Auszug: H.D. Jünger, Die kulturelle Krise, München 1998
Die Gabe als Hingabe
(...) Trug einst noch der Alltag und die Brotarbeit (negotio) einen rituellen, rhythmisch festlichen Charakter und war insofern ein Stück weit die Muße (otio) noch in den Alltag verlängert dies können wir von der Jagd der Indianer über den Trommelrhythmus auf den Galeeren, von der Brotfruchternte der polynesischen Naturvölker über die Zweikämpfe in der antiken Kriegführung bis hin zum Handwerkerethos der mittelalterlichen Zünfte verfolgen , so bewirkt die Zivilisationsmaschine auch hier eine vollständige Verkehrung, eine Ausdehnung der negotio in die otio, die Auslöschung des Festlichen im Zeichen des Maschinen- und Uhrentakts. Auch oder gerade die erwerbsfreie Zeit will nun »ausgenutzt« sein, denn Zeit ist hier Geld nur noch: Geld, sonst nichts. Das zivile carpe diem ist einsilbig (übrigens gilt immer: jene, die nie Zeit haben, arbeiten am wenigsten). Der heiß gelaufene Ökonomismus hat so nicht nur nach der gesamten Lebenszeit des Menschen gegriffen und auch die »Freizeit« als Konsumzeit in einen industriellen Verwertungskreislauf von der Wiege bis zur Bahre hineingezogen, er hat auch zugleich jene unverfügbare kosmische, festliche Zeit zermalmt. Allein das Wort »Freizeit« signalisiert, daß die Arbeitszeit dem Zivilisierten per se als »unfreie Zeit« gilt. Daß Arbeit keineswegs mit Unfreiheit, Gefangenschaft und Fremdbestimmung verbunden sein muß, erahnen zumindest jene, die das große Glück haben, noch etwas mit Hingabe tun zu können, Arbeit und Muße also gerade keine Gegensätze sind.
Doch auch diese »Freizeit« verdient diesen Namen kaum, denn sie ist als Zeit der untrennbar zur Produktion gehörenden Konsumtion eine Verlängerung der ökonomischen Entfremdung, für manche zeitaufwendiger und anstrengender als die Arbeit selbst. Eine Phänomenologie dieses entfremdeten Konsumismus lieferte schon in den 50er Jahren Jürgen Habermas: »(...) die aufsteigende Kurve des Konsums indiziert die gleiche negative Tendenz der Entfremdung wie die absteigende Kurve der Arbeitsfreude (...) Sie wirken wechselseitig infektiös. Die Einsicht in dieses Verhältnis macht jeden ebenso frommen wie humanen Wunsch zunichte, den Verlust an Arbeitsfreude durch gestiegerten Konsumgenuß auszugleichen (...) « Konsum ist für ihn eine Verkehrsform, die »alle Veränderungen vom Menschen weg- und den Dingen zuschiebt« und durch das auffällige »Mißverhältnis einer forsch zur Schau getragenen Konsumsouveränität und der tatsächlichen Ohnmacht gegenüber den kollektiven Konsumzwängen« gekennzeichnet ist: »Der schein-souveräne Alleskönner lebt nicht mehr selbst, er wird vielmehr von den Dingen und Ereignissen, die er konsumiert, verlebt und verkonsumiert (...) Jedes neue Konsumprodukt stimuliert neuen Bedarf und potenziert den offiziell nicht anerkannten Bestand an Mangel, Leere und Überdruß. Nicht der Konsument konsumiert die Produkte, sondern die Produkte konsumieren den Konsumenten.«
Es ist allerdings verständlich, daß die letzten elementaren Tätigkeiten, die von bloßer Erwerbs- und Fremdarbeit ebenso weit entfernt sind wie von der modernen »Freizeit« als ihrerseits ökonomisch notwendige und produktive Konsumzeit vom Stillen der Babys über die Kindererziehung, vom unvernutzbaren Fragen und Andenken bis zum Werk der Kunst , in dieser Großen Maschine eigentlich keinen Platz mehr haben, aus deren lebensentrückter Logik gänzlich herausfallen. Daß eine Zivilisation für die otio und das Elementare »keine Zeit« mehr hat, daß »produktive« Arbeitszeit und konsumtive »Freizeit« gleichermaßen abstrakter Dienst am Geldgötzen geworden sind, findet freilich seinen Grund nicht darin, daß erstere unproduktiv wären, im Gegenteil. Jene ursprüngliche, unberechenbare und schaffende Produktivität ist vielmehr besonders gefürchtet und gilt mit Recht als subversiv. Das Werk ist immer ein Resultat der Muße, die ihre Quellen im Erinnern eines lebendigeren Lebens hat. Die Ware ist ein Resultat der entfremdeten Produktion, dient der Lebenssubstitution, ja man kann sagen, daß besinnungslose Arbeit das vorzüglichste Mittel gegen das lebendige Leben ist, daß in dieser »Arbeitsraserei des Menschen eine seiner Neigungen hervorbricht, das Böse zu lieben, wenn es verhängnisvoll und häufig vorkommt.«
Die Regel dürfte jedenfalls schwer widerlegbar sein: Je unersetzlicher und elementarer eine Tätigkeit für das Leben, umso ferner steht sie der Verwertungslogik der Großen Maschine; je verhängnisvoller aber eine neue technische Finte ist, umso magischer zieht sie die Hütchenspieler und Spekulanten, das Geld heckende Geld an. Swifts alter Vorschlag, die unnützen Kinder der Armen als Nahrungsmittel zu verwerten, anstatt sie auf Kosten der Allgemeinheit durchzufüttern zumindest in Hinblick auf die Verwertung abgetriebener Föten hat man seine Anregung ja schon aufgegriffen , erscheint ausbaufähig. Insbesondere in Hinblick auf die Industrialisierung jener Dienstleistungen, die manche unzeitgemäßen Familien oder staatlichen Einrichtungen noch heute unentgeltlich freilich auch ohne Profit abzuwerfen, also aktionärskapitalistisch betrachtet nutzlos erbringen, böte sich manches an: gewerbliche Still- und Spielhäuser, die konsequente Privatisierung der Kindergärten und Schulen etwa könnten die bereits bestehenden privaten Samenbanken, Institute zur künstlichen Befruchtung, die Leihmütter-Agenturen oder auch die bereits funktionierende gesunde Ernährung der Kinder durch Fastfood-Ketten wirkungsvoll ergänzen. Ein jeder, der mehr gelebt wird als lebt, sucht sich eben seine Lieblingswüste.
