(4) Zum realitätsstiftenden Charakter des Erinnerns

Selbst wenn das alltägliche Dasein momenthaft ahnt, daß dieses durch es hindurchgehende Erinnern ihm selbst auf seltsame und umgreifende Weise vorausliegt und als solches über das "Ich" auch immer schon hinausverweist, so beharrt das zunächst gleichsam "selbstverständlich" in Seinsvergessenheit sich haltende "Selbstbewußtsein" doch hartnäckig auf der Haltung, daß das Erinnern unmöglich "Realität" sein kann: Stillt etwa das Erinnern den Durst des Dürstenden? Macht es denn den Hungernden satt? Ist das Erinnern also für jenes greifbar leibhaftige In-der-Welt-sein, für die sinnliche Welt überhaupt von Belang?


Das Erinnern und die Sinnlichkeit

Mit diesen beiläufigen Selbstversicherungen hält das "Selbstbewußtsein" von vorneherein tapfer die Fragen des Erinnerns und die Frage nach dem Erinnern "von sich selbst" fern, hält es sich selbst bloß in Äußerlichkeit zum "fragenden Dasein" und damit zur ureigensten Seins-Teilhabe. Offenbar beeindruckt von einem neuzeitlichen dualistischen Wirklichkeitsverständnis, das doch so scharf das "Physische" vom "Psychischen", die mit Händen greifbare, mess- und berechenbare res extensa vom letztlich ungewissen Geistig-Seelischen scheidet - und so selbstherrlich über Leben und Tod entscheidet -, erscheint diesem Selbstbewußtsein zunächst dasjenige, was es selber gerade denkt und noch das, was man als das Körperliche für die physische Existenz hält, als die Wirklichkeit schlechthin. Daß das aus dem Griechischen kommende Physische als physis ursprünglich keineswegs das im neuzeitlichen Sinne berechenbare und instrumentalisierbare Körperliche oder gar Bloß-Dingliche, sondern - noch diesseits jenes cartesianischen Abgrunds von res extensa und res cogitans - die eine und eigentliche Natur als das gegebene Gut, als die inständige und sich aus dieser Inständigkeit entfaltende Seinsnatur selbst nennt, scheint ganz in Verborgenheit geraten zu sein.

So ist einem neuzeitlichen Selbstbewußtsein zunächst auch tatsächlich gar nicht ein Sein "da", sondern die Unendlichkeit des Seienden und dessen Wandel, sind die Dinge, aber diese wiederum nicht als eigene Inständigkeiten (als physis), sondern nur uneigentlich als bloße "gegen-ständige" und in der Folge instrumentalisierbare Objekte. Das sich in alledem eigentlich Nächste - und in allem Durchgängige - aber ist sich so zunächst das Fernste und wird selbst zuletzt wahrgenommen. Es ist wohl wahr: das Erinnern sättigt nicht die vielen Hungernden. Aber hat deshalb schon das eine mit dem anderen etwa nichts zu tun? Führt erst die Not zum Besinnen auf das Einfache und Notwendige? Wohl macht ein herkünftiges Erinnern sprichwörtlich "den Blinden sehend", doch um die eigene Blindheit zu sehen, muß man freilich erinnern. Aber wer will die eigene Blindheit sehen?

Daß das Sein des Erinnerns in Wahrheit überhaupt erst Welt stiftet, scheint der Vergessenheit offenbar gerade deshalb uneinsichtig, weil und sofern sie nicht erinnert. Das herkünftig einwohnende Erinnern ist aber kein Unwirkliches, es ist vielmehr das ganz Natürliche. Es ist als das Sein, in dem sich alles Denken je schon vorfindet und bewegt, gerade nicht das nur Ausgedachte. Dieses Sein selbst gerät freilich als solches nur dort in den Blick, wo das Dasein die genannten Selbstverständlichkeiten gerade in Frage stellt, sich selbst als "Da"-Sein eigentlich wird.

