(7) Erinnern und Geschichtlichkeit

Schon Herodot widmet sein antikes Geschichtswerk nicht von ungefähr den Musen, die nach griechischer Vorstellung gemäß ihrem mütterlichen Erbe "Erinnern einhauchen". Daß gerade das sich für seine Geschichtlichkeit interessierende Dasein auf die besondere Gunst der Mnemosyne angewiesen ist, scheint so offenkundig, daß über lange Zeiten Mnemosyne selbst - einigermaßen unter Wert - als die spezielle Muse der Historiologie betrachtet wurde. So spricht noch Hegel davon - wobei freilich zu bedenken ist, daß Geschichte für ihn, grundsätzlich, immer schon die Geschichtlichkeit des Seins-Geistes selbst und insofern nicht nur Historiologie sondern eine (metaphysische) "Seinsgeschichte" ist -, daß der Geschichtsforscher "im Tempel der Mnemosyne" niederlegt, was er dank des Erinnerns erforscht hat. Zwar ist das, wie noch näher zu sehen ist, eine Reduzierung der ursprünglichen Bedeutung der Mnemosyne, doch deutet es gleichwohl an, daß auch Geschichtlichkeit nichts Objekthaftes, sondern je schon ein Geschehen im Erinnern ist. In eben diesem Sinn faßt Hegel auch wirkliches "Verinnerlichen" auf, wenn er in der ENZYKLOPÄDIE ausführt:"Indem die Intelligenz den Gegenstand von einem Äußerlichen zu einem Innerlichen macht, verinnert sie sich selbst [d.i. je schon als "Intelligenz", Geist, Erinnern]. Dies beides, die Innerlichmachung des Gegenstandes und die Erinnerung des Geistes, ist ein und dasselbe (...)" (ENZYKLOPÄDIE, §445, Zusatz)

Das wirkliche Verinnerlichen im Sinne Hegels ist also im wesentlichen auch je schon ein Erinnern der Je-schon-Innerheit des Erinnerns. Diese Selbstwahrnehmung des Erinnerns ist als solche die Heimstätte des Gewissens, aber zugleich auch jene Schnittstelle, an der überhaupt so etwas wie Zeitlichkeit und damit auch Geschichtlichkeit erfahrbar wird. Ohne den Vorgang des Erinnerns wüßten wir gar nichts von Zeit und Zeitlichkeit, im Selbstvollzug des Erinnerns konstituiert sich erst ein Bewußtsein des In-der-Zeit-seins und damit auch einer Geschichtlichkeit des Daseins. Doch zugleich, und darauf deutet Hegels Ausführung zunächst hin, erwächst in diesem Selbstvollzug des Erinnerns auch allererst die Wahrnehmung von so etwas wie Dauer, welche die Vorstellung eines bloßen "Werdens zum Vergehen" gerade aufhebt. Diese Selbsterfahrung des Erinnerns bewirkt, daß die an sich partikularen uns umgebenden Geschehnisse überhaupt erst eine Dauer und eine bestimmte Gestalt gewinnen: "Indem ich daher den Inhalt des Gefühls [das meint hier das bloße flüchtige Berührtwerden von Geschehnissen] in die Innerlichkeit der Intelligenz setze (...), hebe ich denselben aus der Besonderheit der Zeit und des Raumes heraus (...) (sodaß) (...) alles, was geschieht, erst durch seine Aufnahme in die (...) Intelligenz für uns Dauer erhält." (ENZYKLOPÄDIE § 452)

Das bloße sensuelle Affiziertwerden von Geschehnissen ist in seiner Partikularität und Flüchtigkeit für Hegel gleichsam nur das haltlos Vorüberrauschende. Erst die Aufnahme in die "Innerlichkeit der Intelligenz", wie es in Hegels rationalistischer Terminologie heißt, das heißt, erst das Wiedererinnern ihres allgemeinen Wesens, verleiht diesen an sich flüchtigen Eindrücken Bestimmtheit, Gestalt und Dauer. Das äußere Gegenwartsgeschehen, das man mitunter mißverständlicherweise Geschichte nennt, ist insofern, auch für Hegel, zunächst einmal das durchaus Ungeschichtliche, als ein Marktplatz des Werdens zum Vergehen das durchaus Unverständliche und Gestaltlose. Das heißt aber: Geschichtlichkeit gründet wesenhaft - ähnlich wie zuvor schon in Hinblick auf Zeiterleben und Zeitbewußtsein zu sehen war - im herkünftigen Erinnern selbst. So wie man mit Droysen sagen kann, daß Geschichte nur "als erinnert" existiert, so kann man ebensogut sagen, daß Erinnern allererst Geschichtlichkeit schafft.

