem umschlossen sich der
menschliche Geist je schon vorfindet, in dem selbst er doch, wofür
gerade Augustinus das beste Beispiel gibt, "ruhelos sucht",
bis er schließlich - und dies ist freilich die neue, die
christliche Hoffnung - "ruht in Gott"? Muß
ein solches "Außerhalb" oder "Darüberhinaus"
nicht notwendig der Eintritt in das Reich des Vergessens sein?
Sollte die von Augustinus so innig ersehnte Ruhe in Gott
zuletzt dies sein? Ist es tatsächlich der Wunsch nach Erlösung
vom ruhelosen Erinnern selbst, die Einkehr in die
Verschwiegenheit des Vergessens? Aber gibt es diese "Ruhe"?
Kann sich das Erinnern selbst vergessen?
Zweifellos liegt Augustinus eine solche
Konsequenz - gleichwohl sie in einer bestimmten Hinsicht durchaus
in der Logik einer jeden eschatologischen und auf "Erlösung"
ausgerichteten Religion liegt - zunächst fern, denn in
Wirklichkeit heißt dieses "über das Erinnern noch hinaus"
bei ihm ja keineswegs, daß er das tätige Erinnern
"einstellt", das "Erinnern vergißt", sondern
daß er, im Gegenteil, nur "noch tiefer", das heißt,
im meminissem dei Gott erinnern will. Doch auch dieses
meminissem dei ist ein meminissem dei, ist ein Erinnern
(wobei hier einmal die Frage, ob und inwiefern dieser gesuchte
christliche Gott ein möglicherweise je schon "voraus-gestellter"
ist, außer acht gelassen werden soll). Augustinus sucht Gott,
aber allein dieses "Suchen" heißt doch schon, daß er
tatsächlich selbst dort noch oder je schon
wieder erinnert, wo er glaubt, "darüber hinaus"
zu sein, denn außerhalb des Erinnerns, im Vergessen,
gibt es kein Suchen, da die Vergessenheit in der Tat das Nicht-Suchen
schlechthin ist (gleichgültig, ob man es nun als befreiendes
Nicht-Suchen-Müssen oder als tragisches Nicht-Suchen-Können
versteht). Wenn Gott also schon nicht außerhalb des Erinnerns
gesucht werden kann, kann er dann außerhalb gefunden
werden?
Gewiß heißt "Gott glauben" in
gewisser Hinsicht auch, wie Kierkegaard sagt, "das Unmögliche glauben", das heißt,
Gott als das, was auch das scheinbar Unmögliche möglich macht,
glauben. Insofern ist - bei Gott (oder genauer gesagt: im Glauben)
- alles möglich. Doch kann
sich dieser unerschütterliche Glaube als solcher (an
das "Möglichwerden des schlechthin Unmöglichen" im
Sinne Kierkegaards) denn in seinem realen Vollzug wirklich außerhalb
des Erinnerns, also im Vergessen, vollziehen, oder doch
allenfalls nur "an ihm vorbei"? Ist der Glaube selbst
am Ende - wie das Wissen auch - ein Gegenspieler eines
unmittelbaren Erinnerns, gar ein geheimer Verbündeter der
Vergessenheit? Ist vielleicht die "Gewißheit", Gott
"gefunden" zu haben, "in Gott zu ruhen" und
ihn ergo nicht mehr suchen zu müssen, nicht überhaupt
der Irrtum jedes positiven Glaubens, die dem unmittelbaren
Erinnern (das auch um die Vergessenheit weiß) selbst von Natur
her gerade fremd ist? Ist "Gott" als Ausdruck der Inständigkeit
als solcher wirklich etwas in diesem Sinne Verfügbares,
dessen man sich zu ermächtigen wüßte?