Gleichwohl ist es faktisch dieses Sein immer schon, das, auch unbewußt, die unterschwellig stattfindende Vermittlung von Dasein und Sein (von Außen und Innen, von Objekt und Subjekt, von Ich und Du, von Vergangenem und Gegenwärtigem) beständig bewirkt. Im Selbstvollzug des Erinnerns konstituiert sich erst ein gegenwärtiges Anwesen, im Erinnern verwandelt sich Äußerliches (die Objekte, die Dinge) in je schon selbst Inniges, im Erinnern erfährt sich Dasein erst eigentlich, das heißt, ist dem Dasein, momenthaft, so etwas wie Sein da.

Dennoch ist sich das Erinnern im Normalzustand selbst äußerlich und hat sich sozusagen selbst vergessen. Um sich selbst wiederzuerinnern, muß das Erinnern sich erst in seinem Sein überhaupt wahrnehmen. Dies ist das Nadelöhr - daß sich Sein als das sich selbst zunächst Fernste (und ganz und gar unsinnlich und unwirklich Scheinende) als das in Wahrheit je schon Beständige und Inständige, und damit auch als das vorgängig schon Sinnlichkeit und Welt Stiftende erfährt. Das Verständnis dieses Geschehens ist entscheidend für die weitere Erörterung, insbesondere der platonischen Anamnesis-Philosophie und des Wesens des olympischen Mythos, sowie der idealisch erinnernden Poiesis Hölderlins, und daher vorbereitend noch etwas zu erläutern.

Betrachtet man einmal ein ganz alltägliches Beispiel wie das folgende, so zeigt sich, daß auch dort ein Erinnern tätig ist, wo dies im allgemeinen gar nicht bemerkt wird: Ich denke jetzt an eine Verabredung am nächsten Tag. Ich denke nicht mehr daran, denn jetzt fällt mir ein, daß ich mich umziehen muß. Doch im nächsten Moment verschwindet auch dieser Gedanke, denn mir kommt ein wichtiger Brief in den Sinn, der dringend zur Post muß. Bei diesem Gedanken fällt mir sogleich ein, auf dem Postamt nach dem Regenschirm zu fragen, den ich vor einigen Tagen dort möglicherweise vergessen habe. Die Herbstsonne strahlt ins Zimmer und ich vergesse alle diese Gedanken und mache mich zu einem Spaziergang auf. - Betrachtet man diesen Vorgang als solchen, der nach Uhrzeit gemessen vielleicht einige Sekunden dauert, so zeigt sich: Die Verabredung erinnere ich ebenso wie die Absicht, mich umzuziehen; den Brief erinnere ich ebenso wie den vergessenen Regenschirm; und selbst dem Entschluß zum Herbstspaziergang liegt noch ein Erinnern zugrunde, etwa die Erinnerung, daß ein Spaziergang allemal besonnener ist als einen abkömmlichen (und ständig irgendwo vergessenen) Regenschirm zu suchen.

Dort, wo im allgemeinen von etwas wahrnehmen oder einen Einfall oder einen Gedanken haben die Rede ist, wirkt stillschweigend das Erinnern immer schon in grundlegender Weise mit. Offenbar ist das Erinnern noch mehr und anderes als das, was im Alltag gemeint ist, wenn man sagt: "Ich hatte da eine ganz merkwürdige Erinnerung", so wie man auch davon spricht, einen bestimmten seltsamen Traum gehabt zu haben. Erinnern ist keineswegs nur der mehr oder weniger fest umrissene Zustand, indem ein bestimmtes Gefühl vergegenwärtigt wird oder "jemand in Erinnerungen schwelgt", woran man denkt, wenn im alltäglichen Gespräch von Erinnern die Rede ist. Erinnern ist aber offenbar auch nicht einfach ein Realisierungsmodus des seelischen Geschehens neben anderen, neben dem Wahrnehmen, dem Träumen, dem Vorstellen oder dem berechnenden Denken.

