(5) Erinnern und Verstehen

Mit der Frage nach dem Verstehen beschäftigt sich die philosophische Hermeneutik, im umfassendsten Sinn wohl die philosophische Hermeneutik Gadamers. Wer einmal versucht hat, ein fremdsprachiges Gedicht zu übersetzen, wird die Bemerkung des Platon-Übersetzers Schleiermachers lebhaft nachvollziehen können, daß auch das Verstehen und das Auslegen "eine Kunst ist". Es reicht zum Verstehen eines solchen Gedichts keineswegs aus, die Worte der fremden Sprache als Worte zu kennen, sondern es gilt von vorneherein je schon die Aura, je schon das Ganze des Gedichts zu ahnen, um auch nur ein Wort dem Zusammenhang angemessen und sinnhaft zu ergründen. Man muß also in diesem Sinne in der Tat je schon verstehen, um verstehen zu können; oder anders ausgedrückt: das Verstehen selbst geht immer schon notwendig von einem zwar nicht ganz bekannten Ganzen, doch gleichwohl einem keimhaft immer schon als Ganzes bekannten Ganzen aus. Wie aber ist dieses ahnende Vorverständnis des Ganzen als Ganzes (also des Sinns) möglich?

Der eigentliche Zusammenhang, der hiermit angesprochen ist, hängt zwar in bestimmter Hinsicht mit dem zuvor erörterten je schon auf einem Erinnerungshorizont aufbauenden Wesen des Wahrnehmungsaktes zusammen, doch die Frage greift gleichsam in tiefere Dimensionen aus. Die Wahrnehmungsphänomenologie fragt zunächst vor allem danach, wie es etwa möglich ist, einen Satz (wie etwa den hier und jetzt gelesenen) gleichsam "pro-phetisch" (oder protentiv in der Sprache Husserls) zu lesen. Obwohl das äußere Auge - ganz ähnlich wie das Ohr beim Hören eines Musikwerkes - nur sukzessive Wort für Wort wahrnimmt, also gar nicht auf einen Blick den ganzen Satz überschauen kann, liest man innerlich diesen Satz dennoch so, daß die einzelnen Worte und ihre Betonungen je schon vorgängig auf ein Sinnganzes hin ausgerichtet sind, so als wüßten wir insgeheim schon, was noch kommt, als wäre mithin das Erinnern schon allemal klüger als der äußere Sinn.

Die Hermeneutik nun, insbesondere in ihrer fundamental-ontologischen Entfaltung bei Gadamer, fragt nicht nur nach der Struktur solcher Wahrnehmungsakte, auch nicht allein, wie in erster Linie die antike und christliche Schrifthermeneutik, nach Grundprinzipien des redlichen und angemessenen Auslegens von Texten, gleichwohl ihr auch dies wesentlich bleibt, sondern sie fragt gleichsam nach dem Text, den die Wirklichkeit des Verstehens als solcher selbst ausbildet, also nach dem Verstehen als Existential oder nach dem Sein des Verstehens. Sie ist bei Gadamer also nicht nur ein unverzichtbares kritisches Reflexionswissen gegenüber positivistischen Techniken innerhalb der Geisteswissenschaften, sondern als eine Hermeneutik der Faktizität auch immer schon notwendig eine existentielle Hermeneutik und insofern auch ein herkünftig-anamnestisches Verständnis des Verstehens. Von diesem Sein des Verstehens sagt Gadamer: "Das Verstehen ist selbst nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln."

Dies betont die Faktizität dieses Prozesses, aber auch dessen unmittelbar mnemischen Charakter. Verstehen erwächst aus einem solchen Andenken, dessen Subjekt nicht die Willkür ist. Verstehen ist kein ins Belieben und Gutdünken eines Subjekts gestellter Vorgang, sondern das immer von neuem ursprünglich wieder-zu-holende "Einrücken" in ein selbst immer schon vorgängiges "Überlieferungsgeschehen", das Gadamer auch "Wirkungsgeschichte" nennt. Daß diese Wirkungsgeschichte - von der Gadamer selbst einmal gesagt hat, daß sie "mehr Sein als Bewußtsein" sei - kein bloßes Synonym für die geistesgeschichtliche Tradition ist, versteht sich angesichts Gadamers Historismuskritik von selbst. Eine größere Nähe ergibt sich da schon zum (selbst freilich nicht weniger mißverstandenen) Begriff der "Seynsgeschichte" bei Heidegger. Beiden Begriffsprägungen kann man sich vielleicht annähern, wenn man sie von einem anamnestisch vermittelten Verständnis von Geschichtlichkeit her betrachtet, das heißt, wenn man diese Wirkungsgeschichte, aus der jedes Verstehen erst seinen Zuspruch erfährt, als wesenhaft mit dem Wirken eines herkünftigen Erinnerns verbunden erfährt. Dies macht auch die Formulierung deutlich, daß Verstehen ein Einrücken in ein solches Überlieferungsgeschehen ist, "in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln". Diese Vermittlung leistet aber genuin das herkünftige Erinnern.