Es ist ja nicht so, als müsse auf der Irrfahrt der Global Titanic nur freudlose Fremdarbeit und strenge protestantische Askese vorherrschen. Manche fidele Suite ist schon im Zeichen des fröhlichen Kannibalismus aus den Fugen geraten. Auch tummelt sich auf den zahlreichen Decks zwischen dem stampfenden Bauch des Kolosses und der unbesetzten Brücke allerlei Zwielichtiges, Taschendiebe und Marktschreier, Unterhalter, Dienstleister aller Art und Hütchenspieler jeden Kalibers. Allerorts veranstaltet ein moribunder Erlebnishunger seine Umzüge, toben Untergangsbälle. Jeder verlacht und schmäht nach außen hin das, wonach sein innerstes Verlangen steht. Jeder glaubt ein Anrecht zu haben, bedingungslos geliebt zu werden, und geißelt, daß nichts, aber auch wirklich nichts mehr der Liebe würdig sei... Monströse Schizophrenien, wo man hinblickt. Es herrscht zwar keine Freigiebigkeit mehr vor, aber dafür eine umso größere Verschwendung, nicht nur die konsumtive Verschwendung der Neureichen und Spekulanten, die mit ihrem Geld gar nichts anzufangen wissen, sondern auch die Verschwendung durch Produktion, die himmelschreiende Verheizung von Naturressourcen, Energien, menschlichen Talenten von Zukunft.
Andererseits wissen die titanoiden Planer sehr gut, warum sie zum Zwecke der Produktivitätssteigerung ausschließlich auf Maschinen setzen. Je mehr der Mensch dem Ökonomismus verfallen ist, je sinnloser seine Existenz geworden ist, umso spröder, ephemerer, schwindsüchtiger wird zwangsläufig seine »Leistung«. Als Ideal schwebt den Planern eine kraftvolle, fröhliche und störungsfreie globale Galeere vor, die im Takt des Maschinenrhythmus von Höchstkurs zu Höchstkurs vorprescht. Tatsächlich aber ist eine müde, ein lebensmüde Truppe im Innersten völlig aus dem Takt. Auch mit dem Titanismus und dem Geldgeist ist es am Ende wie mit dem Weltgeist, von dem Benn sagt, daß er die Niagarafälle überquert, um schließlich in der Badewanne zu ertrinken. Alles Große stolpert über das Kleine ist das Kleinste am Ende nicht das Größte?
Es hat eben auch seinen wirtschaftlichen Preis, die Natur des Menschen über die Grenzen auszuhöhlen und zu vergewaltigen. Wer die bloßen Mittel zum Selbstzweck verkehrt, den Reichtum des Lebens zum bloßen Anhängsel einer kopflos rasenden Maschine erniedrigt, darf von den derart ruinierten »Anhängern« nicht die Rolle von Vorreitern und Helden erwarten. Er wird bestenfalls einer verschlagenen, nur äußerlich folgsamen, aber innerlich völlig unzuverlässigen und fremden Herde gegenüberstehen. Manche Wirtschaftsführer haben die Folgen dieser Verkehrung der Menschennatur erkannt. Sie schicken ihre Belegschaften zwecks Gehirnwäsche in gewisse Sekten, wo ihnen ein ganz neuer, höherer »Lebenszweck« frei Haus implantiert wird. O glorreiche Zeiten auf den antiken Galeeren, als selbst die Sklaven noch menschlicher waren als heute alle »Freien« zusammengenommen...
Die Global Titanic durchspukt ein großer Unbekannter, ein Leviathan, der alles auffrißt, was dem geheimen Energiestoffwechsel den immer noch schnelleren und größeren Umsatz, das immer nur noch mehr Geld heckende Geld in irgendeiner Weise förderlich ist, die Agonie verkürzt. Manche tuscheln sich zu, sein Name sei »Full Catastrophy«, das sei griechisch und hieße »Ewiges Leben«. Lärmend poltert der Überdruß, in den Rissen des Rumpfs knackt und knirscht es bedrohlich. »Es werden noch Wetten angenommen, wer den Kehraus macht«, ruft der Croupier und verteilt Puts und Calls auf das Leben selbst. »Die Stimmung ist, alles in allem, glänzend«, spricht er mit gekünsteltem amerikanischen Akzent und bleckt die teuren Zähne: »Ist das nicht auch eine Form des Potlatchs? (...)«