Schon Herodot widmet sein antikes
Geschichtswerk nicht von ungefähr den Musen, die nach
griechischer Vorstellung gemäß ihrem mütterlichen Erbe "Erinnern
einhauchen". Daß gerade das sich für seine
Geschichtlichkeit interessierende Dasein auf die besondere Gunst
der Mnemosyne angewiesen ist, scheint so offenkundig, daß über
lange Zeiten Mnemosyne selbst - einigermaßen unter Wert
- als die spezielle Muse der Historiologie betrachtet
wurde. So spricht noch Hegel davon - wobei freilich zu bedenken
ist, daß Geschichte für ihn, grundsätzlich, immer schon die
Geschichtlichkeit des Seins-Geistes selbst und insofern nicht nur
Historiologie sondern eine (metaphysische) "Seinsgeschichte"
ist -, daß der Geschichtsforscher "im Tempel der Mnemosyne"
niederlegt, was er dank des Erinnerns erforscht hat. Zwar ist das, wie noch näher zu sehen ist, eine
Reduzierung der ursprünglichen Bedeutung der Mnemosyne, doch
deutet es gleichwohl an, daß auch Geschichtlichkeit nichts
Objekthaftes, sondern je schon ein Geschehen im
Erinnern ist. In eben diesem Sinn faßt Hegel auch wirkliches
"Verinnerlichen" auf, wenn er in der ENZYKLOPÄDIE ausführt:"Indem
die Intelligenz den Gegenstand von einem Äußerlichen zu einem
Innerlichen macht, verinnert sie sich selbst [d.i. je schon als
"Intelligenz", Geist, Erinnern]. Dies beides, die
Innerlichmachung des Gegenstandes und die Erinnerung des Geistes,
ist ein und dasselbe (...)" (ENZYKLOPÄDIE, §445, Zusatz)
Das wirkliche Verinnerlichen im
Sinne Hegels ist also im wesentlichen auch je schon ein Erinnern
der Je-schon-Innerheit des Erinnerns. Diese Selbstwahrnehmung des
Erinnerns ist als solche die Heimstätte des Gewissens, aber
zugleich auch jene Schnittstelle, an der überhaupt
so etwas wie Zeitlichkeit und damit auch Geschichtlichkeit
erfahrbar wird. Ohne den Vorgang des Erinnerns wüßten wir gar
nichts von Zeit und Zeitlichkeit, im Selbstvollzug des Erinnerns
konstituiert sich erst ein Bewußtsein des In-der-Zeit-seins
und damit auch einer Geschichtlichkeit des Daseins. Doch zugleich,
und darauf deutet Hegels Ausführung zunächst hin, erwächst in
diesem Selbstvollzug des Erinnerns auch allererst die Wahrnehmung
von so etwas wie Dauer, welche die Vorstellung
eines bloßen "Werdens zum Vergehen" gerade aufhebt.
Diese Selbsterfahrung des Erinnerns bewirkt, daß die an sich
partikularen uns umgebenden Geschehnisse überhaupt erst eine
Dauer und eine bestimmte Gestalt gewinnen: "Indem ich daher
den Inhalt des Gefühls [das meint hier das bloße flüchtige Berührtwerden
von Geschehnissen] in die Innerlichkeit der Intelligenz setze
(...), hebe ich denselben aus der Besonderheit der Zeit und des
Raumes heraus (...) (sodaß) (...) alles, was geschieht, erst
durch seine Aufnahme in die (...) Intelligenz für uns Dauer erhält."
(ENZYKLOPÄDIE § 452)
Das bloße sensuelle Affiziertwerden von
Geschehnissen ist in seiner Partikularität und Flüchtigkeit für
Hegel gleichsam nur das haltlos Vorüberrauschende.
Erst die Aufnahme in die "Innerlichkeit der Intelligenz",
wie es in Hegels rationalistischer Terminologie heißt, das heißt,
erst das Wiedererinnern ihres allgemeinen Wesens, verleiht diesen
an sich flüchtigen Eindrücken Bestimmtheit, Gestalt
und Dauer. Das äußere Gegenwartsgeschehen, das man mitunter mißverständlicherweise
Geschichte nennt, ist insofern, auch für Hegel, zunächst einmal
das durchaus Ungeschichtliche, als ein Marktplatz des Werdens zum
Vergehen das durchaus Unverständliche und Gestaltlose. Das heißt
aber: Geschichtlichkeit gründet wesenhaft - ähnlich wie zuvor
schon in Hinblick auf Zeiterleben und Zeitbewußtsein zu sehen
war - im herkünftigen Erinnern selbst. So wie man mit Droysen
sagen kann, daß Geschichte nur "als erinnert"
existiert, so kann man ebensogut sagen, daß Erinnern allererst
Geschichtlichkeit schafft.