Diese Fragen wirft das Erinnern selbst dann auf,
wenn es sich seines eigenen Seins innebleibt. Gerade Augustinus
wird von diesem unveräußerlichen Fragen des Erinnerns selbst
umgetrieben und angespornt zum Suchen. Und so gewiß
jene tiefsten Schichten des Erinnerns, die Augustinus
sucht, das meminisse dei, tatsächlich einen anderen Grad der
Ursprünglichkeit des Erinnerns darstellt als etwa ein bloßes
Reflektieren dieses Phänomens oder gar ein allein im eigenen
"Ich" sich umhertreibendes Erinnern, so sehr
unterscheidet sich doch auch die wirklich ereignishaft erinnerte
Gottheit von der Erinnerung einer bestimmten, positiv und (vermeintlich)
verfügbar gewordenen Gottes-Vorstellung. Dies hat im
christlichen Zusammenhang - und weit darüberhinaus - vielleicht
niemand deutlicher erkannt als Meister Eckart, der allen Instrumentalisierungsversuchungen dieses
unmittelbaren Erfahrens entgegenhält, alle bloßen Vorstellungen
von Gott "fahren zu lassen", um sich so - "ledig,
abgeschieden und leer" - allererst dem wirklichen Zuspruch
und Anruf eines erfahrbaren Inständigen öffnen zu können.
So ist - bei aller brillanten phänomenologischen
Erhellung des Seins des Erinnerns und in Verbindung damit, im
Elften Buch der CONFESSIONES, des Wesens der Zeit
- nicht zu übersehen, daß Augustinus' "Bekenntnisse"
gleichwohl auch eine theologische Rechtfertigung der
erfahrenen Bekehrung bleiben, wenn auch auf weiten Strecken in
der ursprünglichen Form eines unmittelbaren Zwiegesprächs mit
und vor Gott als einem
"Du" (Buber). Das bedeutet
aber, daß die hermeneutische Selbsterfahrung des Erinnerns hier
übergeht in eine besondere christliche Theologie, daß
das ursprüngliche Erinnern des Seins des Erinnerns gleichsam
überwölbt wird von einer christlich-theologischen
Soteriologie und Dogmatik. Die Auseinandersetzung der
christlichen Kirche mit der Gnosis und dem "Heidentum"
bleibt auch bei Augustinus nicht ohne Auswirkung auf die Bewertung
des Seins des Erinnerns. Die ursprünglich mnemosynische Religion
ist nun einmal keine originär christliche und beginnt nicht erst
mit ihr (gleichwohl, wie in anderem Zusammenhang zu sehen ist,
auch Jesus wieder den Stellenwert eines unmittelbar mnemischen "re-ligari"
in Erinnerung ruft), sondern sie ist eine gleichsam unvordenkbare
Religiosität, wie sie freilich im olympischen Mythos eine
besonders tiefe Ausprägung gewonnen hat. Die sokratisch-platonische
Anamnesis-Philosophie ist nun einmal keine Leistung der
christlichen Theologie, sondern konnte in dieser Ursprünglichkeit
und Unbefangenheit wohl nur auf dem Boden einer solchen Welthabe
erwachsen, der zwischen Sein und Dasein noch kein Abgrund klaffte.
Woran eine, im Verlauf ihrer Geschichte
zunehmend positive und apologetische Formen annehmende
christliche Theologie in Hinblick auf Ausprägungen vor-christlicher
Religiosität Ärgernis nimmt, ist so vielleicht auch die
unhintergehbare Faktizität des herkünftigen Erinnerns selbst,
das nicht verstummende und sich selbst beständig
wiedererinnernde Erinnerungssein selbst, das ja zugleich auch
immer neu in Erinnerung ruft, daß es überhaupt ein "Davor"
und "Je-schon" gibt, was aufgrund des jüdisch-christlichen
Dogmas von der historisch-positiven Auffassung des durch die jüdische
beziehungsweise christliche Offenbarung gestifteten "Anfangs"
eigentlich gar nicht sein darf; ja sogar ein solches
oikumenisches Je-schon, das gleichsam als
fortwirkendes fruchtbares Ärgernis jedem allzu vermenschlichten
Glauben an bestimmte Gottes-Vorstellungen in Erinnerung ruft:
"Im Anfang war das Erinnern...", das heißt, die unübertragbare
und unhintergehbare Aufgabe des unmittelbaren Erinnerns selbst.
Ohne dieses aber bleiben auch die ursprünglichsten
Worte stumm, wird aus dem belebenden Geist jener "Buchstabe,
der tötet". Nietzsches Klageruf "Zwei Jahrtausende
beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!" ("Antichrist",
39.Stück) ist auch der Rückruf in eine solch unmittelbare
Seinsnähe, die dem neuzeitlichen Nihilismus gewachsen sein könnte.
