vorgängig-umgreifendes Unvergeßliches - nämlich dieses herkünftige Sein des Erinnerns selbst als jene spätere unhintergehbare "Er-Innerung" Hegels - wiederum die noch vorgängigere und selbst grundlose Voraussetzung für dieses, das Suchen erst in Gang setzende Vergessen ist. Das heißt aber: ein Unvergeßliches anwest.

Um so verwunderlicher aber bleibt es, daß Augustinus - trotz aller unmittelbaren und als unwiderlegbar gefundenen Erfahrung der Seinshaftigkeit des Erinnerns - dennoch vom Erinnern nur als einer Art "Durchgangsstation" auf dem Weg zum christlichen Gott spricht, und wenn er, die Memoria-Betrachtungen fast gewaltsam abschließend, in einiger Verlegenheit "gegen" das Sein des Erinnerns nur indirekt jenes verhängnisvolle anthropozentrische GENESIS-Wort von der besonderen Auserwähltheit der Menschen und ihr "Herrschaftsrecht" (vgl.Gen 1,26) anführt: "Hinaus will ich selbst über diese meine Kraft, die Erinnern heißt, hinaus will ich über sie, um an Dich zu reichen, süßes Licht! (...) Denn Erinnern haben Vieh und Vogel auch, wie fänden sie sonst Nest und Lager wieder (...)" (17,26)

Zweifellos erinnern auch die Vögel, aber sollte das wirklich gegen die Natur als jene hölderlinische "Allinnigkeit", gegen das Erinnern und gegen Gott sprechen? Die Antwort gibt wohl die Trinitätsschrift des Augustinus.

Die kurzen Betrachtungen zum X. Buch von Augustinus' CONFESSIONES sollten im gegebenen Zusammenhang nur an die eigentliche Frage heranführen. Es ist hier nicht die Aufgabe, jene mit den CONFESSIONES einsetzende christliche Theologie des Erinnerns weiter zu verfolgen. Es gilt hier auch nicht über das Erinnern "noch hinaus" zu gehen, sondern zunächst weiter seinen Pfaden zu folgen und tapfer bei der hermeneutischen Erfahrung dieses Geschehens zu verweilen. Die Gedanken des Augustinus haben einige Fragen ans Licht gebracht, die nachfolgend als solche noch etwas genauer zu erörtern, zumindest in ihrer Fragwürdigkeit zu verdeutlichen sind: Ist die Zeit und Geschichtlichkeit allein ein Resultat des Erinnerns oder ist das Erinnern selbst nicht auch etwas Vergängliches und Endliches? Wie ist es mit der vorgängigen Seinshaftigkeit des Erinnerns zu vereinbaren, daß tatsächlich auch seine Abwesenheit, das Vergessen, und vor allem das tatsächliche Vergessen des Erinnerns selbst und die Seinsvergessenheit sind?

Diese Fragen, die, wie zu sehen war, das herkünftige Erinnern selbst aufwirft, verweisen also insbesondere auf die Zusammenhänge von Erinnern und Zeitlichkeit (beziehungsweise Geschichtlichkeit), von Erinnern und Vergessen, aber auch auf das zunächst wohl noch vordringlichere Problem des Zusammenhangs von Erinnern und sinnlich gegebener Welt beziehungsweise dem sinnlichen Wahrnehmen überhaupt, von dem her sich doch so tiefgreifend das alltägliche Bewußtsein und die zeitgenössischen Wissenschaften und Ontologien offen oder insgeheim je schon leiten lassen, wenn die Frage nach dem gestellt wird, was "Wirklichkeit", was Sein also sei.



