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3. Eryximachos
Eryximachos versucht diesen Jünglingseifer vom Standpunkt des erfahrenen Heilkundigen etwas zu ernüchtern, wenn er die wirklich universale Gültigkeit des Eros hervorhebt, freilich eines "zwiefachen" Eros bzw. zweier "Eroten", die er, als Arzt, auch "das Gesunde" und "das Kranke" nennt. Er definiert dabei die Heilkunst in alter griechischer Tradition als die Herbeiführung des Ausgleichs und der Harmonie, und zwar durchaus - dies scheint an Pausanias gerichtet ein besonnener Wink - des Ausgleichs auch und selbst zwischen Krankheit ("gewöhnlichem Eros") und Gesundheit ("geistiger Eros") oder was immer man auch dafür hält...
Er führt damit Eros auf jene, bereits von Phaidros angestimmte ganz universelle, kosmische und empodekleische Dimension zurück. Denn auch in den Wettern, bei den Tieren oder in der Musik wirken die Grundrhythmen dieses wilden, in sich gegenwendigen Eros. Damit bricht er gleichzeitig die kühnen Spitzen seines Vorredners. Seine Rede wird freilich bei den Versammelten als etwas kraftlos empfunden, zumindest von Aristophanes, wie dessen ironische "Schluckauf"-Episode und sein folgender launischer Kommentar andeuten.
4. Aristophanes
Für Aristophanes, der nun an der Reihe ist, ist Eros der "menschenfreundlichste" Gott, der einzig wirkliche "Eudämonie und Glück" verleiht. Von den tragischen Seiten jenes Eros als elementarer Lebenskraft spricht Aristophanes nicht. Seine Lobrede - die eigentlich noch mehr eine Lobrede auf den (homoerotischen) Hedonismus als auf Eros ist - besteht im wesentlichen in einer mehr oder weniger "komischen Fabel" von den ursprünglichen "drei Geschlechtern" und deren "Längsteilung" durch Zeus:
Neben dem männlichen und weiblichen habe es zu Beginn auch noch ein drittes "mannweibliches" (androgynes) Geschlecht gegeben, und dies erkläre, so Aristophanes, daß, nach deren Teilung durch Zeus, nun jede Hälfte rastlos ihr verlorenes Gegenstück (symbolón) suche: "Ewig sucht jeder sein Gegenstück" (191d). Die aus dem Reinweiblichen hervorgegangene Hälfte liebe nur die Frauen, die aus dem Reinmännlichen hervorgegangene Hälfte nur die Männer, die aus der androgynen Mischform hervorgegangenen gemeinen Menschen aber suchten und fänden in der sexuellen Vereinigung mit dem jeweils anderen Geschlecht höchste Erfüllung. Aristophanes hält es im Kreis der Versammelten nicht für nötig, näher zu begründen, warum den Männer liebenden Männern der fraglos höchste Rang zukommt - wenngleich der Hinweis, daß "nur die männer-liebenden Männer im Staatsleben landen", ein Augenzwinkern verrät.
Die "gemeine", in Wirklichkeit vom Standpunkt des Lebens unverzichtbare und letztlich auf jene Hochzeit der Zeugung von neuem Leben gerichtete erotische Vereinigung zwischen den Geschlechtern erscheint bei Aristophanes seltsamerweise weder als das Natürliche noch als die Regel des Lebens, sondern fast als eine bedauernswürdige Ahnungslosigkeit des "gemeinen Volks", wie sie durch die ursprüngliche Zugehörigkeit zu jenem merkwürdigen zwitterhaften und, so Aristophanes, "vom Mond abstammenden" Kugelmenschen allererst erklärbar werde. Wohl nur ein Komiker kann sich derart beiläufig über das heiligste Mysterium des Lebens lustig machen: die Regeneration des Lebens selbst in der geschlechtlichen Vereinigung. Eros ist für Aristophanes also - und nur dieser Aspekt seiner kurzen Rede soll im gegebenen Zusammenhang interessieren - die von Zeus verfügte "Jagd nach der ursprünglichen Ganzheit" - und allein diese Jagd verschaffe Eudämonie und mache das Leben erst lebenswert.