Es bildet sich hier jener tiefgreifende Prozeß aus, den man den
Übergang von der kosmisch-mythischen zur anthropozentrischen
Welthabe genannt hat, in dessen Verlauf eine Wissenschaft
von Gott Schritt um Schritt die anwesende Wahrheit des
Seins und die unmittelbare Begegnung mit dem Erstaunlichen und
Unvergeßlichen verdrängt. Aus der Nähe zum Sein
wird eine Nähe zur Schrift, aus den Ursprungs-Mythen positives
Wissen und Glauben und aus dieser Not
schließlich, im abendländischen Nihilismus, eine Tugend.
Doch was späterer Orthodoxie vielfach als
heidnisch oder abgöttisch gilt, klingt
bei Augustinus selbst vorerst nur ganz zaghaft und als eine im
wesentlichen noch ursprünglich erfahrene Aporie an, in die
hinein den gewissenhaften Philosophen sozusagen der eifrige und
rechtgläubige Theologe stürzt. Es ist aber Augustinus selbst,
der sich im befragenden Gespräch vor Gott wiederholt gezwungen
sieht, die Möglichkeit einer göttlichen Anwesenheit und eines beata
vita außerhalb des Seins des Erinnerns überhaupt
zu verneinen, um gleichzeitig hervorzuheben, daß der notwendig
suchende Weg des Menschen kein anderer Weg sein kann als der
"Heimweg" des sich seiner Herkunft wiedererinnernden
Erinnerns:
"Aber ist es nicht dies Selige Leben (beata
vita), was sie alle wollen, und ist auch einer nur, der es nicht
will? Woher kennen sie es, daß sie es so sehnlich wünschen?
(...) Und ich mühe mich ab, zu ergründen, ob diese Kenntnis aus
Erinnerung kommt. Denn ist sie dort, so waren wir zu einer Zeit
schon einmal selig (...) Ich frage, ob wir das Selige Leben im
Erinnern haben. Denn wir liebten es ja nicht, wenn es uns
unbekannt wäre (...)" [20,29] "(...) Siehe, welchen
Raum ich durchmesse in meinem Erinnern, um Dich zu suchen, Herr,
und es war nicht außerhalb, wo ich Dich gefunden habe (et
non te inveni extra eam) (...)" (24, 35)
In Augustinus´ Erfahrung kann Gott also weder
außerhalb des Erinnerns gesucht noch gefunden werden.
Zu dieser Einsicht des non extra memoria gelangt
Augustinus bemerkenswerterweise nicht unmittelbar aufgrund seiner
platonischen Vergangenheit und heidnischen
Vorschule, sondern gerade im theologischen Versuch, diese
zu überwinden. Er, der nach eigenem Bekunden "alles
Wahre", was er "bei den Platonikern gelesen", bei
"Paulus wiedergefunden" hat, freilich mit dem
Unterschied, daß dieser erst den in allem entscheidenden "Gnadencharakter
Gottes (gratiae)" angemessen "zu preisen" verstehe
(vgl.Siebtes Buch, 23,27), kann deshalb zu diesem Urteil der
ontologisch (beziehungsweise theologisch) nicht einholbaren und
nicht relativierbaren Seinshaftigkeit des herkünftigen Erinnerns
gelangen, weil er selbst dieses Sein und dessen göttliche
Herkunft tatsächlich in ursprünglicher Anamnesis erfährt. Er
findet das Sein des Erinnerns gleichsam auch vor dem neuen,
christlichen Gott bestätigt, und - im wesentlichen - auch durch
das Zeugnis Jesu bezeugt. So muß das Erinnern selbst etwas
besonders Ursprüngliches und Göttliches sein, dem Augustinus in
seiner Trinitätstheologie insofern Rechnung trägt, als er die
christliche Dreifaltigkeit als Einheit von "memoria,
amor und intellegentia" deutet (vgl. De trinitatis 34,8ff.),
das herkünftige Sein des Erinnerns also gleichsam als die
tiefste Vergegenwärtigungsstufe des Göttlichen beziehungsweise
als "Analogon" zum Vater auffaßt
(während "die Liebe" Christus und "der Geist"
der Heilige Geist ist).