Anmerkungen:

(21) Ich folge hier weitgehend, aber nicht wörtlich der Übertragung von J.Bernhart, Augustinus, Bekenntnisse, FfM. 1987

(22) Vgl. K.Albert, Griechische Religion und Platonische Philosophie, Hamburg 1980, S.78

(2) "Das Entscheidende ist: alles ist möglich bei Gott. Dies ist ewig wahr, und mithin wahr in jedem Augenblick. Man sagt es wohl so hin im Alltagsleben, und im Alltagsleben sagt man es so hin, jedoch die Entscheidung fällt erst, wenn der Mensch zum Äußersten gebracht ist, so daß da menschlich gesprochen keine Möglichkeit mehr ist. Dann gilt es, ob er glauben will, daß alles möglich ist bei Gott (...) Mithin ist Rettung menschlich gesprochen das Allerunmöglichste; aber alles ist möglich bei Gott! (...) so ist Gott dies, daß alles möglich ist" (vgl. S.Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 1982, S.34ff.)

(24) Diesen zentralen Gedanken bekräftigt Meister Eckart immer wieder: man müsse "um der Gottheit willen" Gott bitten, "daz wir gotes ledic werden" und "daz (man) got durch got laze" (vgl. DW 5,413; 2,487; 3,322); Die ganz eigenständige und mnemontische unio-Erfahrung bei Eckart gipfelt in einer Theologie der absoluten Gegenwärtigkeit der "Gottgeburt": "Der Vater gebirt sinen sun ane underlaz, und ich spreche mer: er gebirt mich sinen sun und den selben sun. Ich spreche mer (...) er gebirt mich sich und sich mich..." (vgl.DW1,109). Diese "Gottgeburt" als creatio perpetua und incarnatio continua ist für Eckart also ein anfang- und endloses, stets gegenwärtiges Ereignis, das er auch den "Durchbruch" nennt, in dem sozusagen Gott erst zu sich selbst als Gott kommt; Vgl. Meister Eckart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsgb.im Auftrag der DFG, Stuttgart 1936ff. (Die deutschen Werke (DW), hrsgb.v.J.Quint); vgl. auch die Sammlung: Meister Eckart, Einheit im Sein und Wirken, hrsgb.v.D.Mieth, München/Zürich 1989, 2.Aufl., S.81ff.("Von Abgeschiedenheit") und S.150ff. ("Beati pauperes spiritus...")

(25) Der Zusammenhang von Zeit und Erinnern ist fundamental. Nicht zufällig stößt Augustinus im Anschluß an die Erörterung der memoria im Zehnten Buch (und im Gefolge der Absicht, auch über das Erinnern noch hinaus zu wollen) im Elften Buch auf das Phänomen der Zeitlichkeit, um sich freilich am Ende bemerkenswerterweise wieder erneut auf das Sein des Erinnerns insofern zurückgewiesen zu finden, als allein die memoria überhaupt erst einen Begriff von tempus konstituiert und bereitstellt. Von letzterem Weg läßt sich auch der vorliegende hermeneutische Versuch leiten, so daß die Blickbahn auf das Sein hier nicht vom Begriff der Zeitlichkeit ihren Ausgang nimmt - wie es paradigmatisch in Heideggers SEIN UND ZEIT der Fall ist -, sondern vielmehr vom Erinnern selbst ausgeht. Daß auch noch ein als Existential gefaßtes "In-der-Zeit-sein" ohne den Gegenschwung eines herkünftigen Seins-Anrufs des Erinnerns zwangsläufig Gefahr läuft, mißverstanden zu werden, zeigt Heideggers "Kehre" und sein Philosophieren nach SuZ (vgl. dazu auch M.H., Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S.283ff.).

(26) Vgl. M.Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1985, 5.Aufl., S.7-138

(27) Vgl. A.Schindler, Wort und Analogie in Augustinus' Trinitätslehre (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd.4), Tübingen 1965, S.201ff.

(28) "Richtig ist, das zu sagen und zu denken, daß 'Istigkeit'/Sein ist (...) Nichtsein ist nicht (...)" (vgl.Parmenides, Vom Wesen des Seienden, a.a.O.,Fr.6, S.16)

(29) Vgl. H.-G.Gadamer, Die Kontinuität der Geschichte, a.a.O., Werke, Bd.2, S.145

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