Doch um welche "Geschichtlichkeit"
geht es dann eigentlich? Was kann dieser heillos vieldeutig
gewordene Begriff aus mnemontischer Perspektive überhaupt
benennen? Soviel läßt sich sagen: er meint gewiß keinen
Historismus, aber gewiß auch keine "Seinsgeschichte",
denn Sein hat ebenso wenig eine Geschichte wie das Erinnern
selbst.
Sofern aber nun in Hegels Geschichtsmetaphysik
als solcher und in seinem, zu einer eigenmächtigen Wesenheit
hypostasierten "Weltgeist" nichts anderes als die
christliche "Vorsehung" - also eine Seinsgeschichte als
"Heilsgeschichte" - fortzuwirken scheint, das
historische Geschehen also nicht als ein letztlich zufälliges
betrachtet wird, sondern gleichsam einem "höheren Plan"
zu folgen scheint, verläßt sie fraglos eine solche
Geschichtlichkeit, die ein herkünftiges Erinnern selbst stiftet
und wird eben spekulative Geschichts-Metaphysik. Auch der
schwierige Begriff der Seinsgeschichte bei Heidegger
- der zwar im Ansatz von allen Nähen zum Historischen
und Historistischen ferngehalten wird - behält gleichwohl noch
eine seltsame Nähe zum Hegelschen Weltgeist als
einem eigenmächtigen Geschichtslogos und ist - zumindest in den
frühen Dreißiger Jahren, wo er sich mit einem teilweise
ausgesprochen messianisch anmutenden "Willen zur Geschichte" verquickt -, durchaus "eschatologisch" (und insofern
auch durchaus ungriechisch) gefärbt. Allerdings
besinnt sich dieser Begriff bei Heidegger - nicht zuletzt
aufgrund der entscheidenden Hölderlin-Erfahrung - zunehmend auf
seine eigentlich inner-mnemontische Dimension: "Seynsgeschichte"
wird ihm mehr und mehr zum griechisch verstandenen Geschickhaften.
Gleichwohl bleibt die Begriffsprägung insofern
unglücklich und beschwört immer neue Mißverständnisse herauf,
als man doch sagen muß, daß Sein selbst als das Inständige
weder "Vergangenheit" noch "Zukunft" und
mithin auch keine "Geschichte" hat und haben kann; oder, wie Gadamer einmal unmittelbar in Hinblick auf
das herkünftige Erinnern selbst sagt: "Überall, wo
Philosophieren versucht wird, geschieht in dieser Weise Seins-Erinnerung.
Trotzdem gibt es, wie mir scheint, keine Geschichte der
Seinserinnerung.
Erinnerung hat keine Geschichte (...)"
Dies kommt auch dem anfänglichen griechischen
Verständnis am nächsten, das keinen besonderen Geschichtslogos
kennt, aber auch keine Seinsgeschichte, sondern nur
die zeitlosen Ursprungs-Geschichten des Mythos
einerseits, ein uneinsehbares Geschick zum anderen,
vor allem aber das anfang- und endlose - und insofern auch
geschichtslose - Sein selbst, dessen Gesetzmäßigkeiten
logisch zu bestimmen dieser Welthabe freilich noch
undenkbar und hybrid erschienen wäre. Dazu merkt Löwith einmal
an: "Vom Zufälligen gibt es (...) keine philosophische
Wissenschaft, und darum haben die griechischen Philosophen Recht
gehabt, wenn sie die Geschichte den Historikern überließen und
keine Geschichtsphilosophie erdachten, die aus unserer
Menschengeschichte etwas Philosophisches macht (...) Wo immer die
wechselvollen Geschicke der Geschichte wahrhaft empfunden wurden
[wobei der Autor hier Homer, nicht Herodot erwähnt] (...), war
die Einsicht in die Unzuverlässigkeit und Hinfällgkeit aller
menschlichen Dinge die letzte Weisheit des Historikers."
Noch fragwürdiger als die vermeintlichen
"Tatsachensammlungen" des Historismus, der sich selbst
gar nicht als Erinnern weiß, ist für Löwith also jene
angesprochene spekulative Geschichts-Metaphysik, die der, von
vergeßlichen Menschen gemachten Geschichte einen tieferen oder höheren
Sinn zuspricht, die zufällige Menschengeschichte zu einem eigenmächtigen
Logos erhebt, sie gar im Extremfall vergottet. Die
heillose Begriffsverwirrung um das Geschichtliche gründet
wohl zuletzt darin, daß der Übergang vom mythischen Seinskosmos
zum Anthropozentrismus, vom ursprünglichen Erinnern zum
positiven Wissen, auch zugleich der Übergang von den Ursprungs-Mythen
als den heiligen Geschichten vom Sein zur Menschengeschichte,
dem selbstherrlich von Menschen gemachten Geschick ist.
