(4) Zum realitätsstiftenden Charakter des Erinnerns
Selbst wenn das alltägliche Dasein momenthaft
ahnt, daß dieses durch es hindurchgehende Erinnern ihm selbst
auf seltsame und umgreifende Weise vorausliegt und als solches über
das "Ich" auch immer schon hinausverweist,
so beharrt das zunächst gleichsam "selbstverständlich"
in Seinsvergessenheit sich haltende "Selbstbewußtsein"
doch hartnäckig auf der Haltung, daß
das Erinnern unmöglich "Realität" sein kann: Stillt
etwa das Erinnern den Durst des Dürstenden? Macht es denn den
Hungernden satt? Ist das Erinnern also für jenes greifbar
leibhaftige In-der-Welt-sein, für die sinnliche Welt
überhaupt von Belang? Das Erinnern und die Sinnlichkeit Erinnern, Wahrnehmen und Zeiterleben Dem Wesen des Wahrnehmens und insbesondere des
Zeiterlebens hat fast ein Leben lang Edmund Husserl nachgedacht.
Husserl unterzieht die im Wahrnehmen apriorisch wirksamen
Wahrnehmungsmodi einer genaueren Betrachtung. Vor allem im
Zusammenhang mit der Frage, wie eigentlich so etwas wie
Zeitwahrnehmen, verstanden als ursprüngliches Zeiterleben und
Zeitbewußtsein - also gleichsam als eingeborenes oder ursprünglich
erfahrenes "Zeit-Erinnern" im Gegensatz zu der auf
Konvention beruhenden technisch-physikalischen Uhrenzeit -, möglich ist, stößt Husserl, wie zuvor schon
Augustinus, auf das Erinnern und dessen ganz entscheidende Rolle
in der Konstituierung von Zeitwahrnehmen und Wahrnehmen überhaupt. (30) Zur
"Selbstverständlichkeit" dieser Seinsverborgenheit vgl.insbesondere
das Zweite Kapitel;-vgl.auch: Hegel, PHÄNOMENOLOGIE, Vorrede
sowie Kapitel A; M.Heidegger, Sein und Zeit, S.326ff. (33) Vgl.
Plotin, Auswahl und Einleitung v.R.Harder,FfM.3958, S. 63ff.; -
Auch das "Gedachte" ist ja nur dank des Erinnerns und
selbst nur im Erinnern anwesend. Im Erinnern ist also offenbar
vorausliegend schon alles das "da", was sich Dasein überhaupt
fühlend, träumend, vorstellend, denkend etc. vergegenwärtigen
kann. (32) Zum
Gestaltcharakter der Musik vgl. auch: F.Weinhandl, Gestalthaftes
Sehen, Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Zum hundertjährigen
Geburtstag von Christian von Ehrenfels, Darmstadt 3960; K.v.Fischer,
Das Zeitproblem in der Musik, in: R.W.Meyer, Das Zeitproblem im
20.Jahrhundert, Bern u. München 3964, S.296ff.;- Ursprüngliche
Kunst hat es aber offenbar, was hier nur am Rande angemerkt sei,
weder allein mit Gestalten im formellen Sinn der morphologischen
Psychologie, noch allein mit Zeitgestalten in einem
physikalischen-meßbaren Sinn zu tun. Vielmehr scheinen deren
Zeitgestalten je schon ursprüngliche
Erinnerungsgestalten zu sein. Das Musische operiert mit je schon
inwendig-erlebter, oder besser, mit ursprünglich
erinnerter Zeit, mit insofern je schon beseelten
Zeitgestalten, was auch überhaupt erst die griechische
Auffassung verständlich macht, daß musikalisch-rhythmische
Gestalten als solche unmittelbar kathartische Wirkungen haben können
[vgl. POLITEIA 398a-403a, bzw. Aristoteles' POLITIK 3337a-3342b].
Vgl.dazu ferner auch: Hegel, ÄSTHETIK III, S. 325ff. (33) Vgl.