Vielmehr scheint das Erinnern diese verschiedenen Realisierungsformen oder Charaktere des seelischen Geschehens permanent und gleichermaßen zu durchwirken, sie in bestimmter Hinsicht überhaupt erst mit Inhalt zu füllen, sie ihrerseits also erst zu konstituieren und zugleich miteinander zu verbinden. Wäre ein Traum ohne diese Erinnerungsgestalten nicht leer? Kann man denken ohne dabei eines "Gedankens" zu "gedenken", also zu erinnern? Kann man etwas wahrnehmen ohne zugleich etwas wiederzuerkennen, das heißt wiederzuerinnern? Sind die Tagträume und die Hoffnungen nicht gleichsam ein in Erwartung versetztes Erinnern?

So betrachtet spricht vieles dafür, daß es das Erinnern ist, das als das einigende Band die verschiedenen Realisierungsformen des seelischen Geschehens miteinander zu einem Zusammenhang verbindet, und so erst das Bewußtsein einer Personalität und eines Kontinuums, einer Dauer im vielfältigen Fühlen, Wahrnehmen und Denken ermöglicht. Um diese stillschweigende Allgegenwärtigkeit des Erinnerns zunächst als Faktum wahrzunehmen, kann man sich vergegenwärtigen, daß auch das bloße Wahrnehmen, erst recht das Verstehen, dieses hier und jetzt gelesenen Satzes tatsächlich ein tätiges Erinnern ist, denn ohne dieses blieben die Buchstaben und Worte völlig fremd und stumm (was, wenn man sich an den eingangs zitierten Teuth-Mythos erinnert, bei einem bloß äußerlichen, bloß buchstäblichen Lesen wohl auch tatsächlich der Fall sein kann). Überall, wo ein solches Lesen aber nicht nur ein Vorbei-Rauschenlassen, sondern ein Wahrnehmen, ein verstehendes Lesen ist, dort ist es zwangsläufig auch je schon ein erinnerndes Lesen, welches nicht nur die einzelnen Worte nach ihren Buchstaben wiedererkennt, sondern darüberhinaus den Zusammenhang, den Sinn der Worte wieder-erinnernd erfährt.

So verhält es sich aber nicht nur im Bereich der Sprache, denn dieses erinnernde Verstehen ist selbst, wie schon angedeutet, nicht nominalistischen Charakters, sondern auch beim Hören eines Liedes, einer Melodie, wobei man merkwürdigerweise ebenfalls nicht zusammenhanglose Einzeltöne, sondern eine Struktur, ein Ganzes, mit anderen Worten eine Erinnerungsgestalt wahrnimmt. So ist es nicht nur bei einem einzelnen Wort oder Satz oder bei einer Melodie, sondern auch beim Wahrnehmen von größeren, komplexeren Zusammenhängen, etwa einer Fabel, des Ganzen einer Romanhandlung oder einer Sinfonie. Auch hier werden nicht äußerlich und sensuell gewonnene Einzelteile Stück für Stück oder bloß deren empirisch gewonnene Summen wahrgenommen, sondern es begegnet in Wahrheit das Erinnern je schon seinen ureigenen und innewohnenden Gestalten. Die Musik ist gleichsam immer schon in der Seele da.

Wenn mithin sinnhaftes Wahrnehmen etwas ganz anderes als ein bloßes Verschlingen von äußerlichen Objekten mit den Sinnesorganen ist, wie der alltägliche Sensualismus glaubt und wovon sensualistische Ontologien ausdrücklich ausgehen, wenn - grundsätzlich - auch im sinnlichen Wahrnehmen in Wirklichkeit das Erinnern je schon grundlegender und maßgeblicher beteiligt ist als die einzelnen äußeren Sinnesorgane - denn es gibt sehr wohl Wahrnehmungen ohne Beteiligung der äußeren Sinnesorgane, aber andererseits kein wirkliches sinnhaftes Wahrnehmen ohne Erinnern, denn wo das Erinnern nicht schon Gestalthaftes wiedererinnert, dort erkennen in Wahrheit die äußeren Sinne auch nichts -, wenn also offenbar das je schon vorgängige Erinnern selbst es ist, das im Vorgang des Wahrnehmens erst die Zusammenhänge und den Sinn stiftet - was ist dann das Wahrnehmen überhaupt aber anderes als das Wiedererinnern der je schon inwendigen Erinnerungsgestalten? Was bedeutet jenes "esse=percipi" (Sein heißt Wahrnehmen) dann in Wirklichkeit anderes als "esse=memenisse" (Sein heißt Erinnern)?

