(6) Noch einmal: Erinnern und Vergessen
Ruft man sich nun auch in dieser Hinsicht noch einmal das vorher erwähnte Regenschirm-Beispiel in Erinnerung, so zeigt dies ja nicht nur, daß wir auch dort erinnernd tätig sind, wo wir das Erinnern selbst in der Regel gar nicht wahrnehmen, sondern es zeigt gleichzeitig, daß dieses Erinnern nicht ohne seine Abwesenheit - das Vergessen - ist. Um bei dem zuvor angeführten Beispiel zu bleiben: Wenn ich die Absicht des Umziehens erinnere, vergesse ich (aktuell) die Verabredung; wenn ich den Brief, der zur Post muß, erinnere, vergesse ich (aktuell) das Umziehen; wenn ich schließlich den besonnenen Herbstspaziergang erinnere, vergesse ich (aktuell) den verlorenen Regenschirm und überhaupt dies alles. Man wird einwenden, dies sei nur ein kurzfristiges, vorübergehendes Vergessen, und zwar nur ein Vergessen der jeweiligen partikularen Erinnerungsinhalte. In der Tat kann es während des Spaziergangs geschehen, daß ich all die zuvor vergessenen Dinge erneut erinnere, ja daß das Erinnern mir diesmal noch zudem in Erinnerung ruft, daß ich all diese Dinge (vielleicht wieder einmal) vergessen habe.Kommen wir leer?
Immerhin deutet diese Bewegungsform des sich "erinnernd-vergessenden Erinnerns" - und zwar ganz unabhängig davon, ob man sie im Geiste der platonischen oder der heideggerischen Ontologie deutet - doch soviel an, daß es zuletzt unmöglicher ist, das Herkünftige sozusagen vollständig zu vergessen, als das Je-schon-Umgreifende ereignishaft zu vergegenwärtigen. Deshalb bieten diese Befunde im übrigen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dieses Erinnern selbst leichtfertig dort im alltäglichen Leben in Abrede zu stellen, wo mit einiger Gewißheit - wie beim sogenannten Altersvergessen - lediglich zu beobachten ist, daß das Gedächtnis nachläßt, was ja etwas ganz anderes ist. Es ist für die Nächsten gewiß tragisch, wenn ein ganz naher Mensch sie nicht mehr wiederzuerkennen scheint. Es ist aber auch trostlos, wenn das Abschiednehmen, das wohl seit jeher mit einer entscheidenden Kehre ins Fernste und zugleich Nächste verbunden ist, nur noch als eine "Krankheit" verkannt wird, gar noch die Sterbenden mit der Todesfurcht der Lebenden verfolgt werden.(52) Vgl. E.Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S.39f.
(53) Vgl. M.Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Wegmarken, GA, Bd.9, FfM. 3976, S.230ff.; in Wahrheit kommt die heideggerische Seinserfahrung als "lichtendes Sich-Verbergen" der platonischen Seinserfahrung als Einheit von Erinnern/Anabasis und Vergessen/Katabasis sehr nahe (vgl. dazu auch: H.-G Gadamer, Werke, Bd.2, S.502f.)
(54) Jean Paul, Werke, hrsgb.v.N.Miller, München 3960, Bd.3,o.S. ("Die unsichtbare Loge")
(55) Vgl. E.Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S.23
(56) Vgl. ebd., S.7
(57) Vgl. E.Bloch, Philosophische Grundfragen I, FfM.3963, S.79f.