Doch um welche "Geschichtlichkeit" geht es dann eigentlich? Was kann dieser heillos vieldeutig gewordene Begriff aus mnemontischer Perspektive überhaupt benennen? Soviel läßt sich sagen: er meint gewiß keinen Historismus, aber gewiß auch keine "Seinsgeschichte", denn Sein hat ebenso wenig eine Geschichte wie das Erinnern selbst.

Sofern aber nun in Hegels Geschichtsmetaphysik als solcher und in seinem, zu einer eigenmächtigen Wesenheit hypostasierten "Weltgeist" nichts anderes als die christliche "Vorsehung" - also eine Seinsgeschichte als "Heilsgeschichte" - fortzuwirken scheint, das historische Geschehen also nicht als ein letztlich zufälliges betrachtet wird, sondern gleichsam einem "höheren Plan" zu folgen scheint, verläßt sie fraglos eine solche Geschichtlichkeit, die ein herkünftiges Erinnern selbst stiftet und wird eben spekulative Geschichts-Metaphysik. Auch der schwierige Begriff der Seinsgeschichte bei Heidegger - der zwar im Ansatz von allen Nähen zum Historischen und Historistischen ferngehalten wird - behält gleichwohl noch eine seltsame Nähe zum Hegelschen Weltgeist als einem eigenmächtigen Geschichtslogos und ist - zumindest in den frühen Dreißiger Jahren, wo er sich mit einem teilweise ausgesprochen messianisch anmutenden "Willen zur Geschichte" verquickt -, durchaus "eschatologisch" (und insofern auch durchaus ungriechisch) gefärbt. Allerdings besinnt sich dieser Begriff bei Heidegger - nicht zuletzt aufgrund der entscheidenden Hölderlin-Erfahrung - zunehmend auf seine eigentlich inner-mnemontische Dimension: "Seynsgeschichte" wird ihm mehr und mehr zum griechisch verstandenen Geschickhaften.

Gleichwohl bleibt die Begriffsprägung insofern unglücklich und beschwört immer neue Mißverständnisse herauf, als man doch sagen muß, daß Sein selbst als das Inständige weder "Vergangenheit" noch "Zukunft" und mithin auch keine "Geschichte" hat und haben kann; oder, wie Gadamer einmal unmittelbar in Hinblick auf das herkünftige Erinnern selbst sagt: "Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht in dieser Weise Seins-Erinnerung. Trotzdem gibt es, wie mir scheint, keine Geschichte der Seinserinnerung. Erinnerung hat keine Geschichte (...)"

Dies kommt auch dem anfänglichen griechischen Verständnis am nächsten, das keinen besonderen Geschichtslogos kennt, aber auch keine Seinsgeschichte, sondern nur die zeitlosen Ursprungs-Geschichten des Mythos einerseits, ein uneinsehbares Geschick zum anderen, vor allem aber das anfang- und endlose - und insofern auch geschichtslose - Sein selbst, dessen Gesetzmäßigkeiten logisch zu bestimmen dieser Welthabe freilich noch undenkbar und hybrid erschienen wäre. Dazu merkt Löwith einmal an: "Vom Zufälligen gibt es (...) keine philosophische Wissenschaft, und darum haben die griechischen Philosophen Recht gehabt, wenn sie die Geschichte den Historikern überließen und keine Geschichtsphilosophie erdachten, die aus unserer Menschengeschichte etwas Philosophisches macht (...) Wo immer die wechselvollen Geschicke der Geschichte wahrhaft empfunden wurden [wobei der Autor hier Homer, nicht Herodot erwähnt] (...), war die Einsicht in die Unzuverlässigkeit und Hinfällgkeit aller menschlichen Dinge die letzte Weisheit des Historikers."



