Wer ist Diotima?

Das Symposion ist der einzige überlieferte platonische Dialog, in dem die Rede einer weisen Frau im Mittelpunkt steht. Das ist, vor dem Hintergrund des männlich geprägten Charakters der Philosophie Sokrates´ und Platons, bemerkenswert. Mehr noch, es ist Sokrates selbst, der die Rede dieser "weisen Frau aus Mantinea" namens Diotima zitiert und, auf den ersten Blick zumindest, sogar ohne offen erkennbaren Widerspruch zitiert - obwohl die Diotima-Rede in ihrem Grundtenor ein Hoheslied auf das Aphroditische und das in ihrem Horizont erfahrene "Schöne" singt, also eine damals durchaus populäre Auffassung des Schönen vertritt, denen alle übrigen Teilnehmer des Symposions unter Berufung auf eine "ältere" philosophische Eros-Auffassungen ausdrücklich widersprechen.

Wird Sokrates also im Symposion zum Fürsprecher einer ausgesprochen femininen Philosophie? Wer ist diese weise Frau aus Mantinea, die, wie es heißt, "in diesem und vielem sonst weise" war? Hat man in diesem Dialog, bis heute, entscheidende Ironie-Signale verkannt und allzu unkritisch selbst das als platonisches Gedankengut rezipiert, was ihm in mancher Hinsicht entschieden widerspricht? Der Frage, inwieweit diese Diotima-Rede mithin als authentisch bzw. als sokratisches Gedankengut betrachtet werden kann, soll hier nachgedacht werden. Dabei können nur einige offensichtliche Widersprüche der Diotima-Rede im Kontext des sokratischen Philosophierens hervorgehoben werden.


Das Symposion ist, im Gegensatz zur Vorrede, sehr klar und übersichtlich gegliedert: Agathon, der als der Lieblingsschüler des Sokrates eingeführt wird, gibt ein Gastmahl für seinen Meister und gemeinsame Freunde. Das Thema des Gesprächs ist das Wesen des Eros und des Schönen. Teilnehmer dieses heiteren Gedankenwettstreits unter Männern sind Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Agathon, Sokrates und der verspätet und angetrunken eintreffende Alkibiades, die in dieser Reihenfolge zum Thema das Wort ergreifen.

Die Einleitung zum Symposion ist dagegen weitaus weniger klar. Die wiedergegebenen Reden, so ist zu erfahren, hat angeblich ein Aristodemos bezeugt, der allerdings selbst am Gastmahl als zuhörender Knabe teilgenommen habe. Aristodemos wiederum habe angeblich Apollodor davon erzählt, der es auch noch von einem anderen erfahren habe, der es wiederum von Phoinix gehört habe; Apollodor wiederum - der, wie es heißt, bekannt dafür sei, daß er die vertraulichen "Worte der Freunde verkünde", eine höfliche Umschreibung seiner notorischen Indiskretion und Unzuverlässigkeit - habe sich angeblich das Wichtigste von Sokrates "bestätigen" lassen...

Diese bewußt den eigentlichen Vorgang, von dem zu berichten ist, durch mehrfache Kolportage über zum Teil zweifelhafte Leute, die zudem teilweise noch Kinder waren, in den Bereich des Ungesicherten und möglicherweise sogar Fiktiven verlegende Vorrede kann offenbar nur einen Zweck erfüllen: mit gutem Grund will Platon nicht selbst als der Autor oder Authentor der wiedergegebenen Reden gelten. Die Vorrede schafft also eine unverkennbare Distanz zu dem Berichteten, grenzt im konkreten Fall vielleicht sogar ans Satirische. Beruht die Diotima-Lobrede des Sokrates auf Tratsch von wichtigtuerischen Leuten wie Apollodor? Das ironische Augenzwinkern dieser Vorrede zumindest ist nicht zu verkennen und im Gedächtnis zu behalten.

Noch unklarer als diese Einleitung ist, darin sind sich Platon-Kenner weitestgehend einig, die inhaltliche Konsistenz des gesamten Dialogs, insbesondere aber der Diotima-Rede. Bei keinem anderen Dialog, vielleicht mit Ausnahme der Politeia, gibt es eine so offenkundig inkonsistente Überlieferung und so unverkennbare Spuren nachträglicher Textkorruption beziehungsweise späterer, zum Teil vermutlich sogar sehr viel späterer, "redaktioneller Bearbeitungen" des Textes. Dies kann an dieser Stelle nicht im einzelnen erörtert werden , aber es versteht sich, daß die nachfolgenden Anmerkungen keinerlei philologische interlineare Texttreue, wissenschaftliche Exaktheit oder dergleichen Anmaßungen mehr für sich beanspruchen. Da auch ich, wenn ich mich recht erinnere, als junges Böckchen im Garten diesen Reden nur stellenweise lauschen konnte, bleibt uns nichts anderes übrig, als zunächst das eigentliche Thema etwas näher in Erinnerung zu rufen und die Lobreden auf Eros bzw. seine weibliche Entfaltung im Aphroditischen - wie mehr oder weniger authentisch überliefert auch immer - in ihren offenkundigen und auch etwas "unterirdischen" Grundzügen, in ihren gelegentlichen Aporien und vor allem in ihren verborgenen Energien darzustellen.


1. Phaidros

Phaidros schafft, unter Berufung auf Hesiod und indirekt auf Parmenides und Empedokles, die kosmische Grundlegung des Eros, jener luziden, originär griechischen Gestaltfindung: Eros ist absolute arché, selbst "ohne Vater und Mutter" und somit Ursprung von allem und wirkende Kraft in allem: "Denn unter den Göttern am ältesten zu sein ist ruhmvoll. Das aber ist bezeugt: Denn Eltern des Eros gibt es nicht, kein Laie, kein Dichter nennt sie" (178b-d). (Gleichwohl aber nennt Diotima später seine Eltern).

Eros ist für Phaidros, jenes Sokrates-Schülers, dem Platon seinen gleichnamigen, vielleicht wichtigsten Dialog gewidmet hat, jenes selbst übergeschlechtlich erfahrene kosmische Urphänomen, das alles Sein erst zum Werden bewegt und so auch das Schöne, Belebende und Ursprüngliche in menschlicher Haltung, Kunst, Alltag und Polis allererst ermöglicht. Nur Eros erlaubt auch jenes größte Opfer, die Hingabe des Selbst im und für den Anderen, den Tod aus oder in Liebe, wie Phaidros den Alkestis- und den Achill-Mythos deutet. Nach dieser von weither überlieferte hesiodisch-empedokleische Eros-Auffassung sind das Aphroditische (oder auch das Dionysische, das Panische oder der sokratisch-philosophische Eros etc.) gleichsam Aspekte dieser ganz universell wirkenden und stetig Leben erneuernden Urkraft des unanfänglichen Eros selbst.


2. Pausanias

Pausanias führt mit seinen "diploun érota", der Rede von "zwei Eroten", eine zeitgenössisch virulente Fragestellung ein. Jener von Phaidros angesprochene Ur-Eros als arché ist im Bewußtsein der Menschen offenkundig nicht mehr wirklich unumstritten, so daß zumindest eine "zwiefache" Eros-Auffassung zu unterscheiden sei. Pausanias nennt explizit jene (bereits von Phaidros angesprochene) "ältere" hesiodische Eros-Auffassung, die unmittelbar mit der Vorstellung einer himmlischen "Aphrodite Urania" korrespondiere, daneben aber eine "jüngere" und offenbar im Zeitgeist besonders populäre "Aphrodite Pandemos", die wiederum unmittelbar mit der Vorstellung nunmehr ausschließlich ihr "dienender Eroten" korrespondiere. Dieses Thema prägt in gewisser Hinsicht im weiteren den gesamten Dialog.

Während letztere, eher weiblich geprägte, zeitgenössische Vorstellung die Frauen und, so Pausanias im selben Atemzug, das "vergängliche Körperliche" mehr liebe als das Geistige und Männliche, ziehe es die Anhänger jener älteren Vorstellung, umgekehrt, ganz zum Geistigen und zur Wahrheit. Pausanias spricht damit einen äußerst komplexen und vielschichtigen, hier unverkennbar geschlechtsgebundenen, Körper-Geist-Dualismus an, der in vielerlei Hinsicht problematisch scheint. Er rührt sozusagen an die bis heute fortwirkende Konstante der abendländischen Geistesgeschichte, die man die Vergeistigungs-Neurose bzw. die Leib- und Lebensfeindlichkeit im Zeichen des "Idealen" oder einer Flucht ins Jenseitige nennen könnte.

Was Pausanias aber zunächst einmal besonders hervorheben möchte, ist die Überlegenheit jener älteren Eros-Auffassung gegenüber jener zeitgenössisch populären "Aphrodite pandemos". Während im ursprünglichen Eros- und Aphrodite-Verständnis das männliche und weibliche Prinzip insofern eine organische und harmonische Einheit bilden, als beide gleichsam nur im Gemeinsamen (=Eros) und in der durch Eros angestachelten Vereinung des Polaren, das alles erst ganz macht, das Leben bewahrende und zugleich ständig erneuernde Moment erblicken, gerät diese Einheit in der zeitgenössischen Vorstellung von einer scheinbar allmächtig gewordenen Aphrodite pandemos aus dem Gleichgewicht und in Vergessenheit.

Die Ausgewogenheit und Harmonie zwischen männlichem und weiblichem Prinzip (und damit zugleich die reale Einheit von Körper und Geist im Vollzug der heiligen Hochzeit) geht sozusagen zwangsläufig dort verloren, wo der selbst über- und inter-sexuelle, auf Vereinigung zielende Charakter von Eros als arché in Vergessenheit gerät und zum vermeintlich bloßen "Diener und Begleiter" einer selbstverliebten, im Selbstempfinden allmächtigen Aphrodite pandemos "degradiert" beziehungsweise, das gehört eng zusammen, in letztlich unfruchtbare und lebensferne Sublimierungen getrieben wird. Deshalb betont Pausanias: zwar müsse dieser ursprüngliche Eros selbst nicht notwendig "schön" sein, aber was viel entscheidender sei: er sei jene Kraft, die alles Geliebte erst "schön mache".

Pausanias betont dies freilich immer schon im Rahmen eines seinerseits bereits polarisierten Konzepts einer hochgezüchteten geist-orientierten Eros-Ethik als das Spezifische einer agonal-männlichen (und als solcher keineswegs von Sublimierungen ganz freien) Eros-Kultur im Gegensatz zu einer vermeintlich "barbarischen" Haltung der Furcht und/oder der Verfallenheit gegenüber der "gewöhnlichen" Erotik. Daß die darin anklingende Geringschätzung des "gewöhnlichen Eros", in dem und durch den sich immerhin das reale Leben unbestreitbar real regeneriert, nicht frei von Hochmut (und einer Art "geistiger Hysterie") ist, wird an anderer Stelle noch zu erörtern sein. Allein in diesem agonalen philosophischen Eros aber, so Pausanias, werde das Bleibende, Wahre und Schöne gezeugt. Hier auch seien die "erotischen Proben", wie sie zwischen Liebendem und Geliebtem üblich seien, zugleich die Probe auf die areté überhaupt (182e-185b):

"Denn wenn jemand mit dem Wunsche, von einem anderen Geld zu erhalten oder ein hohes Amt oder irgendeine Gewalt zu erreichen, das tun wollte, was die Verliebten ihren Geliebten gegenüber tun, mit Gebärden und Gebeten sie anflehn, Eide schwören und vor ihren Türen schlafen und Dienste dienen wollen wie niemals ein Diener: Freunde und Feinde würden ihn hindern, seine Sache so zu betreiben, diese seine Streberei und Niedrigkeit schmähn, jene ihn zurechtweisen und sich seiner schämen. Den Liebenden aber, der dies alles tut, geleitet Anmut..."

Eros stellt für Pausanias in unverzichtbare Proben, er zwingt gleichsam in die Entscheidung, ob jemand mehr den "vergänglichen Körper oder die unsterbliche Seele" liebt, denn "häßlich sei, dem Schlechten in schlechter Art zu willfahren, schön aber, dem Tüchtigen in schöner Art..." - Ist das nun, vor dem Hintergrund jenes elementaren, alles Sein zeugenden und durchwirkenden empedokleischen Eros, nur eine angestrengte (homoerotische?) Sublimierung, die für jene besondere weibliche Nähe zum elementaren Leben in seiner ganzen Weite nur Verachtung übrig hat, oder doch ein echtes, nur eben spezifisch männlich ausgeprägtes Eros-Lob? Pausanias´ Rede wirkt in weiten Teilen zweifellos etwas musterschülerhaft. Er vertritt den ursprünglichen areté-Gedanken sozusagen in einer scheinbar ungebrochenen homerisch-aristokratischen Tradition, in Wahrheit aber wohl noch mehr in seiner spätklassisch-"männerbündischen" Ausprägungsform.

Deshalb verteidigt er auch - den späteren Einwänden der Diotima vorgreifend - die erotische Kraft als "das Eigentum" des Liebend-Begehrenden (und nicht des/der Geliebten/Begehrten) so offensiv, daß das weibliche Prinzip gleichsam ganz aus seinem Gesichtskreis zu verschwinden droht. Diese Dichotomie von Liebessubjekt und Liebesobjekt (Begehren und Begehrtem) prägt ja das ganze Gastmahl, denn aus dem Widerspruch, daß das Aktive und Kraftvolle gleichwohl etwas zu "begehren" scheint, ergibt sich in gewisser Hinsicht zwangsläufig die Frage, ob dieses "Begehrte" selbst als das Geliebte nicht folgerichtig und eigentlich "das Höherrangige" sei (eine Auffassung, die Diotima vertritt).

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