Dann ist aber, wie man rückschließen darf, die sinnliche Welt und die Sinnlichkeit überhaupt in Wahrheit nichts Äußerliches und Objekthaftes, sondern selbst immer schon eine beseelte, erinnernde Einheit von Subjekt und Objekt. Das Erinnern konstituiert insofern beständig und aktiv die sinnliche Welt, und wirkliche Sinnlichkeit und Welt ist auch offenbar nur dort, wo ein waches Erinnern tätig ist (während die träge Vergessenheit das schlechthin Unsinnliche ist). Das Erinnern ist insofern das in sich Gestalt-Stiftende, das Wirklichkeit-Wirkende.


Erinnern, Wahrnehmen und Zeiterleben

Dem Wesen des Wahrnehmens und insbesondere des Zeiterlebens hat fast ein Leben lang Edmund Husserl nachgedacht. Husserl unterzieht die im Wahrnehmen apriorisch wirksamen Wahrnehmungsmodi einer genaueren Betrachtung. Vor allem im Zusammenhang mit der Frage, wie eigentlich so etwas wie Zeitwahrnehmen, verstanden als ursprüngliches Zeiterleben und Zeitbewußtsein - also gleichsam als eingeborenes oder ursprünglich erfahrenes "Zeit-Erinnern" im Gegensatz zu der auf Konvention beruhenden technisch-physikalischen Uhrenzeit -, möglich ist, stößt Husserl, wie zuvor schon Augustinus, auf das Erinnern und dessen ganz entscheidende Rolle in der Konstituierung von Zeitwahrnehmen und Wahrnehmen überhaupt.

Husserl unterscheidet in Hinblick auf den (zunächst ganz isoliert gedachten) Wahrnehmungsakt drei wesentliche Momente: einer Augenblicks-Wahrnehmung oder Impression in einem punktuell gedachten Jetzt (zum Beispiel der Blick auf ein Stück Kreide); eine zunächst noch an diese Impression gebundene "primäre Erinnerung" oder Retention (die innere Gestalt, die Erinnerung "Kreide", wie sie etwa wahrzunehmen ist, wenn man die Augen schließt); schließlich eine nunmehr unabhängig von der Impression zu verstehende, willkürliche oder sekundäre "Wieder-Erinnerung" (zum Beispiel die nach Tagen erfolgte erneute Vergegenwärtigung der Gestalt oder Erinnerung "Kreide").

Einmal ungeachtet der sich aus der Begrifflichkeit dieses Modells ergebenden ontologischen Aporien, ist im gegebenen Zusammenhang zunächst die Einsicht Husserls wichtig, daß diese erwähnte Impression nicht ein gleichsam jungfräuliches Begegnen der Sinne mit der äußeren Welt (im Sinne des Sensualismus) ist, sondern selbst je schon vor dem Horizont des vorausliegenden Erinnerns erfolgt, der Wahrnehmungsakt als solcher insofern a priori und immer schon, wie Husserl sagt, retentional geprägt ist. Am Beispiel des Wahrnehmens einer Tonfolge versucht Husserl diesen retentionalen Grund des Wahrnehmungsaktes zu verdeutlichen:

"(Der Ton) fängt an und hört auf, und seine ganze Dauereinheit, die Einheit des ganzen Vorgangs, in dem er anfängt und endet, 'rückt' nach dem Enden in die immer fernere Vergangenheit. In diesem Zurücksinken 'halte' ich ihn noch fest, habe ihn in einer 'Retention', und solange sie anhält, hat er seine eigene Zeitlichkeit (...) stetig wandelt sich das leibhafte Ton-Jetzt (...) in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die Modifikation [der Erinnerung] übergegangene ab. Wenn aber das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urimpression, in Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein Jetzt, ein aktuell Daseiendes (...) Es ergibt sich demnach ein stetiges Kontinuum der Retention derart, daß jeder spätere Punkt Retention ist für jeden früheren. Und jede Retention ist schon Kontinuum. Der Ton setzt ein, und stetig setzt 'er' sich fort. Das Ton-Jetzt wandelt sich in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein. (...)" (Phän.d.I.Z.,§ 9/§ 11)

Der einzelne musikalische Ton ist also mit seinem äußerlichen Verstummen, seinem akustischen Enden, für den Wahrnehmenden nicht einfach "weg" und verschwunden, sondern dessen Erinnern bewahrt ihn mitsamt seiner Zeitcharakteristik auf. Nur so ist überhaupt möglich, daß das Wahrnehmen einer Melodie nicht einem durchlöcherten, gestalt- und sinnlosen Kommen und Gehen von an sich bedeutungslosen akustischen Signalen und Eindrücken ähnelt. Vielmehr bewahrt das Erinnern die einzelnen Töne auf. Dieses Aufbewahren ist aber keineswegs ein bloßes Zurücklegen und Abspeichern von Informationssignalen. Vielmehr wiedererinnert das Erinnern im einzelnen Signal je schon eine sinnhafte Gestalt. Es speichert also nicht einfach Zeichenhaftes, sondern innert je schon Wesenhaftes. Auch ist dieses dynamisches Überführen von Impression in Retention kein summierendes, schematisches Geschehen, sondern in sich je schon gestalthaftes Erinnern, ein "Kontinuum der Retention", wie Husserl sich ausdrückt.

Die eigentlich aus inner-anamnestischer Sicht entscheidende Frage, ob diese "Impression" (oder "Ur-Impression") aber nicht nur eine stets retentional modifizierte, sondern am Ende selbst immer schon Erinnerungsgestalt ist, stellt Husserl in diesem Zusammenhang zwar nicht. Doch zeigen seine akribischen Analysen des Wahrnehmungsgeschehens gleichwohl, wie untrennbar Wahrnehmen und Erinnern tatsächlich zusammenhängen, das heißt, wie sehr "Impression" in Wirklichkeit niemals das Erfassen eines unberührten Jetzt ist, sondern sich immer schon vor dem vorgängigen Horizont des Erinnerns vollzieht.

In Hinblick auf die Wahrnehmung von Zeit geht Husserl freilich noch einen Schritt weiter. Sie erfolgt für ihn nicht nur, wie jede Wahrnehmung, im je schon vorgängigen "Horizont des Retentionalen", sondern hier wird diese Retentionalität tatsächlich als das eigentlich unmittelbar konstituierende Moment verstanden. Beim ursprünglichen Zeiterleben und Zeitbewußtsein handelt es sich nicht um "objektive" Größen, sondern - vielleicht ist dies überhaupt die eigentlich zentrale These Husserls im hier angesprochenen Zusammenhang - um unmittelbare Resultate aus dem beschriebenen Gefüge des je schon retentionalen Wahrnehmens selbst (oder, wie man aus inner-anamnestischer Sicht auch sagen könnte, des "wahrgenommenen Erinnerns" als solchen). Dabei unterscheidet Husserl selbst zwischen unmittelbarem Zeiterleben und (sekundärem) Zeitbewußtsein. Zeit-Erleben entsteht aus Husserls Sicht ursprünglich im Übergang von "Impression" in "Retention", also im "erinnernden Wahrnehmen", so wie wir etwa beim aufmerksamen Hören von Musik in der Tat unmittelbar "Zeit erleben". Zeit-Bewußtsein hingegen entsteht für Husserl in der (sekundären) "Wiedererinnerung der Retention", was schon in anderem Zusammenhang dahingehend ausgeführt wurde, daß es ohne Erinnern gar keinen Begriff von Vergangenheit oder Gegenwärtigkeit und damit von Zeitlichkeit überhaupt geben könnte. Erinnern konstituiert also Zeit und Zeitbewußtsein.