Vor diesem Hintergrund ist es aber in Wahrheit
auch kein bloßes "sprachliches Mißverständnis" und
kein bloßes Sophisma, wie häufiger zu lesen ist, wenn
Augustinus gerade auch die sogenannte Vergessens-Aporie
als Argument für die uneinholbare Vorgängigkeit des Seins des
Erinnerns anführt: "Wie aber, wenn ich Vergessenheit (oblivionem)
sage und auch hier erkenne, was ich sage? Wie erkenne ich die
Sache ohne Erinnern? (...) Wenn ich des Erinnerns gedenke, so ist
das Erinnern selber durch sich selber gegenwärtig; aber wenn ich
der Vergessenheit gedenke, so ist beides, Erinnern und
Vergessenheit, gegenwärtig: das Erinnern, durch das ich gedenke,
die Vergessenheit, deren ich gedenke. Aber was ist Vergessenheit
anderes als ein Ermangeln des Erinnerns (privatio memoriae)?
(...)" (36,24)
Obwohl Vergessenheit eigentlich die Abwesenheit
des Erinnerns selbst ist, kann man sich seltsamerweise zugleich
an eben diese Vergessenheit selbst (also an das "Nicht-Erinnern"
selbst) erinnern, ja, ebenso merkwürdig und ohne
weiteres auch im Alltäglichen erfahrbar, sogar den Tatbestand
des Vergessenhabens (also des "Nicht-Erinnerthabens")
als solchen erinnern, gerade so, als kennte und behütete das
einwohnende vorgängige Sein des Erinnerns in der Tat auch noch
die Vergessenheit als seine eigene (scheinbare) Abwesenheit. Das
Erinnern erhält und bewahrt sich also offenbar noch in und durch
seine eigene Abwesenheit (die Vergessenheit) hindurch seinshaft
als Erinnern. Das aber ist kein Sophisma oder bloßes
Wortspiel, sondern drückt den eigentlich
entscheidenden ontischen Vorrang des Erinnerns gegenüber dem
Vergessen, es drückt das Sein des Erinnerns als den vorgängigen
und unhintergehbaren "Ur-Grund" aus!
So wie Parmenides sich in seiner
Ursprungs-Schau erinnert: "Nicht-Sein ist nicht, sondern
eine 'Istigkeit' (ein Sein) ist", das heißt, das Inständige
selbst kann sein (eigenes) Nicht-Sein zwar denken, doch dasjenige,
was dies denkt, ist selbst immer schon und immer noch
eine Inständigkeit, so besagt Augustinus' Erfahrung: das Sein
des Erinnerns ist immer schon als der vorausliegende und
unhintergehbare Ur-Grund da, das heißt, ein Unvergeßliches
durchstimmt selbst noch seine eigene Vergessenheit. Das Sein des
Erinnerns schließt zwar in sich das Vergessen ein, erweist sich
aber noch in seiner Negation als das Inständige. Es ist
sozusagen jenes Sein, das in der Tat noch in seinem Nicht-Sein
"da" ist.
Diese seltsam gegenwendige und doch, zumindest
in ihrer einfachen Form, alltäglich vielfach erfahrbare Vergessens-Aporie
des Augustinus verweist im weiteren auch auf jene, im Zweiten
Kapitel noch näher zu betrachtende, sokratische Aporie des
Suchens, wonach es "unmöglich ist, etwas zu suchen,
was man nicht schon kennt" (vgl. MENON, 79e - 83 e). Suchen
setzt immer schon zweierlei voraus: eine Abwesenheit und
Vergessenheit des Gesuchten einerseits (denn sonst müßte man ja
gar nicht suchen), aber zugleich eine - dieser Abwesenheit und
dieser Vergessenheit ihrerseits notwendig noch vorausliegende -
ursprüngliche Je-schon-Anwesenheit im umgreifenden Erinnern (denn
sonst könnte man "es", das Gesuchte als dieses
Vergessene aber einstmals Erfahrene, gar nicht suchen). Würde
man das Gesuchte also vorgängig als das Unvergeßliche
nicht je schon erfahren haben, es gäbe gar kein Suchen; mehr
noch, es gäbe kein Vergessen und kein Erinnern, sondern nur eine
wahrhaft gespenstische "Ruhe".