Menschengeschichte, die sich als "Fortschrittsgeschichte"
selbstherrlich vom ursprünglichen Sein lossagt und sich als
"Kulturgeschichte" kühn der Natur, einschließlich der
eigenen, gegenüberstellt, ist aber als solche gerade das Produkt
des Vergessens jener anfänglichen Ursprungs-Geschichten.
Der Mythos aber weiß, daß das Sein keine Geschichte hat und
haben kann.
In Hinblick auf diese neuzeitlich-subjektzentristische
Geschichts-Metaphysik schreibt Löwith: "Der übermenschliche
physische Kosmos gerät in Vergessenheit, und die Welt wird von
Grund aus vermenschlicht. Die Welt wird zur Menschenwelt.
Zugleich mit diesem Schwund der Welt verflüchtigt sich die
menschliche Natur in eine geschichtliche Existenz." Löwith spricht im Grunde vom gesamten nach-griechischen,
besonders aber vom christlichen Dasein als von "einer
Verkehrung der natürlichen Proportionen von Welt und
Menschenwelt"; der "griechische Kosmos" werde zur
"christlichen Menschenwelt", in der "das
Heilsgeschehen zur Weltgeschichte"
werde. Zweifellos hat gerade das
historische Christentum - Hegel selbst rechnet ihm das noch als
das eigentliche Verdienst an - diesen Prozeß der universellen
Vermenschlichung des Seins, dessen Grenzen und Gefahren
heute spürbarer werden, wesentlich gefördert und vielleicht
tatsächlich erst in die ganze Welt hinausgetragen.
Doch ist jene Vergeschichtlichung des Seins und die
Historisierung des einst übermenschlichen Kosmos - und damit
auch die Eschatologie und Erwartungs-Haltung als solche, welche
doch nicht minder eine Quelle jeder Geschichtsmetaphysik ist -
schon ebenso in der jüdischen Religion angelegt. In der GENESIS
wird der mythische Kosmos geschichtlich und eschatologisch, im
christlichen Glauben an den Menschengott wird dieser Kosmos
universell vermenschlicht. So entwickelt sich offenbar aus dem
Sein erinnernden mythischen Dasein zunehmend jene abendländische
Menschengeschichte als Ausdruck der Erwartung einer
Heilsgeschichte.
Die eigentliche Geschichtlichkeit eines herkünftigen
Erinnerns bildet sich hingegen seit je in den Ursprungs-Mythen
selbst als jenen heiligen kosmischen Geschichten aus,
die das Seinsgeschehen als das je schon Unvergeßliche
unmittelbar in Erfahrung bringen. Nicht zuletzt das vom
olympischen Mythos durchstimmte Dasein sucht offenbar das "Goldene
Zeitalter" nicht, wie spätere Zeiten, in einer äußeren,
menschengemachten Geschichte, sondern ihm ist dies, wie noch näher
zu sehen ist, im wesentlichen vor allem eine mnemontische
Wirklichkeit; denn nur, wie Hölderlin einmal - ganz im griechischen
Sinn und fern jenes verhängnisvollen "Geschichtswollens"
- sagt (vgl.4,3 (280f.)), ein "Gott der Mythe" bewirke,
daß "jeder sein höheres Leben" und damit eine
wiedergewonnene Seinsnähe "die Feier des Lebens mythisch"
feiere.
In besonderer Hinsicht auf die griechische
Kunst gerät dieser Zusammenhang von Geschichtlichkeit und
Erinnern - wenngleich in selbst wiederum ganz kulturgeschichtlich
aufgefaßter Form - in Warburgs
Mnemosyne-Projekt ins
Blickfeld. Warburgs "Museum des Mnemosynischen" - in
dem nicht nur, wie in jedem "museon", an die Musen und
ihre Hervorbringungen erinnert, sondern gleichsam die Kunst
selbst als ein genuines "Erinnerungs-Organ" der
Menschheit eigens erfahrbar werden soll - versucht in Form von,
freilich sehr fragmentarisch gebliebenen, Stammbäumen
insbesondere das Fortleben und die "Wanderung"
griechischer Ur-Gestalten durch die Jahrhunderte zu dokumentieren.