Dieses aus der Phänomenologie des Wahrnehmungsaktes gewonnene Zeitverständnis versucht Merleau-Ponty einmal an der Gestalt eines Stroms zu verdeutlichen und zugleich auf den Horizont der Frage nach dem Sein selbst zu beziehen: "(Die Zeit) entspringt meinem Verhältnis zu den Dingen. In den Dingen selbst sind Zukunft und Vergangenheit nur in Gestalt einer Art ewigen Präexistenz und ewigen Überlebens; das Wasser, das morgen vorüberfließen wird, ist in diesem Augenblick an seiner Quelle, das eben vorübergeflossene Wasser, ist jetzt ein wenig tiefer im Tal. Was für mich vergangen und künftig ist, ist in der Welt gegenwärtig." Das will keineswegs als eine bloße Subjektivierung des Phänomens der Zeit (und des Erinnerns) verstanden werden, sondern will umgekehrt deren Inständigkeit und gleichsam unzerstörbare Gegenwärtigkeit in der Welt, will das Sein von Welt, das heißt, das Sein eines Inständigen überhaupt in Erinnerung rufen.

Ähnlich wie Husserl (und zeitlich parallel zu ihm) stößt auch Bergson, von zunächst wahrnehmungspsychologischen Fragen umgetrieben, auf die Frage des Erinnerns. Für ihn ist das Erinnern nicht nur das je schon Wahrnehmungs- und Zeitkonstituierende, sondern er erneuert auch nachdrücklich den augustinischen Gedanken, daß der Erinnernde erst im Vollzug des Erinnerns ein Bewußtsein seiner selbst, seiner Personalität, aber auch eines umgreifenden Seins, einer "durée" überhaupt erlangt: "Il n'ya pas de conscience sans mémoire, pas de continuation d'un état sans l'addition au sentiment présent du souvernir des moments passée. En céla consiste la durée. La durée intérieure est la vie continue d'une mémoire qui prolonge le passé dans le présent." (Es gibt kein Bewußtsein ohne Erinnerung, kein Bewußtsein von der Fortdauer eines Zustandes ohne das gleichzeitige Hinzutreten oder das lebendig vergegenwärtigte Gefühl der Erinnerung vergangener Momente. Deshalb existiert allein hier die 'durée'. Die 'durée intérieure' ist das fortwirkende Leben des Erinnerns, das das Vergangene in die Gegenwärtigkeit verlängert).

Bergsons zentraler Begriff der "durée intérieure", den er häufig in Abgrenzung zum Begriff der "temps" (der physikalisch-meßbaren Uhrenzeit) verwendet, verweist gleichsam auf jenen inneren Kern des Daseins, wie er im Selbstvollzug des Erinnerns zugänglich wird, auf jene erfüllte Dauer auch, in der alles was war und was ist gegenwärtig ist. Zu diesem unzerstörbaren Kern schreibt Kafka einmal in seinen Tagebüchern: "Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich (...) Das Unzerstörbare ist eines, jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam (...)". Und Benjamin bezieht es noch unmißverständlicher auf den Zirkel des Mnemontischen: "Das unsterbliche Leben ist unvergeßlich, das ist das Zeichen, an dem wir es erkennen".