Bei Gadamer selbst heißt es unmißverständlich: "Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht dies in der Weise der Seins-Erinnerung". Das vorgängig-umgreifende Erinnern bildet insofern dieses Überlieferungsgeschehen und diese Wirkungsgeschichte aus, ohne die Verstehen nicht sein kann. Das erst macht auch jenes "Gespräch", von dem Gadamer sagt, daß es das "Ich" mit dem "Anderen" und darüberhinaus mit dem "Ganz-Anderen" vermittelt. So wesentlich für Gadamers Philosophieren auch das dialogische Prinzip ist, so grundlegend unterscheidet es sich doch von einer bloßen Diskurspragmatik. Wenn Gadamer dieses Gespräch für "nicht hintergehbar" hält, so ist doch genau zu beachten, was von diesem Gespräch, das Verstehen erst ermöglicht, gesagt ist: "Es gibt überhaupt nicht das Problem einer für alle gemeinsamen Sprache, sondern es gibt nur das Wunder dessen, daß wir, obwohl wir alle eine verschiedene Sprache haben, uns dennoch über die Grenzen der Individuen, der Völker und der Zeiten hinweg verstehen können (...)".

So wenig sich bei Gadamer Sprache also in Begriffssprache, im Diskurs und im Kategorialen erschöpft, sondern immer schon auf jene verborgene gemeinsame Sprache hinter den Sprachen, also auf die Ur-Sprache des Verstehens selbst verweist, so sehr zielt auch dieses "nicht hintergehbare Gespräch" für ihn im Grunde immer schon, weit über jede Diskurspragmatik hinaus, auf den lógos endiáthetos und das augustinische verbum interius, auf das "innere Wort", also auf jenes Schwerzusagende aber eigentlich doch erst Sprechende, was eine bloß apophantische Logik (als Technik des nur "richtigen" Aussagens) in ihrem Selbstverfügungsanspruch gerade eher verdeckt.

Dies hat Gadamer einmal an dem Vers aus Hölderlins FRIEDENSFEIER "Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander" in Erinnerung zu rufen versucht: "Dieser berühmte Vers will ein Doppeltes sagen: Was ist das für ein Gespräch? Ist es das Gespräch der Menschen mit den Göttern oder der Götter mit den Menschen? Das Gedicht sagt uns: So zu unterscheiden geht nicht an. Wir sollen nicht glauben, daß das Gespräch jeweils nur das eine oder jeweils nur das andere sein kann. Das gerade ist uns gegeben, über uns selbst hinauskommen zu können, sei es, daß wir auf den anderen hören oder dem ganz Anderen zu entsprechen suchen." Daß wirkliches Verstehen und ein echtes Gespräch auch im Alltäglichen kein bloß zeichenhafter Vorgang und Diskurs ist, bestreiten allenfalls die hartgesottensten Nachfolger Teuths. Man erinnert sich sonst, daß es auch ein wortloses Sich-Verstehen gibt, man erinnert sich auch der Erfahrung, daß alle gutgemeinten Worte oder langen Kommentare dort vergebliche Liebesmühen bleiben, wo dieser herkünftige Zuspruch, der ein Verstehen und ein Gespräch erst erlaubt, abwesend bleibt.

So ist ein herkünftiges Verstehen auch offen für die Wahrheit, daß dieses Verstehens selbst keineswegs der willkürlichen Verfügbarkeit unterliegt, sondern des beständig wieder-zu-holenden mühsamen Wiedererinnerns bedarf. Das Verstehen selbst kann man, im Gegensatz zu den vielen Zeichen, nicht getrost nach Hause tragen, wie jenes was man schwarz auf weiß besitzt. Daß wir einmal verstehen, ein andermal aber nicht, daß einmal eine Gestalt etwas Wesentliches offenbart, ein andermal aber nicht - dieser nur zu alltägliche Fall zeigt mithin, daß wir hier tatsächlich erinnern können, dort aber diese Gunst entzogen bleibt, das heißt, die Vergessenheit vorherrscht.




Anmerkungen:

(43) Vgl. H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 3965 (2.Aufl.) [=Werke, Bd.3/2]

(42) Vgl. F.D.E.Schleiermacher, Hermeneutik, hrsgb.v.H.Kimmerle, Heidelberg 3959, S.82

(43) Vgl. H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, ebd., Teil II

(44) Zwar erweist sich dieser je schon erinnerte und das sinnliche Wahrnehmen vorprägende Erwartungshorizont mitunter als korrekturbedürftig, doch dies ändert gar nichts am Faktum als solchen, daß dieses intentionale Wahrnehmen an sich stets und immer schon vor jenem (dem Wesen eines Gegenstandes mehr oder weniger angemessenen) Horizont des Erinnerns geschieht. Es spricht also gar nicht gegen die Vorgängigkeit des Erinnerns, wohl aber deutet es auf die Grenzen des Wissens, denn dieses (mehr oder weniger) "Angemessene" der Intention ist ja offenbar gerade das "mehr oder weniger Angemessene" des Erinnerns, es hängt also offenbar gerade die Tiefe des Verstehens von der Tiefe und Ursprünglichkeit der Anamnesis ab.

(45) Zur Entwicklung und Diskussion der hermeneutischen Frage selbst vgl.: Seminar Philosophische Hermeneutik, hrsgb.v.H.-G.Gadamer/G.Boehm, FfM.3976; - Vgl. auch: J.Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 3993

(46) Vgl. H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.XIV

(47) Vgl. J.Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, a.a.O., S. 347

(48) Vgl. H.-G.Gadamer, Werke, Bd.2, S.503

(49) Vgl. H.-G.Gadamer, Werke, Bd. 2. S.44ff.

(50) Vgl. J.Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, a.a.O., S. 346ff.

(53) Vgl. H.-G.Gadamer, Von der Wahrheit des Wortes, a.a.O., S.22

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