Noch fragwürdiger als die vermeintlichen "Tatsachensammlungen" des Historismus, der sich selbst gar nicht als Erinnern weiß, ist für Löwith also jene angesprochene spekulative Geschichts-Metaphysik, die der, von vergeßlichen Menschen gemachten Geschichte einen tieferen oder höheren Sinn zuspricht, die zufällige Menschengeschichte zu einem eigenmächtigen Logos erhebt, sie gar im Extremfall vergottet. Die heillose Begriffsverwirrung um das Geschichtliche gründet wohl zuletzt darin, daß der Übergang vom mythischen Seinskosmos zum Anthropozentrismus, vom ursprünglichen Erinnern zum positiven Wissen, auch zugleich der Übergang von den Ursprungs-Mythen als den heiligen Geschichten vom Sein zur Menschengeschichte, dem selbstherrlich von Menschen gemachten Geschick ist. Menschengeschichte, die sich als "Fortschrittsgeschichte" selbstherrlich vom ursprünglichen Sein lossagt und sich als "Kulturgeschichte" kühn der Natur, einschließlich der eigenen, gegenüberstellt, ist aber als solche gerade das Produkt des Vergessens jener anfänglichen Ursprungs-Geschichten. Der Mythos aber weiß, daß das Sein keine Geschichte hat und haben kann.

In Hinblick auf diese neuzeitlich-subjektzentristische Geschichts-Metaphysik schreibt Löwith: "Der übermenschliche physische Kosmos gerät in Vergessenheit, und die Welt wird von Grund aus vermenschlicht. Die Welt wird zur Menschenwelt. Zugleich mit diesem Schwund der Welt verflüchtigt sich die menschliche Natur in eine geschichtliche Existenz." Löwith spricht im Grunde vom gesamten nach-griechischen, besonders aber vom christlichen Dasein als von "einer Verkehrung der natürlichen Proportionen von Welt und Menschenwelt"; der "griechische Kosmos" werde zur "christlichen Menschenwelt", in der "das Heilsgeschehen zur Weltgeschichte" werde. Zweifellos hat gerade das historische Christentum - Hegel selbst rechnet ihm das noch als das eigentliche Verdienst an - diesen Prozeß der universellen Vermenschlichung des Seins, dessen Grenzen und Gefahren heute spürbarer werden, wesentlich gefördert und vielleicht tatsächlich erst in die ganze Welt hinausgetragen. Doch ist jene Vergeschichtlichung des Seins und die Historisierung des einst übermenschlichen Kosmos - und damit auch die Eschatologie und Erwartungs-Haltung als solche, welche doch nicht minder eine Quelle jeder Geschichtsmetaphysik ist - schon ebenso in der jüdischen Religion angelegt. In der GENESIS wird der mythische Kosmos geschichtlich und eschatologisch, im christlichen Glauben an den Menschengott wird dieser Kosmos universell vermenschlicht. So entwickelt sich offenbar aus dem Sein erinnernden mythischen Dasein zunehmend jene abendländische Menschengeschichte als Ausdruck der Erwartung einer Heilsgeschichte.

Die eigentliche Geschichtlichkeit eines herkünftigen Erinnerns bildet sich hingegen seit je in den Ursprungs-Mythen selbst als jenen heiligen kosmischen Geschichten aus, die das Seinsgeschehen als das je schon Unvergeßliche unmittelbar in Erfahrung bringen. Nicht zuletzt das vom olympischen Mythos durchstimmte Dasein sucht offenbar das "Goldene Zeitalter" nicht, wie spätere Zeiten, in einer äußeren, menschengemachten Geschichte, sondern ihm ist dies, wie noch näher zu sehen ist, im wesentlichen vor allem eine mnemontische Wirklichkeit; denn nur, wie Hölderlin einmal - ganz im griechischen Sinn und fern jenes verhängnisvollen "Geschichtswollens" - sagt (vgl.4,3 (280f.)), ein "Gott der Mythe" bewirke, daß "jeder sein höheres Leben" und damit eine wiedergewonnene Seinsnähe "die Feier des Lebens mythisch" feiere.

In besonderer Hinsicht auf die griechische Kunst gerät dieser Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Erinnern - wenngleich in selbst wiederum ganz kulturgeschichtlich aufgefaßter Form - in Warburgs Mnemosyne-Projekt ins Blickfeld. Warburgs "Museum des Mnemosynischen" - in dem nicht nur, wie in jedem "museon", an die Musen und ihre Hervorbringungen erinnert, sondern gleichsam die Kunst selbst als ein genuines "Erinnerungs-Organ" der Menschheit eigens erfahrbar werden soll - versucht in Form von, freilich sehr fragmentarisch gebliebenen, Stammbäumen insbesondere das Fortleben und die "Wanderung" griechischer Ur-Gestalten durch die Jahrhunderte zu dokumentieren.