Die angesprochenen wahrnehmungsphänomenologischen Erhellungen verweisen offenbar auf eine erstaunliche Durchgängigkeit und einheitsstiftende Wirkung des Erinnerns. Zwar kann das gestalthafte Erinnern von Mensch zu Mensch, von Situation zu Situation erheblich unterschiedlich entwickelt sein, und demselben Menschen ergeht es auch ständig so, daß ihm zum Beispiel eine Kunstgestalt in diesem Moment etwas Wesentliches offenbart, während dieselbe - aber in Wahrheit eben doch nicht dieselbe - ein andermal völlig stumm bleibt. Doch gerade dies zeigt, wie entscheidend hierbei die tatsächliche Anwesenheit des gestaltschaffenden Erinnerns ist.

So zeigen die bisherigen Betrachtungen zum Sein des Erinnerns, daß man eigentlich nicht nur davon sprechen kann, daß das Erinnern dem sinnhaften Wahrnehmen ontologisch vorausgeht, sondern daß das Erinnern Wahrnehmen ist; daß Erinnerungen nicht nur selbst gestalthaft sind, sondern daß das Erinnern die Gestalten unserer Welt erzeugt, eine Gestalt also je schon Erinnerungsgestalt ist; daß Erinnern nicht nur in sich sinnhaft ist, sondern daß es Sinn stiftet. Und ist nicht auch das, was wir Verstehen nennen, nur in untrennbarer Einheit mit diesem herkünftigen Erinnern zu sehen?



Anmerkungen:

(30) Zur "Selbstverständlichkeit" dieser Seinsverborgenheit vgl.insbesondere das Zweite Kapitel;-vgl.auch: Hegel, PHÄNOMENOLOGIE, Vorrede sowie Kapitel A; M.Heidegger, Sein und Zeit, S.126ff.

(31) Vgl. Plotin, Auswahl und Einleitung v.R.Harder,FfM.1958, S. 61ff.; - Auch das "Gedachte" ist ja nur dank des Erinnerns und selbst nur im Erinnern anwesend. Im Erinnern ist also offenbar vorausliegend schon alles das "da", was sich Dasein überhaupt fühlend, träumend, vorstellend, denkend etc. vergegenwärtigen kann.

(32) Zum Gestaltcharakter der Musik vgl. auch: F.Weinhandl, Gestalthaftes Sehen, Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Zum hundertjährigen Geburtstag von Christian von Ehrenfels, Darmstadt 1960; K.v.Fischer, Das Zeitproblem in der Musik, in: R.W.Meyer, Das Zeitproblem im 20.Jahrhundert, Bern u. München 1964, S.296ff.;- Ursprüngliche Kunst hat es aber offenbar, was hier nur am Rande angemerkt sei, weder allein mit Gestalten im formellen Sinn der morphologischen Psychologie, noch allein mit Zeitgestalten in einem physikalischen-meßbaren Sinn zu tun. Vielmehr scheinen deren Zeitgestalten je schon ursprüngliche Erinnerungsgestalten zu sein. Das Musische operiert mit je schon inwendig-erlebter, oder besser, mit ursprünglich erinnerter Zeit, mit insofern je schon beseelten Zeitgestalten, was auch überhaupt erst die griechische Auffassung verständlich macht, daß musikalisch-rhythmische Gestalten als solche unmittelbar kathartische Wirkungen haben können [vgl. POLITEIA 398a-403a, bzw. Aristoteles' POLITIK 1337a-1342b]. Vgl.dazu ferner auch: Hegel, ÄSTHETIK III, S. 125ff.

(33) Vgl. E.Husserl, Zur Phänomenologie des Inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), Den Haag 1966 (Husserliana Bd.X),insbesondere §1 - §20; - E.H., Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, Zur Phänomenologie der Anschaulichen Vergegenwärtigung, Texte aus dem Nachlaß (1898-1925), Den Haag 1980 (Husserliana Bd. XXIII), insbesondere S. 197-205