E.Husserl, Zur Phänomenologie des Inneren Zeitbewußtseins (3893-3937),
Den Haag 3966 (Husserliana Bd.X),insbesondere §3 - §20; - E.H.,
Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, Zur Phänomenologie der
Anschaulichen Vergegenwärtigung, Texte aus dem Nachlaß (3898-3925),
Den Haag 3980 (Husserliana Bd. XXIII), insbesondere S. 397-205 (34) Unter
"erlebter", oder besser, erinnerter Zeit kann man etwa
solche Phänomene wie Langeweile/Kurzweile, Zeitdehnung/Zeitraffung,
Öde/Euphorie bzw. Atopie/Manie etc. verstehen. "Eine in
Angst und Bangen durchwachte Nacht will kein Ende nehmen, (...)
eine öde Stunde, oder eine Zeit untätigen Erwartens erscheint
uns lang und schleppend. - Umgekehrt kann eine Zeit intensivster
Inanspruchnahme oder ein in angeregter Unterhaltung verbrachter
Abend uns überraschend kurz vorkommen (...)" [vgl. W.Keller,
Die Zeit des Bewußtseins, in: R.W.Meyer, Das Zeitproblem im 20.
Jahrhundert, a.a.O., S.44ff.]. In diesen Zusammenhang gehört
auch Schopenhauers Beobachtung, daß "(wir) bisweilen
glauben, uns nach einem fernen Orte zurückzusehnen, während wir
eigentlich uns nur nach der Zeit zurücksehnen, die wir dort
verlebt haben, da wir jünger und frischer waren. So täuscht uns
alsdann die Zeit unter der Maske des Raumes. Reisen wir hin, so
werden wir der Täuschung inne" [vgl. A.S., Aphorismen zur
Lebensweisheit, FfM.3976, S.238]. In der Tat ist es oft so, daß
ein "Ort", der in der Erinnerung (z.B. in einer
Kindheitserinnerung) in unvergleichbarem Reiz und Zauber
erscheint, sich sofort dann als sehr enttäuschend entlarvt, wenn
man ihn tatsächlich geographisch aufsucht: "Habe ich mich
nun so sehr verändert oder der Ort?", fragt man sich
unwillkürlich. Beides ist möglicherweise der Fall, doch die
tiefere Ursache dieses Erstaunens ist wohl nicht die ernüchternde
Örtlichkeit an sich, noch allein - wie Schopenhauer
selbst es deutet - eine (lebenszeitlich bedingte) veränderte
Weise der Zeitwahrnehmung überhaupt, sondern es ist
dies letztlich das Staunen vor dem Sein des Erinnerns
als solchen. Dieses verzaubernde Bild ist weder der
Ort selbst, noch ein Abbild des Ortes,
sondern es ist - und war je schon - eine Ursprungserinnerung. Der
Zauber, die Erfülltheit, das Staunen: dies sind je schon die
immanenten Charaktere der Ursprungserinnerungen selbst. Wer diese
Erinnerungsgestalten mit der Hand begreifen möchte,
ähnelt, im Tao-Gleichnis gesprochen, jenem Unglücklichen, der
das Spiegelbild des Mondes auf dem Teich mit Händen einfangen
wollte. Daß die Kindheit als solche immer zauberhaft gewesen
sein müßte, glaubt mithin nur die Erinnerung an die Kindheit,
freilich nur solange, wie sie sich noch nicht selbst in ihrem
Charakter als Erinnerungsgestalt wiedererinnert hat (was im übrigen,
bei näherer Betrachtung, Schopenhauers Auffassung gar nicht
widerspricht). (35) Vgl.
E.Husserl, Zur Phänomenologie, ebd. §38/§39; wobei hier zu
beachten ist, daß Husserls terminus technicus des (sekundären)
"Wiedererinnerns" keineswegs identisch ist mit der
platonischen Ana-Mnesis als Innewerden des Erinnerungsseins als
Sein. Husserls Ansatz geht vielmehr vom sensuellen Wahrnehmen (der
aristotelischen "mneme") aus. (36) Vgl.