Die Aristophanes-Rede spiegelt unverkennbar das Ausmaß und die "Selbstverständlichkeit" der zeitgenössischen "Sublimierungen" und jener (insbesondere männerbündisch) hochgezüchteten Überheblichkeiten gegenüber jenem ursprünglichen, bei Hesiod noch ganz im organisch-elementaren Leben verwurzelten, Eros-Verständnis. Es ist bezeichnenderweise eine Frau, die von Sokrates zitierte Diotima, die diesen ältesten und naheliegendsten, auf unmittelbare Lebenszeugung und allseitige Regeneration des Lebens gerichteten Charakter des Eros dem versammelten Altherren- und Jünglingsgelage in Erinnerung rufen muß (und sich darin, wenn sich das junge Böckchen, das gerade im Garten in Muttermilch badete, recht erinnert, der insgeheim lebhaften Zustimmung des Hebammensohns Sokrates sicher sein durfte). Übrigens vertritt später Diotima zwar ausgesprochen selbstbewußt ihre aphroditisch-weibliche Perspektive, aber eine Apologie der Homosexualität oder der lesbischen Frauenliebe spielt in ihrer Rede, anders als bei Aristophanes, keine Rolle.
5. Agathon
Der als Sokrates´ derzeitige Lieblingsschüler eingeführte Agathon als Ausrichter des Gastmahls sieht sich offenbar herausgefordert, dieser heiter-komödiantischen Rede des Aristophanes einen deutlichen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Er deutet zunächst in unvermneidlicher Meisternachfolge die Notwendigkeit einer "eidetischen Reduktion", also eines Rückgangs auf die Idee des Eros an, denn bisher seien, so Agathon, "nur die Werke des Eros", diese und jene Erscheinungsformen und die von ihm beschenkten Menschen besungen worden, nicht aber er selbst als jene unanfängliche Seinsmacht, die doch diese Gaben allererst schenke.
Was ist also Eros selbst? Für Agathon ist Eros das Schöne-und-Gute als solches. Er ist sogar, im Superlativ, "kallistón" und "ariston", der schönste und beste. Er sei auch nicht, wie er Phaidros widerspricht und jugendlich-selbstbewußt hervorhebt, der älteste, sondern - ein hintersinniges Spiel mit dem hesiodischen Mythos - genau genommen "der jüngste Gott", da er jetzt faktisch "über alle Götter regiert". Er ist der "König der Götter", wie es wörtlich heißt.
Dies erkenne man auch daran, so Agathon in ironisch-heiterem Tonfall, daß er schneller als einem Mensch lieb sein könne "das Alter fliehe" und stattdessen die Jugend verwöhne. In seinem Überschwang spricht Agathon dem Eros sogar jegliche "Leidenschaft" ab, denn er schenke in Wahrheit "nur Freundschaft und Friede". Was insbesondere Empedokles (zu dessen Fürsprecher sich während des Gastmahls zuvor schon der Arzt Eryximachos gemacht hatte) an Eros als in sich gegenwendiges kosmisches Prinzip des "Liebesstreites" gedeutet hätte, sei in Wahrheit nur das Zutun der Schicksalsgöttin Ananke, nicht aber das Werk des ganz und gar "schönen-und-guten" Eros selbst, der so für Agathon, die feine Ironie ist unverkennbar, am Ende sogar zum "Zarten" und "Weichen" wird...
Allerdings hat Agathon von Sokrates´ subtiler Ironie mindestens so viel gelernt wie von seiner Ideenreduktion, wenn er diese Ausnahmestellung der arché Eros damit begründet, daß Eros deshalb keiner Gewaltausübung bedürfe, weil ihm von Natur her ohnehin alles zu Willen sei - was ja heißt, daß er eigentlich die stärkste Macht überhaupt ist. Oder noch deutlicher: Er sei sogar die Besonnenheit (sophrosyne) selbst, denn wenn Besonnenheit "Beherrschung der Begierden" bedeute, so sei nicht daran zu zweifeln, daß Eros alle Begierden beherrsche und lenke - was ja auch heißt, daß er eigentlich die mächtigste (und wohl zuweilen auch "unbesonnene") Begierde selbst ist. Oder anders formuliert: Eros ist jene Urenergie des Lebens selbst, an der alle menschlichen "Selbstbeherrschungsansprüche" und Zähmungsideologien scheitern müssen, weil nicht wir über ihn, sondern er über uns herrscht. Nicht ohne Ironie dürfte schließlich der Hinweis sein, daß selbst der Unmusische, erst von Eros erfaßt, gleichsam flugs "zum Dichter" werde...
