Mit der Frage nach dem Verstehen
beschäftigt sich die philosophische Hermeneutik, im
umfassendsten Sinn wohl die philosophische Hermeneutik Gadamers. Wer einmal versucht hat, ein fremdsprachiges Gedicht
zu übersetzen, wird die Bemerkung des Platon-Übersetzers
Schleiermachers lebhaft nachvollziehen können, daß auch das
Verstehen und das Auslegen "eine
Kunst ist". Es reicht zum
Verstehen eines solchen Gedichts keineswegs aus, die Worte der
fremden Sprache als Worte zu kennen, sondern es gilt von
vorneherein je schon die Aura, je schon das
Ganze des Gedichts zu ahnen, um auch nur ein Wort dem
Zusammenhang angemessen und sinnhaft zu ergründen. Man muß also
in diesem Sinne in der Tat je schon verstehen, um verstehen
zu können; oder anders ausgedrückt: das Verstehen selbst
geht immer schon notwendig von einem zwar nicht ganz
bekannten Ganzen, doch gleichwohl einem keimhaft immer schon als
Ganzes bekannten Ganzen aus. Wie aber ist dieses ahnende Vorverständnis
des Ganzen als Ganzes (also des Sinns) möglich?
Der eigentliche Zusammenhang, der hiermit
angesprochen ist, hängt zwar in bestimmter Hinsicht mit dem
zuvor erörterten je schon auf einem Erinnerungshorizont
aufbauenden Wesen des Wahrnehmungsaktes zusammen, doch die Frage greift gleichsam in tiefere
Dimensionen aus. Die Wahrnehmungsphänomenologie fragt zunächst
vor allem danach, wie es etwa möglich ist, einen Satz (wie etwa
den hier und jetzt gelesenen) gleichsam "pro-phetisch"
(oder protentiv in der Sprache Husserls) zu lesen.
Obwohl das äußere Auge - ganz ähnlich wie das Ohr beim Hören
eines Musikwerkes - nur sukzessive Wort für Wort wahrnimmt, also
gar nicht auf einen Blick den ganzen Satz überschauen kann,
liest man innerlich diesen Satz dennoch so, daß die einzelnen
Worte und ihre Betonungen je schon vorgängig auf ein Sinnganzes
hin ausgerichtet sind, so als wüßten wir insgeheim schon,
was noch kommt, als wäre mithin das Erinnern schon
allemal klüger als der äußere Sinn.
Die Hermeneutik nun, insbesondere in ihrer
fundamental-ontologischen Entfaltung bei Gadamer, fragt nicht nur
nach der Struktur solcher Wahrnehmungsakte, auch nicht allein,
wie in erster Linie die antike und christliche Schrifthermeneutik,
nach Grundprinzipien des redlichen und angemessenen Auslegens von Texten, gleichwohl ihr auch dies wesentlich bleibt,
sondern sie fragt gleichsam nach dem Text, den die
Wirklichkeit des Verstehens als solcher selbst ausbildet, also
nach dem Verstehen als Existential oder nach dem Sein
des Verstehens. Sie ist bei Gadamer also nicht nur ein
unverzichtbares kritisches Reflexionswissen gegenüber
positivistischen Techniken innerhalb der Geisteswissenschaften,
sondern als eine Hermeneutik der Faktizität auch
immer schon notwendig eine existentielle Hermeneutik
und insofern auch ein herkünftig-anamnestisches Verständnis des
Verstehens. Von diesem Sein des Verstehens sagt Gadamer: "Das
Verstehen ist selbst nicht so sehr als eine Handlung der
Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen,
in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln."
Dies betont die Faktizität dieses Prozesses,
aber auch dessen unmittelbar mnemischen Charakter. Verstehen erwächst
aus einem solchen Andenken, dessen Subjekt nicht die Willkür ist.
Verstehen ist kein ins Belieben und Gutdünken eines Subjekts
gestellter Vorgang, sondern das immer von neuem ursprünglich
wieder-zu-holende "Einrücken" in ein selbst immer
schon vorgängiges "Überlieferungsgeschehen", das
Gadamer auch "Wirkungsgeschichte" nennt. Daß diese
Wirkungsgeschichte - von der Gadamer selbst einmal
gesagt hat, daß sie "mehr Sein als Bewußtsein" sei - kein bloßes Synonym für die geistesgeschichtliche
Tradition ist, versteht sich angesichts Gadamers
Historismuskritik von selbst. Eine größere Nähe ergibt sich da
schon zum (selbst freilich nicht weniger mißverstandenen)
Begriff der "Seynsgeschichte" bei Heidegger. Beiden
Begriffsprägungen kann man sich vielleicht annähern, wenn man
sie von einem anamnestisch vermittelten Verständnis von
Geschichtlichkeit her betrachtet, das heißt, wenn man diese
Wirkungsgeschichte, aus der jedes Verstehen erst
seinen Zuspruch erfährt, als wesenhaft mit dem Wirken
eines herkünftigen Erinnerns verbunden erfährt. Dies macht auch
die Formulierung deutlich, daß Verstehen ein Einrücken
in ein solches Überlieferungsgeschehen ist, "in dem sich
Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln". Diese
Vermittlung leistet aber genuin das herkünftige Erinnern.