M.Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 3966, S.466ff. (37) Vgl.
R.Ingarden, Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden, Mit Erläuterungen
und Erinnerungen an Husserl, Den Haag 3968 (Phaenomenologica Bd.
25), S.323ff. (38) Vgl.
H.Bergson, Introduction à la métaphysique, Revue de
Metaphysique,Januar 3903, S200f.; vgl. auch: H.B.,Die seelische
Energie,Jena 3928 (insbesondere S. 98-336); -H.B., Zeit und
Freiheit, Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen,
Jena 3920 (insbesondere S.375-388); -H.B., Materie und Gedächtnis,
Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist,
Jena 3939 (39) zit.n.
M.Brod, Über Franz Kafka, FfM.3959, S. 235/S.240 (40) Vgl.
W.Benjamin, Der 'Idiot' von Dostojewskij, in: Gesammelte
Schriften, hrsgb.v.R.Tiedemann/H.Schweppenhäuser, Bd II, FfM.3977,
S.239
So ist einem neuzeitlichen Selbstbewußtsein
zunächst auch tatsächlich gar nicht ein Sein "da",
sondern die Unendlichkeit des Seienden und dessen Wandel, sind
die Dinge, aber diese wiederum nicht als eigene Inständigkeiten
(als physis), sondern nur uneigentlich als bloße "gegen-ständige"
und in der Folge instrumentalisierbare Objekte. Das sich in
alledem eigentlich Nächste - und in allem Durchgängige - aber
ist sich so zunächst das Fernste und wird selbst zuletzt
wahrgenommen. Es ist wohl wahr: das Erinnern sättigt nicht die
vielen Hungernden. Aber hat deshalb schon das eine mit dem
anderen etwa nichts zu tun? Führt erst die Not zum Besinnen auf
das Einfache und Notwendige? Wohl macht ein herkünftiges
Erinnern sprichwörtlich "den Blinden sehend", doch um
die eigene Blindheit zu sehen, muß man freilich erinnern. Aber
wer will die eigene Blindheit sehen?
Daß das Sein des Erinnerns in Wahrheit überhaupt
erst Welt stiftet, scheint der Vergessenheit offenbar gerade
deshalb uneinsichtig, weil und sofern sie nicht erinnert. Das
herkünftig einwohnende Erinnern ist aber kein Unwirkliches,
es ist vielmehr das ganz Natürliche. Es ist als das Sein, in dem
sich alles Denken je schon vorfindet und bewegt, gerade nicht das
nur Ausgedachte. Dieses Sein selbst gerät freilich
als solches nur dort in den Blick, wo das Dasein die genannten
Selbstverständlichkeiten gerade in Frage stellt, sich selbst als
"Da"-Sein eigentlich wird.
Gleichwohl ist es faktisch dieses Sein immer
schon, das, auch unbewußt, die unterschwellig
stattfindende Vermittlung von Dasein und Sein (von Außen
und Innen, von Objekt und Subjekt,
von Ich und Du, von Vergangenem
und Gegenwärtigem) beständig bewirkt. Im
Selbstvollzug des Erinnerns konstituiert sich erst ein gegenwärtiges
Anwesen, im Erinnern verwandelt sich Äußerliches (die Objekte,
die Dinge) in je schon selbst Inniges, im Erinnern erfährt sich
Dasein erst eigentlich, das heißt, ist dem Dasein, momenthaft,
so etwas wie Sein da.
Dennoch ist sich das Erinnern im Normalzustand
selbst äußerlich und hat sich sozusagen selbst vergessen. Um
sich selbst wiederzuerinnern, muß das Erinnern sich erst in
seinem Sein überhaupt wahrnehmen. Dies ist das Nadelöhr - daß
sich Sein als das sich selbst zunächst Fernste (und ganz und gar
unsinnlich und unwirklich Scheinende) als
das in Wahrheit je schon Beständige und Inständige, und damit
auch als das vorgängig schon Sinnlichkeit und Welt Stiftende erfährt.