Dies meint aber im gegebenen Zusammenhang auch:
Weste in der Vergessenheit selbst nicht schon von Natur her ein
Unvergeßliches, man könnte es nicht nur nicht
wiedererinnern, man könnte "es" nicht einmal vergessen
(denn dieses "es" wäre in diesem Fall völlig nichtig
und grundlos). So kann man in gewisser Hinsicht in der Tat sagen,
daß das Vergessen die Voraussetzung für das Erinnern (als Wieder-Erinnern) ist. Freilich ist die bei
Augustinus eigentlich entscheidende Einsicht die, daß ein vorgängig-umgreifendes
Unvergeßliches - nämlich dieses herkünftige Sein
des Erinnerns selbst als jene spätere unhintergehbare "Er-Innerung"
Hegels - wiederum die noch vorgängigere und selbst grundlose
Voraussetzung für dieses, das Suchen erst in Gang setzende
Vergessen ist. Das heißt aber: ein Unvergeßliches
anwest.
Um so verwunderlicher aber bleibt es, daß
Augustinus - trotz aller unmittelbaren und als unwiderlegbar
gefundenen Erfahrung der Seinshaftigkeit des Erinnerns - dennoch
vom Erinnern nur als einer Art "Durchgangsstation" auf
dem Weg zum christlichen Gott spricht, und wenn er, die Memoria-Betrachtungen
fast gewaltsam abschließend, in einiger Verlegenheit "gegen"
das Sein des Erinnerns nur indirekt jenes verhängnisvolle
anthropozentrische GENESIS-Wort von der besonderen Auserwähltheit
der Menschen und ihr "Herrschaftsrecht" (vgl.Gen 3,26)
anführt: "Hinaus will ich selbst über diese meine Kraft,
die Erinnern heißt, hinaus will ich über sie, um an Dich zu
reichen, süßes Licht! (...) Denn Erinnern haben Vieh und Vogel
auch, wie fänden sie sonst Nest und Lager wieder (...)" (37,26)
Zweifellos erinnern auch die Vögel, aber
sollte das wirklich gegen die Natur als jene hölderlinische
"Allinnigkeit", gegen das Erinnern und gegen Gott
sprechen? Die Antwort gibt wohl die Trinitätsschrift des
Augustinus.
Die kurzen Betrachtungen zum X. Buch von
Augustinus' CONFESSIONES sollten im gegebenen Zusammenhang nur an
die eigentliche Frage heranführen. Es ist hier nicht die Aufgabe,
jene mit den CONFESSIONES einsetzende christliche Theologie des
Erinnerns weiter zu verfolgen. Es gilt hier auch nicht über das
Erinnern "noch hinaus" zu gehen, sondern zunächst
weiter seinen Pfaden zu folgen und tapfer bei der hermeneutischen
Erfahrung dieses Geschehens zu verweilen. Die Gedanken des
Augustinus haben einige Fragen ans Licht gebracht, die
nachfolgend als solche noch etwas genauer zu erörtern, zumindest
in ihrer Fragwürdigkeit zu verdeutlichen sind: Ist die Zeit und
Geschichtlichkeit allein ein Resultat des Erinnerns oder ist das
Erinnern selbst nicht auch etwas Vergängliches und Endliches?
Wie ist es mit der vorgängigen Seinshaftigkeit des Erinnerns zu
vereinbaren, daß tatsächlich auch seine Abwesenheit,
das Vergessen, und vor allem das tatsächliche Vergessen des
Erinnerns selbst und die Seinsvergessenheit sind?
Diese Fragen, die, wie zu sehen war, das herkünftige
Erinnern selbst aufwirft, verweisen also insbesondere auf die
Zusammenhänge von Erinnern und Zeitlichkeit (beziehungsweise
Geschichtlichkeit), von Erinnern und Vergessen, aber auch auf das
zunächst wohl noch vordringlichere Problem des Zusammenhangs von
Erinnern und sinnlich gegebener Welt beziehungsweise
dem sinnlichen Wahrnehmen überhaupt, von dem her sich doch so
tiefgreifend das alltägliche Bewußtsein und die zeitgenössischen
Wissenschaften und Ontologien offen oder insgeheim je schon
leiten lassen, wenn die Frage nach dem gestellt wird, was "Wirklichkeit",
was Sein also sei.
Anmerkungen:
(23) Ich
folge hier weitgehend, aber nicht wörtlich der Übertragung von
J.Bernhart, Augustinus, Bekenntnisse, FfM. 3987
(22) Vgl.