Bei Gadamer selbst heißt es unmißverständlich:
"Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht dies
in der Weise der Seins-Erinnerung". Das vorgängig-umgreifende Erinnern bildet insofern
dieses Überlieferungsgeschehen und diese Wirkungsgeschichte
aus, ohne die Verstehen nicht sein kann. Das erst macht auch
jenes "Gespräch", von dem Gadamer sagt, daß es das
"Ich" mit dem "Anderen" und darüberhinaus
mit dem "Ganz-Anderen" vermittelt. So wesentlich für
Gadamers Philosophieren auch das dialogische Prinzip ist, so
grundlegend unterscheidet es sich doch von einer bloßen
Diskurspragmatik. Wenn Gadamer dieses Gespräch für "nicht
hintergehbar" hält, so ist doch genau zu beachten, was von
diesem Gespräch, das Verstehen erst ermöglicht, gesagt ist:
"Es gibt überhaupt nicht das Problem einer für alle
gemeinsamen Sprache, sondern es gibt nur das Wunder dessen, daß
wir, obwohl wir alle eine verschiedene Sprache haben, uns dennoch
über die Grenzen der Individuen, der Völker und der Zeiten
hinweg verstehen können (...)".
So wenig sich bei Gadamer Sprache also in
Begriffssprache, im Diskurs und im Kategorialen erschöpft,
sondern immer schon auf jene verborgene gemeinsame Sprache
hinter den Sprachen, also auf die Ur-Sprache des Verstehens
selbst verweist, so sehr zielt auch dieses "nicht
hintergehbare Gespräch" für ihn im Grunde immer schon,
weit über jede Diskurspragmatik hinaus, auf den lógos endiáthetos
und das augustinische verbum interius, auf
das "innere Wort", also auf jenes Schwerzusagende
aber eigentlich doch erst Sprechende, was eine bloß
apophantische Logik (als Technik des nur "richtigen"
Aussagens) in ihrem Selbstverfügungsanspruch gerade eher
verdeckt.
Dies hat Gadamer einmal an dem Vers aus Hölderlins
FRIEDENSFEIER "Seit ein Gespräch wir sind / Und hören
können voneinander" in Erinnerung zu rufen versucht:
"Dieser berühmte Vers will ein Doppeltes sagen: Was ist das
für ein Gespräch? Ist es das Gespräch der Menschen mit den Göttern
oder der Götter mit den Menschen? Das Gedicht sagt uns: So zu
unterscheiden geht nicht an. Wir sollen nicht glauben, daß das
Gespräch jeweils nur das eine oder jeweils nur das andere sein
kann. Das gerade ist uns gegeben, über uns selbst hinauskommen
zu können, sei es, daß wir auf den anderen hören oder dem ganz
Anderen zu entsprechen suchen." Daß wirkliches
Verstehen und ein echtes Gespräch auch im Alltäglichen kein bloß
zeichenhafter Vorgang und Diskurs ist, bestreiten
allenfalls die hartgesottensten Nachfolger Teuths. Man erinnert
sich sonst, daß es auch ein wortloses Sich-Verstehen
gibt, man erinnert sich auch der Erfahrung, daß alle
gutgemeinten Worte oder langen Kommentare dort vergebliche
Liebesmühen bleiben, wo dieser herkünftige Zuspruch, der ein
Verstehen und ein Gespräch erst erlaubt, abwesend bleibt.
So ist ein herkünftiges Verstehen auch offen für
die Wahrheit, daß dieses Verstehens selbst keineswegs der willkürlichen
Verfügbarkeit unterliegt, sondern des beständig wieder-zu-holenden
mühsamen Wiedererinnerns bedarf. Das Verstehen selbst kann man,
im Gegensatz zu den vielen Zeichen, nicht getrost nach
Hause tragen, wie jenes was man schwarz auf weiß
besitzt. Daß wir einmal verstehen, ein andermal aber nicht,
daß einmal eine Gestalt etwas Wesentliches offenbart, ein
andermal aber nicht - dieser nur zu alltägliche Fall zeigt
mithin, daß wir hier tatsächlich erinnern können, dort aber
diese Gunst entzogen bleibt, das heißt, die Vergessenheit
vorherrscht.
Anmerkungen:
(43) Vgl.
H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik, Tübingen 3965 (2.Aufl.) [=Werke, Bd.3/2]
(42) Vgl.
F.D.E.Schleiermacher, Hermeneutik, hrsgb.v.H.Kimmerle, Heidelberg
3959, S.82
(43) Vgl.
H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, ebd., Teil II
(44) Zwar
erweist sich dieser je schon erinnerte und das sinnliche
Wahrnehmen vorprägende Erwartungshorizont mitunter als
korrekturbedürftig, doch dies ändert gar nichts am Faktum als
solchen, daß dieses intentionale Wahrnehmen an sich stets und
immer schon vor jenem (dem Wesen eines Gegenstandes mehr
oder weniger angemessenen) Horizont des Erinnerns geschieht.
Es spricht also gar nicht gegen die Vorgängigkeit des Erinnerns,
wohl aber deutet es auf die Grenzen des Wissens, denn dieses (mehr
oder weniger) "Angemessene" der Intention ist ja
offenbar gerade das "mehr oder weniger Angemessene" des
Erinnerns, es hängt also offenbar gerade die Tiefe des
Verstehens von der Tiefe und Ursprünglichkeit der Anamnesis ab.
(45) Zur
Entwicklung und Diskussion der hermeneutischen Frage
selbst vgl.: Seminar Philosophische Hermeneutik, hrsgb.v.H.-G.Gadamer/G.Boehm,
FfM.3976; - Vgl. auch: J.Grondin, Einführung in die
philosophische Hermeneutik, Darmstadt 3993
(46) Vgl.
H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.XIV
(47) Vgl.
J.Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, a.a.O.,
S. 347
(48) Vgl.
H.-G.Gadamer, Werke, Bd.2, S.503
(49) Vgl.
H.-G.Gadamer, Werke, Bd. 2. S.44ff.
(50) Vgl.
J.Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, a.a.O.,
S. 346ff.
(53) Vgl.
H.-G.Gadamer, Von der Wahrheit des Wortes, a.a.O., S.22