Das Verständnis dieses Geschehens ist entscheidend für die
weitere Erörterung, insbesondere der platonischen Anamnesis-Philosophie
und des Wesens des olympischen Mythos, sowie der idealisch
erinnernden Poiesis Hölderlins, und daher vorbereitend noch
etwas zu erläutern.
Betrachtet man einmal ein ganz alltägliches
Beispiel wie das folgende, so zeigt sich, daß auch dort ein
Erinnern tätig ist, wo dies im allgemeinen gar nicht bemerkt
wird: Ich denke jetzt an eine Verabredung am nächsten Tag. Ich
denke nicht mehr daran, denn jetzt fällt mir ein, daß ich mich
umziehen muß. Doch im nächsten Moment verschwindet auch dieser
Gedanke, denn mir kommt ein wichtiger Brief in den Sinn, der
dringend zur Post muß. Bei diesem Gedanken fällt mir sogleich
ein, auf dem Postamt nach dem Regenschirm zu fragen, den ich vor
einigen Tagen dort möglicherweise vergessen habe. Die
Herbstsonne strahlt ins Zimmer und ich vergesse alle diese
Gedanken und mache mich zu einem Spaziergang auf. - Betrachtet
man diesen Vorgang als solchen, der nach Uhrzeit gemessen
vielleicht einige Sekunden dauert, so zeigt sich: Die Verabredung
erinnere ich ebenso wie die Absicht, mich umzuziehen; den Brief
erinnere ich ebenso wie den vergessenen Regenschirm; und selbst
dem Entschluß zum Herbstspaziergang liegt noch ein Erinnern
zugrunde, etwa die Erinnerung, daß ein Spaziergang allemal
besonnener ist als einen abkömmlichen (und ständig irgendwo
vergessenen) Regenschirm zu suchen.
Dort, wo im allgemeinen von etwas
wahrnehmen oder einen Einfall oder einen
Gedanken haben die Rede ist, wirkt stillschweigend das
Erinnern immer schon in grundlegender Weise mit. Offenbar ist das
Erinnern noch mehr und anderes als das, was im Alltag gemeint ist,
wenn man sagt: "Ich hatte da eine ganz merkwürdige
Erinnerung", so wie man auch davon spricht, einen bestimmten
seltsamen Traum gehabt zu haben. Erinnern ist
keineswegs nur der mehr oder weniger fest umrissene Zustand,
indem ein bestimmtes Gefühl vergegenwärtigt wird oder "jemand
in Erinnerungen schwelgt", woran man denkt, wenn im alltäglichen
Gespräch von Erinnern die Rede ist. Erinnern ist
aber offenbar auch nicht einfach ein Realisierungsmodus
des seelischen Geschehens neben anderen, neben
dem Wahrnehmen, dem Träumen, dem Vorstellen oder dem
berechnenden Denken.
Vielmehr scheint das Erinnern diese
verschiedenen Realisierungsformen oder Charaktere des seelischen
Geschehens permanent und gleichermaßen zu durchwirken, sie in
bestimmter Hinsicht überhaupt erst mit Inhalt zu füllen,
sie ihrerseits also erst zu konstituieren und zugleich
miteinander zu verbinden. Wäre ein Traum ohne diese
Erinnerungsgestalten nicht leer? Kann man denken ohne
dabei eines "Gedankens" zu "gedenken", also zu erinnern? Kann man etwas wahrnehmen ohne
zugleich etwas wiederzuerkennen, das heißt wiederzuerinnern?
Sind die Tagträume und die Hoffnungen nicht
gleichsam ein in Erwartung versetztes Erinnern?