K.Albert, Griechische Religion und Platonische Philosophie,
Hamburg 3980, S.78
(2) "Das
Entscheidende ist: alles ist möglich bei Gott. Dies ist ewig
wahr, und mithin wahr in jedem Augenblick. Man sagt es wohl so
hin im Alltagsleben, und im Alltagsleben sagt man es so hin,
jedoch die Entscheidung fällt erst, wenn der Mensch zum Äußersten
gebracht ist, so daß da menschlich gesprochen keine Möglichkeit
mehr ist. Dann gilt es, ob er glauben will, daß alles möglich
ist bei Gott (...) Mithin ist Rettung menschlich gesprochen das
Allerunmöglichste; aber alles ist möglich bei Gott! (...) so
ist Gott dies, daß alles möglich ist" (vgl. S.Kierkegaard,
Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 3982, S.34ff.)
(24) Diesen
zentralen Gedanken bekräftigt Meister Eckart immer wieder: man müsse
"um der Gottheit willen" Gott bitten, "daz wir
gotes ledic werden" und "daz (man) got durch got laze"
(vgl. DW 5,433; 2,487; 3,322); Die ganz eigenständige und
mnemontische unio-Erfahrung bei Eckart gipfelt in einer Theologie
der absoluten Gegenwärtigkeit der "Gottgeburt": "Der
Vater gebirt sinen sun ane underlaz, und ich spreche mer: er
gebirt mich sinen sun und den selben sun. Ich spreche mer (...)
er gebirt mich sich und sich mich..." (vgl.DW3,309). Diese
"Gottgeburt" als creatio perpetua und incarnatio
continua ist für Eckart also ein anfang- und endloses,
stets gegenwärtiges Ereignis, das er auch den "Durchbruch"
nennt, in dem sozusagen Gott erst zu sich selbst als Gott kommt;
Vgl. Meister Eckart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsgb.im
Auftrag der DFG, Stuttgart 3936ff. (Die deutschen Werke (DW),
hrsgb.v.J.Quint); vgl. auch die Sammlung: Meister Eckart, Einheit
im Sein und Wirken, hrsgb.v.D.Mieth, München/Zürich 3989, 2.Aufl.,
S.83ff.("Von Abgeschiedenheit") und S.350ff. ("Beati
pauperes spiritus...")
(25) Der
Zusammenhang von Zeit und Erinnern ist fundamental. Nicht zufällig
stößt Augustinus im Anschluß an die Erörterung der memoria
im Zehnten Buch (und im Gefolge der Absicht, auch über
das Erinnern noch hinaus zu wollen) im Elften Buch auf das
Phänomen der Zeitlichkeit, um sich freilich am Ende
bemerkenswerterweise wieder erneut auf das Sein des Erinnerns
insofern zurückgewiesen zu finden, als allein die memoria überhaupt
erst einen Begriff von tempus konstituiert und
bereitstellt. Von letzterem Weg läßt sich auch der vorliegende
hermeneutische Versuch leiten, so daß die Blickbahn auf das Sein
hier nicht vom Begriff der Zeitlichkeit ihren Ausgang
nimmt - wie es paradigmatisch in Heideggers SEIN UND ZEIT der
Fall ist -, sondern vielmehr vom Erinnern selbst ausgeht.
Daß auch noch ein als Existential gefaßtes "In-der-Zeit-sein"
ohne den Gegenschwung eines herkünftigen Seins-Anrufs des
Erinnerns zwangsläufig Gefahr läuft, mißverstanden zu werden,
zeigt Heideggers "Kehre" und sein Philosophieren nach
SuZ (vgl. dazu auch M.H., Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S.283ff.).
(26) Vgl.
M.Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 3985, 5.Aufl., S.7-338
(27) Vgl.
A.Schindler, Wort und Analogie in Augustinus' Trinitätslehre (=
Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd.4), Tübingen
3965, S.203ff.
(28)
"Richtig ist, das zu sagen und zu denken, daß 'Istigkeit'/Sein
ist (...) Nichtsein ist nicht (...)" (vgl.Parmenides, Vom
Wesen des Seienden, a.a.O.,Fr.6, S.36)
(29) Vgl.
H.-G.Gadamer, Die Kontinuität der Geschichte, a.a.O., Werke, Bd.2,
S.345