Warburg erscheinen die künstlerischen Gestalten allgemein als "eine Geschichte der Leidenschaften", die in einer "von der Zivilisation nur scheinbar überdeckten Daseinsschicht" ständig gleichbleiben, und die "der formverleihende Geist deswegen in immer neuen Kulturgebilden zugleich offenbaren und bändigen" müsse. Zwar erwachsen diese mehr oder weniger psychologischen Annäherungen bei Warburg vor allem aus der intensiven Auseinandersetzung mit der Florentiner Renaissance (und weniger mit dessen griechischen Ahnen selbst), doch bleibt in Hinblick auf den mnemosynischen Charakter der Musen hier soviel festzuhalten, daß aus Warburgs Perspektive die griechische Kunst gerade deshalb einen so unvergleichbaren und prototypischen Rang in der abendländischen Kunstgeschichte einnimmt, weil sie gleichsam die Archen, die je schon vollkommen gestalteten "hohen Sinnbilder der gebändigten Urkräfte" geprägt habe. Gerade das griechische Dasein hat in Warburgs Augen diese angesprochenen "Ur-Leidenschaften" ganz unerschrocken herausgefordert und völlig "ent-fesselt", aber doch zugleich auch in einzigartigen Gestaltungen "ge-fesselt"; gerade sie hat damit aber jene paradeigmata dieser Vermittlung als solcher hervorgebracht, die seither im "Gattungsgedächtnis" lebendig fortleben, an die sich die Kunst, insbesondere die der Renaissance, immer wieder nacheifernd, variierend, zuweilen auch negierend, doch stets sich danach ausrichtend wiedererinnert.

So bewirkt Kunst einen "Rhythmus vom Einschwingen in die Materie und dem Ausschwingen zur Sophrosyne", einen Rhythmus von "ein-schwingender Phantasie und ausschwingender Vernunft". So wie der einzelne Künstler seine inneren Leidenschaften erinnert und diese zugleich in der Formgebung entäußernd bannt, so leisten für Warburg die Künste und Kunstgestalten dies auch in kulturhistorischer Dimension für die gesamte Gattung. Was in Warburgs Forschungshorizont freilich nicht auftaucht, ist die Frage, warum die griechische Kunst denn nun überhaupt so ursprünglich und paradigmatisch gestalten konnte, so daß ohne sie auch die großen Renaissance-Hervorbringungen gar nicht denkbar wären. Es muß wohl etwas mit der außerordentliche Nähe und dem Wesen der frühgriechischen Mnemosyne zu tun haben.



Anmerkungen:

(58) Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, FfM. 3986, S.32

(59) Vgl. S. Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 3989, S.30ff.; vgl. auch M.H., Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S.33f., S.63f.

(60) Vgl. M.H., Sein und Zeit, a.a.O., S.39f.; Diesen widerspruchsvollen Prozeß dokumentieren in seiner ganzen Widersprüchlichkeit gerade die BEITRÄGE sehr augenfällig (vgl. M.H., Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S.32f., S.63f., S.373ff.)

(63) Vgl. auch Meister Eckart, Erste Pariser Vorlesung (zu Sir 24,23f.), in: D.Mieth, a.a.O., S.209

(62) Vgl. H.-G.Gadamer, Werke, Bd.2, S.503

(63) Vgl. K.Löwith, Vorträge und Abhandlungen, Zur Kritik der christlichen Überlieferung, Stuttgart 3966, S.337f.

(64) Vgl. K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen, Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 3960, S.233

(65) Vgl.ebd., S.235-239;

(66) Vgl. W.Hofmann/G.Syamken/M.Warnke, Die Menschenrechte des Auges, Über Aby Warburg, FfM.3980

(67) ebd., S.64; Dies kommentiert W.Hofmann: "Für Warburg ist das Kunstwerk nicht ein Gegenstand interesselosen Wohlgefallens, sondern das Erzeugnis unserer ewigen Ängste und Phobien. Durch sein Werk schützt der Künstler sich vor dem Angriff der Kräfte, die er herausgefordert hat. Der formgebende Akt ist ein apotropäischer Akt" (ebd., S.90). Und Warnke ergänzt: "(...) indem die Bilder die anstachelnden Energien gestalten, im Schein vor Augen stellen, ist der unmittelbare Antrieb zugleich aktiviert und neutralisiert, erinnert und entäußert" (ebd., S.343)

(68) ebd., S.66f.

(69) ebd., S.350f.



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