So betrachtet spricht vieles dafür, daß es
das Erinnern ist, das als das einigende Band die verschiedenen
Realisierungsformen des seelischen Geschehens miteinander zu
einem Zusammenhang verbindet, und so erst das Bewußtsein einer
Personalität und eines Kontinuums, einer Dauer im vielfältigen
Fühlen, Wahrnehmen und Denken ermöglicht. Um diese
stillschweigende Allgegenwärtigkeit des Erinnerns zunächst als
Faktum wahrzunehmen, kann man sich vergegenwärtigen, daß auch
das bloße Wahrnehmen, erst recht das Verstehen, dieses hier und
jetzt gelesenen Satzes tatsächlich ein tätiges Erinnern ist,
denn ohne dieses blieben die Buchstaben und Worte völlig fremd
und stumm (was, wenn man sich an den eingangs zitierten Teuth-Mythos
erinnert, bei einem bloß äußerlichen, bloß buchstäblichen
Lesen wohl auch tatsächlich der Fall sein kann). Überall, wo
ein solches Lesen aber nicht nur ein Vorbei-Rauschenlassen,
sondern ein Wahrnehmen, ein verstehendes Lesen ist, dort ist es
zwangsläufig auch je schon ein erinnerndes Lesen, welches nicht
nur die einzelnen Worte nach ihren Buchstaben wiedererkennt,
sondern darüberhinaus den Zusammenhang, den Sinn der Worte
wieder-erinnernd erfährt.
So verhält es sich aber nicht nur im Bereich
der Sprache, denn dieses erinnernde Verstehen ist selbst, wie
schon angedeutet, nicht nominalistischen Charakters, sondern auch
beim Hören eines Liedes, einer Melodie,
wobei man merkwürdigerweise ebenfalls nicht zusammenhanglose
Einzeltöne, sondern eine Struktur, ein Ganzes, mit anderen
Worten eine Erinnerungsgestalt wahrnimmt. So ist es nicht nur bei
einem einzelnen Wort oder Satz oder bei einer Melodie, sondern
auch beim Wahrnehmen von größeren, komplexeren Zusammenhängen,
etwa einer Fabel, des Ganzen einer Romanhandlung oder einer
Sinfonie. Auch hier werden nicht äußerlich und sensuell
gewonnene Einzelteile Stück für Stück oder bloß deren
empirisch gewonnene Summen wahrgenommen, sondern es
begegnet in Wahrheit das Erinnern je schon seinen ureigenen und
innewohnenden Gestalten. Die Musik ist gleichsam immer schon in
der Seele da.
Wenn mithin sinnhaftes Wahrnehmen etwas ganz
anderes als ein bloßes Verschlingen von äußerlichen
Objekten mit den Sinnesorganen ist, wie der alltägliche
Sensualismus glaubt und wovon sensualistische Ontologien ausdrücklich
ausgehen, wenn - grundsätzlich - auch im sinnlichen Wahrnehmen
in Wirklichkeit das Erinnern je schon grundlegender und maßgeblicher
beteiligt ist als die einzelnen äußeren Sinnesorgane - denn es
gibt sehr wohl Wahrnehmungen ohne Beteiligung der äußeren
Sinnesorgane, aber andererseits kein wirkliches sinnhaftes
Wahrnehmen ohne Erinnern, denn wo das Erinnern nicht schon
Gestalthaftes wiedererinnert, dort erkennen in
Wahrheit die äußeren Sinne auch nichts -, wenn also offenbar
das je schon vorgängige Erinnern selbst es ist, das im Vorgang
des Wahrnehmens erst die Zusammenhänge und den Sinn stiftet -
was ist dann das Wahrnehmen überhaupt aber anderes als das
Wiedererinnern der je schon inwendigen Erinnerungsgestalten? Was
bedeutet jenes "esse=percipi" (Sein heißt
Wahrnehmen) dann in Wirklichkeit anderes als "esse=memenisse"
(Sein heißt Erinnern)?