Warburg erscheinen die künstlerischen
Gestalten allgemein als "eine Geschichte der Leidenschaften",
die in einer "von der Zivilisation nur scheinbar überdeckten
Daseinsschicht" ständig gleichbleiben, und die "der
formverleihende Geist deswegen in immer neuen Kulturgebilden
zugleich offenbaren und bändigen" müsse. Zwar erwachsen diese mehr oder weniger psychologischen
Annäherungen bei Warburg vor allem aus der intensiven
Auseinandersetzung mit der Florentiner Renaissance (und weniger
mit dessen griechischen Ahnen selbst), doch bleibt in
Hinblick auf den mnemosynischen Charakter der Musen hier soviel
festzuhalten, daß aus Warburgs Perspektive die griechische Kunst
gerade deshalb einen so unvergleichbaren und prototypischen Rang
in der abendländischen Kunstgeschichte einnimmt, weil sie
gleichsam die Archen, die je schon vollkommen
gestalteten "hohen Sinnbilder der gebändigten Urkräfte" geprägt habe. Gerade das griechische Dasein hat in
Warburgs Augen diese angesprochenen "Ur-Leidenschaften"
ganz unerschrocken herausgefordert und völlig "ent-fesselt",
aber doch zugleich auch in einzigartigen Gestaltungen "ge-fesselt";
gerade sie hat damit aber jene paradeigmata dieser
Vermittlung als solcher hervorgebracht, die seither im "Gattungsgedächtnis"
lebendig fortleben, an die sich die Kunst, insbesondere die der
Renaissance, immer wieder nacheifernd, variierend, zuweilen auch
negierend, doch stets sich danach ausrichtend wiedererinnert.
So bewirkt Kunst einen "Rhythmus vom
Einschwingen in die Materie und dem Ausschwingen zur Sophrosyne",
einen Rhythmus von "ein-schwingender Phantasie und ausschwingender
Vernunft". So wie der einzelne Künstler
seine inneren Leidenschaften erinnert und diese
zugleich in der Formgebung entäußernd bannt, so leisten für
Warburg die Künste und Kunstgestalten dies auch in
kulturhistorischer Dimension für die gesamte Gattung. Was in
Warburgs Forschungshorizont freilich nicht auftaucht, ist die
Frage, warum die griechische Kunst denn nun überhaupt so ursprünglich
und paradigmatisch gestalten konnte, so daß ohne sie auch die
großen Renaissance-Hervorbringungen gar nicht denkbar wären. Es
muß wohl etwas mit der außerordentliche Nähe und dem Wesen der
frühgriechischen Mnemosyne zu tun haben.
Anmerkungen:
(58) Vgl.
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, FfM.
3986, S.32
(59) Vgl.
S. Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der
Technik, Tübingen 3989, S.30ff.; vgl. auch M.H., Beiträge zur
Philosophie, a.a.O., S.33f., S.63f.
(60) Vgl.
M.H., Sein und Zeit, a.a.O., S.39f.; Diesen widerspruchsvollen
Prozeß dokumentieren in seiner ganzen Widersprüchlichkeit
gerade die BEITRÄGE sehr augenfällig (vgl. M.H., Beiträge zur
Philosophie, a.a.O., S.32f., S.63f., S.373ff.)
(63) Vgl.
auch Meister Eckart, Erste Pariser Vorlesung (zu Sir 24,23f.), in:
D.Mieth, a.a.O., S.209
(62) Vgl.
H.-G.Gadamer, Werke, Bd.2, S.503
(63) Vgl.
K.Löwith, Vorträge und Abhandlungen, Zur Kritik der
christlichen Überlieferung, Stuttgart 3966, S.337f.
(64) Vgl.
K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen, Zur Kritik der
geschichtlichen Existenz, Stuttgart 3960, S.233
(65) Vgl.ebd.,
S.235-239;
(66) Vgl.
W.Hofmann/G.Syamken/M.Warnke, Die Menschenrechte des Auges, Über
Aby Warburg, FfM.3980
(67) ebd.,
S.64; Dies kommentiert W.Hofmann: "Für Warburg ist das
Kunstwerk nicht ein Gegenstand interesselosen Wohlgefallens,
sondern das Erzeugnis unserer ewigen Ängste und Phobien. Durch
sein Werk schützt der Künstler sich vor dem Angriff der Kräfte,
die er herausgefordert hat. Der formgebende Akt ist ein apotropäischer
Akt" (ebd., S.90). Und Warnke ergänzt: "(...) indem
die Bilder die anstachelnden Energien gestalten, im Schein vor
Augen stellen, ist der unmittelbare Antrieb zugleich aktiviert
und neutralisiert, erinnert und entäußert" (ebd., S.343)
(68) ebd.,
S.66f.
(69) ebd.,
S.350f.
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