Der Golem wächst

Von verrückten Uhrmachern, extropischen Manifesten und Hühnchen ohne Huhn

Wer heute erfolgreich sein will, muß jene "Umkehrung aller Werte", die Nietzsche so provokant und insgeheim apotropäisch diagnostizierte, nicht nur "ins Positive" gekehrt, sondern noch besser so gründlich verinnerlicht haben, daß sie ihm fraglos und im strengen Wortsinn selbstverständlich geworden ist. Aber dies, so belehren uns seit geraumer Zeit einhellig angegraute Neo-Darwinisten und hyperaktive kalifornische Extropisten im Chor, sei kein Indiz für das Altern einer Gattung. Ganz im Gegenteil stehe die Zukunft einer bisher von der Evolution außerordentlich begünstigten Spezies, die inzwischen die Erde unangefochten beherrsche, erst ganz am Anfang. Inmitten lauter Horrormeldungen zwischen Aids und BSE, Klimakatastrophen, Retortenkreaturen und Erdbeben endlich einmal eine durchschlagend positive Nachricht: Nicht das Ende, nein der endgültige Anfang ist nahe!

Natürlich sagt auch die darwinistische Naturauffassung am Ende mehr über unser Denken und Handeln als über die Natur selbst aus, dieses ewige Rätsel und "Ungeheuer des Werdens" (Nietzsche), das gewiß auch alle unsere Ideologien und Wissenschaften überleben wird. Auch er verdankt seinen grandiosen Aufstieg und Erfolg innerhalb der modernen Wissenschaften einer genialen Kompensation des neuzeitlichen sozialen Darwinismus, dessen quasi "naturrechtlicher" Legitimierung. Wer, wie Richard Dawkins etwa vor einiger Zeit in seinem öffentlichen "Brief an Prinz Chlarles", der Natur hoffnungslose Betriebsblindheit unterstellt, ihr jede Voraussicht und innere Ordnung abspricht, um im selben Atemzug Holzfäller und Walfischfänger als Wilde und "kurzfristige Profiteure nach dem Vorbild der Natur" zu brandmarken, gleichzeitig aber die fraglos größeren Gefahren der Groß-, Bio- oder Gentechniken im Gestus wissenschaftlicher Unanfechtbarkeit als altruistische Zukunftsverheißung für unvermeidbar erklärt, dessen Tunnelblick muß kaum Vergleiche scheuen.

In dieser Szene, die sich seit geraumer Zeit häufig wiederholt, liegt etwas symptomatisches: Wo auch immer sich angesichts der neuesten Fortschritte und Versuchungen einer Wissenschaft als Technik kritische und besorgte Stimmen oder gar zaghaft so etwas wie letzte Reste von Gewissen zu Wort melden, ruft es postwendend nicht nur die unvermeidlichen Fachexperten, die diese Einwände und Fragen als Resultat völliger wissenschaftlicher Unbedarftheit und kopfloser Hysterie zurückweisen, sondern zunehmend auch jene Fundamentalmodernisten auf den Plan, denen derartige Einwände überhaupt als obsolet, belanglos und "nicht mehr zeitgemäß", als bloßer Nachhall hoffnungslos überlebter religiöser oder metaphysischer Vorstellungen erscheinen. Wenn, so könnte man die Schleudersitzlogik dieser Vorboten eines neuen "postkreatürlichen Denkens" umschreiben, die planetarischen Technik, die unbestritten unser Geschick und unser Verhängnis ist, mit dem bisherigen, von weither gewachsenen humanistischen Selbstverständnis so ganz offenkundig nicht mehr vereinbar ist, dann sollten wir uns eben all dieser humanistischen Bürden kurzerhand entledigen und ein neues, angemessenes, das heißt seinerseits technisches Selbstverständnis vom Menschen neuzimmern.

Aber so wenig davon die Rede sein kann, daß das Lebewesen Mensch, wie das postkreatürliche Denken glauben macht, wirklich "außerhalb" der physischen Natur steht (oder jemals stehen könnte), so wenig ist eine Wissenschaft als Technik noch länger ein Denken, jedenfalls nicht im Sinne des Andenkens oder der Besinnung. Sie klagt bei genauerer Betrachtung nur das allgemein ein, was sie selber ist oder sein möchte: ein möglichst gründliches Vergessen. Es ist ein Abbruch-, Aufräum- und tabula-rasa-Unternehmen. Gefordert wird von dieser "Emergency-Logik" nichts geringeres als eine Unterwerfung des Denkens und Fühlens, des gesamten Selbstverständnisses des Menschen unter das Prinzip einer allmächtig gewordenen Verwertungslogik des technisch-ökonomischen Gestells. Es geht, wenn nicht alles täuscht, darum, daß das für eine individuelle Freiheitssicherung entscheidende und unverzichtbare Projekt, wonach auch und gerade eine im Zeichen der entfesselten Anthropzentrik stehende Aufklärung ihrerseits einer ständigen kritischen Befragung und Aufklärung bedarf, auf ganzer Front abgeblasen wird, damit die uneingeschränkte Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit einer Wissenschaft als angewendeter Technik weiterhin gewährleistet bleibt.

Aber gerade diese Aporie zeigt, wie wenig der Mensch in Wahrheit wirklich "außerhalb" der Natur steht, sondern offenbar alles von der klugen Vermittlung von Natur und Freiheit abhängt. An dieser entscheidenden Vermittlung aber, die wir auch Kultur nennen können und von deren Qualität das eigentliche Selbstverständnis dessen abhängt, was der Mensch ist, sein will oder sein kann, arbeiten gerade die modernen Naturwissenschaften nicht wirklich, denn für sie ist die Frage insgeheim ja bereits entschieden, die "äußere" Natur fraglos nur etwas, das der außer und über ihr stehende Zivilisation "dienen" und nutzen soll, die sie im Interesse des eigenen Überlebens in ihrer Gegennatur der Zivilisation auf Kosten aller anderen Lebewesen wie ein Wild stellen und erlegen oder wie ein Feld bestellen möchte. An dieser entscheidenden Vermittlung, deren Bemühungen wir Kultur nennen dürfen, arbeiten allerdings, schenken wir Aby Warburg Glauben, seit Jahrtausenden die Kunst, Religion und Philosophie als Formen eines ursprünglichen und poietischen Erinnerns und Besinnens. Sollte es wirklich ein Zufall sein, daß deren Rolle gleichermaßen beständig schwindet, daß sie in dem Maße "legitimierungspflichtig" werden, wie die Bedenken gegen die technischen Entgleisungen der Moderne als Sakrileg gelten und mit dem Vermerk zurückgewiesen werden, sie stellten einen Eingriff in die Freiheit der Forschung und des Geistes dar?

Um den eigentlichen Einschnitt in seiner ganzen Tragweite wahrzunehmen, könnte man behaupten, daß nichts geringeres als dieser bisherige Begriff von Kultur selbst und als solcher für obsolet erklärt wird. Nachdem "Gott tot ist", der Mensch den Sinn für die Würde des Lebendigen und von weither Gewachsenen eingebüßt hat, nachdem das Empfinden für das Gerechte oder Soziale sich in der fragmentierenden Maschine des Zweckbündnisses von Geld heckendem Geld und wissenschaftlich-technischem Komplex zunehmend aufgelöst hat, zeigt sich im erlösenden postkreatürlichen Denken nun der Wunsch, jene Kultur der Vermittlungsarbeit zwischen Natur und Zivilisation als solche hinter sich zu lassen: "Seid nicht traurig, seid logisch", heißt das in der Sprache von Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise. Standen vor wenigen Jahren noch eine neue "ökologische Ethik" oder das "Prinzip Verantwortung" gegenüber der Mitwelt auf der Tagesordnung, so räumen inzwischen führende Tageszeitungen eilfertig, als könnten sie die eigene Beerdigung versäumen, jenen Modernisierungsfrömmlern, Technoamateuren und Postkreativen Sonderseiten ein, die das bekannte alte Motto "Nach uns die Sintflut" nur mit der modisch knappen Fußnote versehen: "mangels Alternativen".

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