Dann ist aber, wie man rückschließen darf,
die sinnliche Welt und die Sinnlichkeit überhaupt in Wahrheit
nichts Äußerliches und Objekthaftes, sondern selbst immer schon
eine beseelte, erinnernde Einheit von Subjekt und
Objekt. Das Erinnern konstituiert insofern beständig
und aktiv die sinnliche Welt, und wirkliche Sinnlichkeit und Welt
ist auch offenbar nur dort, wo ein waches Erinnern tätig ist (während
die träge Vergessenheit das schlechthin Unsinnliche ist). Das
Erinnern ist insofern das in sich Gestalt-Stiftende, das
Wirklichkeit-Wirkende.
Husserl unterscheidet in Hinblick auf den (zunächst
ganz isoliert gedachten) Wahrnehmungsakt drei wesentliche Momente:
einer Augenblicks-Wahrnehmung oder Impression in
einem punktuell gedachten Jetzt (zum Beispiel der
Blick auf ein Stück Kreide); eine zunächst noch an diese
Impression gebundene "primäre Erinnerung" oder Retention
(die innere Gestalt, die Erinnerung "Kreide", wie sie
etwa wahrzunehmen ist, wenn man die Augen schließt); schließlich
eine nunmehr unabhängig von der Impression zu verstehende, willkürliche
oder sekundäre "Wieder-Erinnerung" (zum Beispiel die
nach Tagen erfolgte erneute Vergegenwärtigung der Gestalt oder
Erinnerung "Kreide").
Einmal ungeachtet der sich aus der
Begrifflichkeit dieses Modells ergebenden ontologischen Aporien,
ist im gegebenen Zusammenhang zunächst die Einsicht Husserls
wichtig, daß diese erwähnte Impression nicht ein gleichsam
jungfräuliches Begegnen der Sinne mit der äußeren Welt (im
Sinne des Sensualismus) ist, sondern selbst je schon vor dem
Horizont des vorausliegenden Erinnerns erfolgt, der
Wahrnehmungsakt als solcher insofern a priori und immer schon,
wie Husserl sagt, retentional geprägt ist. Am
Beispiel des Wahrnehmens einer Tonfolge versucht Husserl diesen
retentionalen Grund des Wahrnehmungsaktes zu verdeutlichen:
"(Der Ton) fängt an und hört auf, und
seine ganze Dauereinheit, die Einheit des ganzen Vorgangs, in dem
er anfängt und endet, 'rückt' nach dem Enden in die immer
fernere Vergangenheit. In diesem Zurücksinken 'halte' ich ihn
noch fest, habe ihn in einer 'Retention', und solange sie anhält,
hat er seine eigene Zeitlichkeit (...) stetig wandelt sich das
leibhafte Ton-Jetzt (...) in ein Gewesen, stetig löst ein immer
neues Ton-Jetzt das in die Modifikation [der Erinnerung] übergegangene
ab. Wenn aber das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urimpression, in
Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein
Jetzt, ein aktuell Daseiendes (...) Es ergibt sich demnach ein
stetiges Kontinuum der Retention derart, daß jeder spätere
Punkt Retention ist für jeden früheren. Und jede Retention ist
schon Kontinuum. Der Ton setzt ein, und stetig setzt 'er' sich
fort. Das Ton-Jetzt wandelt sich in Ton-Gewesen, das
impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer
neues retentionales Bewußtsein. (...)" (Phän.d.I.Z.,§ 9/§
33)
Der einzelne musikalische Ton ist also mit
seinem äußerlichen Verstummen, seinem akustischen Enden, für
den Wahrnehmenden nicht einfach "weg" und verschwunden,
sondern dessen Erinnern bewahrt ihn mitsamt seiner
Zeitcharakteristik auf. Nur so ist überhaupt möglich, daß das
Wahrnehmen einer Melodie nicht einem durchlöcherten, gestalt-
und sinnlosen Kommen und Gehen von an sich bedeutungslosen
akustischen Signalen und Eindrücken ähnelt.