Ganz ernsthaft im Geist Hesiods aber hebt Agathon hervor, daß es Eros ist, der aus "Chaos" allererst den kosmós und "die Ordnung der Götter" geschaffen habe - so wie er die initiale und beständig initiierende Zeugungsmacht überhaupt sei, nicht nur in der Kunst, sondern er schaffe sogar die Menschen aus Fleisch und Blut und alles Leben überhaupt. Eros ist also für Agathon mit anderen Worten das Leben selbst als kosmische Werdekraft, jenes Ungeheuer des Werdens, jene gewaltige und unstillbar lebensgeile und zeugungsgierige Gebärmutter Leben selbst. Diesem Eros als Seinsgrund und damit selbstredend als Inbegriff auch des Schönen-und-Guten, diesem Eros als arché und télos von allem singt Agathon abschließend eine große Hymne (197d-e), in der er dem "soter aristos", dem ersten und "besten aller Erlöser", huldigt.
Agathons Rede zollen alle Anwesenden großen Beifall und Jubel. (Das Bökchen kann sich lebhaft erinnern und dies bestätigen; ihm kam der ketzerische Gedanke: ersetzt man den Begriff des "Eros" bei Agathon durch jenen der "aphroditischen Schönheit" bei Diotima, so klingen beide Reden geradezu geschwisterlich, komplizenhaft und einverständig.)
6. Sokrates
Sokrates lobt die "Schönheit" der Reden, insbesondere die seines Verehrers und Vorredners, die ihn allerdings - diese Schelte des Meisters für den armen Agathon stand natürlich zu erwarten - an die "Kunst" des, in Sokrates´ Kreisen berüchtigten, Sophisten Georgias erinnere. Er fragt deshalb, ob all die schönen, berauschten und berauschenden Reden auch wahr seien: "Die Zunge also hat versprochen, nicht das Herz..." Sokrates erscheint mithin das bisherige Eros-Lob teils übertrieben, teils untertrieben, in jedem Falle einer noch stärkeren "Ernüchterung" bedürftig - eben durch die dann folgende weise Rede einer Frau.
Die Art seines Einwandes gegen die vorausgegangenen Reden entbehrt, wie so oft, auf den ersten Blick nicht einer gewissen logizistischen Spitzfindigkeit, denn er scheint zunächst einmal nichts geringeres als die "Substantialität" des Eros in Frage stellen zu wollen, indem er - mit Verweis auf jene "weise Diotima", die auch ihn darin erst "belehrt" habe - auf dessen "offenkundige Bedürftigkeit" verweist. Eros ziele und liebe doch, so Sokrates´ Einstieg in das Thema, immer "auf etwas hin", dessen er mithin "bedürftig" sei; wessen man aber bedürftig sei, das könne man doch unmöglich selbst sein: "Könnte also jemand, der groß ist, groß sein wollen, oder der stark ist, stark?"
Daß Eros also, wie Agathon zuvor darlegte, nicht das Schöne-und-Gute nur begehre, sondern dies selbst ist, wird ausgerechnet von Sokrates - zumindest probeweise und heuristisch - in Frage gestellt. Mehr noch, Sokrates wirft die Frage auf, ob der kosmische Eros am Ende sogar mehr "Mittel" als "Selbstzweck" sei - denn sonst würden sich im Grunde doch alle Gespräche erübrigen und hätte Aristophanes´ "hedonistische" Rede bereits alles Nötige gesagt. Daß dieser Einwand des Sokrates ausnahmslos auf den Belehrungen der Diotima beruht, kennzeichnet ihn formal hinreichend als einen Gedanken, den es gleichsam zu überprüfen gilt. Sokrates Maieutik und dialektische Methode benutzt ja häufig die Vorstellungen und vermeintlichen "Wahrheiten" anderer als Ausgangspunkt, um durch das Aufzeigen ihrer Grenzen und blinden Flecken ein Stück näher zur Wahrheit hinzuführen. So referiert Sokrates also die Grundgedanken jener weisen Frau aus Mantinea.
Eros sei, so hebt Sokrates an, "Liebe zu etwas, genauer: zu dem, woran er Mangel leide" (vgl. 200e). Daß Eros aber damit in Wahrheit noch nicht notwendig und wirklich "eines anderen", sondern möglicherweise unstillbar allein seiner selbst "bedürftig" ist, daß das lebendige Sein sich deshalb in einer "unerfüllbaren Werdelust" liebt, weil es selbst diese Liebe ist - dieser Gedanke bleibt zunächst noch unausgesprochen. Sokrates begnügt sich vielmehr damit, die Gedanken der Diotima "für sich selbst sprechen zu lassen", sie vor der überraschten Männerrunde sozusagen "pädagogisch stark" zu machen.