(34) Unter "erlebter", oder besser, erinnerter Zeit kann man etwa solche Phänomene wie Langeweile/Kurzweile, Zeitdehnung/Zeitraffung, Öde/Euphorie bzw. Atopie/Manie etc. verstehen. "Eine in Angst und Bangen durchwachte Nacht will kein Ende nehmen, (...) eine öde Stunde, oder eine Zeit untätigen Erwartens erscheint uns lang und schleppend. - Umgekehrt kann eine Zeit intensivster Inanspruchnahme oder ein in angeregter Unterhaltung verbrachter Abend uns überraschend kurz vorkommen (...)" [vgl. W.Keller, Die Zeit des Bewußtseins, in: R.W.Meyer, Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, a.a.O., S.44ff.]. In diesen Zusammenhang gehört auch Schopenhauers Beobachtung, daß "(wir) bisweilen glauben, uns nach einem fernen Orte zurückzusehnen, während wir eigentlich uns nur nach der Zeit zurücksehnen, die wir dort verlebt haben, da wir jünger und frischer waren. So täuscht uns alsdann die Zeit unter der Maske des Raumes. Reisen wir hin, so werden wir der Täuschung inne" [vgl. A.S., Aphorismen zur Lebensweisheit, FfM.1976, S.218]. In der Tat ist es oft so, daß ein "Ort", der in der Erinnerung (z.B. in einer Kindheitserinnerung) in unvergleichbarem Reiz und Zauber erscheint, sich sofort dann als sehr enttäuschend entlarvt, wenn man ihn tatsächlich geographisch aufsucht: "Habe ich mich nun so sehr verändert oder der Ort?", fragt man sich unwillkürlich. Beides ist möglicherweise der Fall, doch die tiefere Ursache dieses Erstaunens ist wohl nicht die ernüchternde Örtlichkeit an sich, noch allein - wie Schopenhauer selbst es deutet - eine (lebenszeitlich bedingte) veränderte Weise der Zeitwahrnehmung überhaupt, sondern es ist dies letztlich das Staunen vor dem Sein des Erinnerns als solchen. Dieses verzaubernde Bild ist weder der Ort selbst, noch ein Abbild des Ortes, sondern es ist - und war je schon - eine Ursprungserinnerung. Der Zauber, die Erfülltheit, das Staunen: dies sind je schon die immanenten Charaktere der Ursprungserinnerungen selbst. Wer diese Erinnerungsgestalten mit der Hand begreifen möchte, ähnelt, im Tao-Gleichnis gesprochen, jenem Unglücklichen, der das Spiegelbild des Mondes auf dem Teich mit Händen einfangen wollte. Daß die Kindheit als solche immer zauberhaft gewesen sein müßte, glaubt mithin nur die Erinnerung an die Kindheit, freilich nur solange, wie sie sich noch nicht selbst in ihrem Charakter als Erinnerungsgestalt wiedererinnert hat (was im übrigen, bei näherer Betrachtung, Schopenhauers Auffassung gar nicht widerspricht).

(35) Vgl. E.Husserl, Zur Phänomenologie, ebd. §18/§19; wobei hier zu beachten ist, daß Husserls terminus technicus des (sekundären) "Wiedererinnerns" keineswegs identisch ist mit der platonischen Ana-Mnesis als Innewerden des Erinnerungsseins als Sein. Husserls Ansatz geht vielmehr vom sensuellen Wahrnehmen (der aristotelischen "mneme") aus.

(36) Vgl. M.Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.466ff.

(37) Vgl. R.Ingarden, Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl, Den Haag 1968 (Phaenomenologica Bd. 25), S.121ff.

(38) Vgl. H.Bergson, Introduction à la métaphysique, Revue de Metaphysique,Januar 1903, S200f.; vgl. auch: H.B.,Die seelische Energie,Jena 1928 (insbesondere S. 98-136); -H.B., Zeit und Freiheit, Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, Jena 1920 (insbesondere S.175-188); -H.B., Materie und Gedächtnis, Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena 1919

(39) zit.n. M.Brod, Über Franz Kafka, FfM.1959, S. 235/S.240

(40) Vgl. W.Benjamin, Der 'Idiot' von Dostojewskij, in: Gesammelte Schriften, hrsgb.v.R.Tiedemann/H.Schweppenhäuser, Bd II, FfM.1977, S.239