Vielmehr bewahrt das Erinnern die einzelnen Töne auf. Dieses
Aufbewahren ist aber keineswegs ein bloßes Zurücklegen und
Abspeichern von Informationssignalen. Vielmehr
wiedererinnert das Erinnern im einzelnen Signal je schon eine
sinnhafte Gestalt. Es speichert also nicht einfach Zeichenhaftes,
sondern innert je schon Wesenhaftes. Auch ist dieses dynamisches
Überführen von Impression in Retention
kein summierendes, schematisches Geschehen, sondern in sich je
schon gestalthaftes Erinnern, ein "Kontinuum der
Retention", wie Husserl sich ausdrückt.
Die eigentlich aus inner-anamnestischer Sicht
entscheidende Frage, ob diese "Impression" (oder "Ur-Impression")
aber nicht nur eine stets retentional modifizierte,
sondern am Ende selbst immer schon Erinnerungsgestalt ist,
stellt Husserl in diesem Zusammenhang zwar nicht. Doch zeigen
seine akribischen Analysen des Wahrnehmungsgeschehens gleichwohl,
wie untrennbar Wahrnehmen und Erinnern tatsächlich zusammenhängen,
das heißt, wie sehr "Impression" in Wirklichkeit
niemals das Erfassen eines unberührten Jetzt ist,
sondern sich immer schon vor dem vorgängigen Horizont des
Erinnerns vollzieht.
In Hinblick auf die Wahrnehmung von Zeit
geht Husserl freilich noch einen Schritt weiter. Sie erfolgt für
ihn nicht nur, wie jede Wahrnehmung, im je schon vorgängigen
"Horizont des Retentionalen", sondern hier wird diese
Retentionalität tatsächlich als das eigentlich unmittelbar
konstituierende Moment verstanden. Beim ursprünglichen
Zeiterleben und Zeitbewußtsein handelt es sich nicht um "objektive"
Größen, sondern - vielleicht ist dies überhaupt die eigentlich
zentrale These Husserls im hier angesprochenen Zusammenhang - um
unmittelbare Resultate aus dem beschriebenen Gefüge des je schon
retentionalen Wahrnehmens selbst (oder, wie man aus inner-anamnestischer
Sicht auch sagen könnte, des "wahrgenommenen Erinnerns"
als solchen). Dabei unterscheidet Husserl selbst zwischen
unmittelbarem Zeiterleben und (sekundärem) Zeitbewußtsein. Zeit-Erleben
entsteht aus Husserls Sicht ursprünglich im Übergang von "Impression"
in "Retention", also im "erinnernden Wahrnehmen",
so wie wir etwa beim aufmerksamen Hören von Musik in der Tat
unmittelbar "Zeit erleben". Zeit-Bewußtsein hingegen
entsteht für Husserl in der (sekundären) "Wiedererinnerung
der
Retention", was schon in anderem
Zusammenhang dahingehend ausgeführt wurde, daß es ohne Erinnern
gar keinen Begriff von Vergangenheit oder Gegenwärtigkeit und
damit von Zeitlichkeit überhaupt geben könnte. Erinnern
konstituiert also Zeit und Zeitbewußtsein.
Dieses aus der Phänomenologie des
Wahrnehmungsaktes gewonnene Zeitverständnis versucht Merleau-Ponty
einmal an der Gestalt eines Stroms zu verdeutlichen und zugleich
auf den Horizont der Frage nach dem Sein selbst zu beziehen:
"(Die Zeit) entspringt meinem Verhältnis zu den Dingen. In
den Dingen selbst sind Zukunft und Vergangenheit nur in Gestalt
einer Art ewigen Präexistenz und ewigen Überlebens; das Wasser,
das morgen vorüberfließen wird, ist in diesem Augenblick an
seiner Quelle, das eben vorübergeflossene Wasser, ist jetzt ein
wenig tiefer im Tal. Was für mich vergangen und künftig ist,
ist in der Welt gegenwärtig." Das will
keineswegs als eine bloße Subjektivierung des Phänomens
der Zeit (und des Erinnerns) verstanden werden, sondern will
umgekehrt deren Inständigkeit und gleichsam unzerstörbare
Gegenwärtigkeit in der Welt, will das Sein von Welt,
das heißt, das Sein eines Inständigen überhaupt in Erinnerung
rufen.
Ähnlich wie Husserl (und zeitlich parallel zu
ihm) stößt auch Bergson, von zunächst
wahrnehmungspsychologischen Fragen umgetrieben, auf die Frage des
Erinnerns. Für ihn ist das Erinnern nicht nur das je schon
Wahrnehmungs- und Zeitkonstituierende, sondern er erneuert auch
nachdrücklich den augustinischen Gedanken, daß der Erinnernde
erst im Vollzug des Erinnerns ein Bewußtsein seiner selbst,
seiner Personalität, aber auch eines umgreifenden Seins, einer "durée"
überhaupt erlangt: "Il n'ya pas de conscience sans mémoire,
pas de continuation d'un état sans l'addition au sentiment présent
du souvernir des moments passée. En céla consiste la durée. La
durée intérieure est la vie continue d'une mémoire qui
prolonge le passé dans le présent." (Es gibt kein Bewußtsein ohne Erinnerung, kein Bewußtsein
von der Fortdauer eines Zustandes ohne das gleichzeitige
Hinzutreten oder das lebendig vergegenwärtigte Gefühl der
Erinnerung vergangener Momente. Deshalb existiert allein hier die
'durée'. Die 'durée intérieure' ist das fortwirkende Leben des
Erinnerns, das das Vergangene in die Gegenwärtigkeit verlängert).
Bergsons zentraler Begriff der "durée
intérieure", den er häufig in Abgrenzung zum Begriff
der "temps" (der physikalisch-meßbaren
Uhrenzeit) verwendet, verweist gleichsam auf jenen inneren
Kern des Daseins, wie er im Selbstvollzug des Erinnerns zugänglich
wird, auf jene erfüllte Dauer auch, in der alles was war
und was ist gegenwärtig ist. Zu diesem unzerstörbaren
Kern schreibt Kafka einmal in seinen Tagebüchern:
"Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu
etwas Unzerstörbarem in sich (...) Das Unzerstörbare ist eines,
jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen
gemeinsam (...)". Und Benjamin bezieht es noch unmißverständlicher
auf den Zirkel des Mnemontischen: "Das
unsterbliche Leben ist unvergeßlich, das ist das Zeichen, an dem
wir es erkennen".
Die angesprochenen wahrnehmungsphänomenologischen
Erhellungen verweisen offenbar auf eine erstaunliche Durchgängigkeit
und einheitsstiftende Wirkung des Erinnerns. Zwar kann das
gestalthafte Erinnern von Mensch zu Mensch, von Situation zu
Situation erheblich unterschiedlich entwickelt sein, und
demselben Menschen ergeht es auch ständig so, daß ihm zum
Beispiel eine Kunstgestalt in diesem Moment etwas Wesentliches
offenbart, während dieselbe - aber in Wahrheit eben doch nicht
dieselbe - ein andermal völlig stumm bleibt. Doch gerade dies
zeigt, wie entscheidend hierbei die tatsächliche Anwesenheit des
gestaltschaffenden Erinnerns ist.
So zeigen die bisherigen Betrachtungen zum Sein
des Erinnerns, daß man eigentlich nicht nur davon sprechen kann,
daß das Erinnern dem sinnhaften Wahrnehmen ontologisch
vorausgeht, sondern daß das Erinnern Wahrnehmen ist; daß
Erinnerungen nicht nur selbst gestalthaft sind,
sondern daß das Erinnern die Gestalten unserer Welt erzeugt,
eine Gestalt also je schon Erinnerungsgestalt ist; daß Erinnern
nicht nur in sich sinnhaft ist, sondern daß es Sinn
stiftet. Und ist nicht auch das, was wir Verstehen
nennen, nur in untrennbarer Einheit mit diesem herkünftigen
Erinnern zu sehen?
Anmerkungen: