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(...) Ich plaudere kein Geheimnis aus, ich verschenke es: Der Potlatch ist am allerwenigsten eine bürgerliche oder ökonomische Angelegenheit, er ist ein rituelles Phänomen. Zwar mag man unter Gesichtspunkten des ökonomischen Nutzens fragen, ob im gegenseitigen Sich-Überbieten im Verschenken von materiellem Besitz nicht ein Tauschprinzip (Do ut des, ich gebe, damit du mir gibst) wirksam ist, beziehungsweise dieses Verschenken eine Akkumulation bereits zur Voraussetzung hat. Doch entscheidend ist im Potlatch stets das Primat des Lebendigen, das symbolisch-rituelle In-die-Schranken-Weisen der bloßen Mittel, aber auch, untrennbar damit verknüpft, die zyklische physische Hingabe des Angesammelten. Sogar in jenem extremen Beispiel kopfloser Raserei zweier ägyptischer Zigeuner, das Huizinga im Zusammenhang des Potlatchs als Ausdruck des homo ludens einmal erwähnt, wird noch dieser elementare antiökonomistische Grundzug deutlich: Um untereinander einen Streit zu schlichten, gingen »die beiden dazu über, im Beisein des feierlich zusammengerufenen Stammes erst jeder seine eigenen Schafe zu töten und danach alle Banknoten, die sie besaßen, zu verbrennen. Zum Schlusse sah der eine, daß er unterliegen würde, und verkaufte daraufhin seine sechs Esel, um mit dem Kaufpreis doch Sieger zu bleiben. Als er nach Haus kam, um die Esel zu holen, widersetzte sich seine Frau dem Verkauf, worauf er sie erstach...«

Der potlatschende Mensch ansammelt nicht, um dann konsumieren zu können - wofür die Neureichen mit ihren Sportwagen-, Immobilien- und Uhrensammlungen das beste Beispiel sind -, sondern man entledigt sich regelmäßig souverän und bewußt des Trügerischen und Vergänglichen, um selbst frei und offen zu sein für das elementare Leben. Der Potlatch ist als ein religiöser Ritus bewußter Anti-Ökonomie weder mit dem Tauschprinzip, noch mit dem von Schumpeter beschriebenen ökonomischen Nutzen der zyklischen Vernichtung von kapitalistischer Überproduktion, etwa durch Kriege, zu verwechseln. Beides dient und nutzt nur der Ökonomie, der Potlatch aber zwingt das Prinzip des Ökonomischen in seinen gemäßen Rang, genießt die Souveränität und Freiheit, die allererst in der Geringschätzung und Unterwerfung des Ökonomischen selbst liegt. Er ist gleichsam die gründliche, elementare Hygiene: Während sich die traditionelle kapitalistische Ökonomie hin und wieder widerwillig deshalb reinigt, um sich danach wieder umso maßloser füllen zu können, lebt der potlatchende Indianer mit sich und der Natur im Reinen und achtet, wie der Vogel bei der täglichen Gefiederpflege, sorgfältig darauf, daß auch das kleinste Staubkörnchen des Verfalls an das Ephemere entfernt wird. Daß das Geld, das durch ungezählte Hände gegangen ist, und an dem die Spuren vieler menschlicher Tragödien hängen, »nicht stinkt«, ist weder vom moralischen noch vom hygienischen Standpunkt glaubhaft zu belegen. Es ist wohl die verheerendste Seuche überhaupt, die epidemia prima.

Auch der Opfergroschen in der Kirche wird vor diesem Hintergrund blasphemisch, zumindest dort, wo er im zivilen Bewußtsein der materiellen »Hilfe für die Bedürftigen« gegeben wird, das heißt, nicht vom Geist der eigenen Reinigung und freudigen Entledigung, sondern vom Gedanken eines angeblichen ökonomischen Nutzens für die vermeintlich »Armen« bestimmt ist. Reinigungsbedürftig sind aber nicht die Armen, sondern die Götzenhörigen selbst. Hinter mancher Maske dieser abgezweckten Mildtätigkeit und einer »wenigstens etwas gerechteren« materiellen Umverteilung stecken auch nur Agenturen jener Ideologie, die jene Krankheit zu heilen vorgibt, die sie erst verursacht. Sie zielen gleichsam auf Proselyten-Bildung, wollen auch noch die letzten Aufrechten zur ökonomischen Verschwörung verführen (etwa um neue Absatzmärkte zu erschließen). Mitgegangen mitgefangen. Nicht zufällig ist diese »Mildtätigkeit« in Form eines steuerbegünstigten Systems von Stiftungen dort am stärksten ausgeprägt, wo der Geldwahn ganz uneingeschränkt wuchern konnte, im Land der »unbegrenzten Möglichkeiten«, in »gods own country«. Das ökonomistische Prinzip ist aber selbst kein Heilmittel der Ungerechtigkeit, es ist seine Quelle. Heilung verschafft allein die Bereitschaft zur Hingabe, zum zweckfreien Opfer.

Das unvernutzbare Opfer erkennen wir daran, daß es immer den Opfernden am meisten beschenkt. Es fordert dem Opfernden Substantielles ab, und gibt ihm doch mehr Substanz zurück. Indem es Substantielles fordert, erhebt es dieses allererst in seinen wahren Rang. In jeder echten Hingabe steckt deshalb ein Stück Opfer des Selbst, sonst ist es keine Hingabe, sondern ein bürgerlicher Warentausch, also ein Geschäft. Die sich verschwendende Gabe aber will deshalb keinen Dank, weil sie in sich schon allen Dank empfangen hat und diesen verteilen will. Daß heute der Mäzen nicht mehr die Schaffenden aufsucht, sondern die Kunst verzweifelt Sponsoren sucht, verweist einmal mehr auf das Ausmaß der Verkehrung von Mittel und Zweck.(...) Das Schöpferische bedarf nicht wirklich des Geldes, aber unbedingt der Befreiung von seinen Regeln und seiner inneren Logik. Kunst ist, wie alles Elementare, eine Form des Potlatchs. Je mehr materielle Mittel eine Kultur in dieses Unvernutzbare opfert, umso besser für sie selbst, doch entscheidend bleibt, daß es eine freudige Hingabe und keine betriebliche »Investition« ist.

Wohin es führt, wenn diese Unterscheidung in Vergessenheit gerät, können wir an der heutigen Kulturindustrie ablesen. Dem bürgerlichen Warenfetischismus gemäß, daß das, was keinen hohen Preis hat, auch wertlos sein muß, werden einige Künstlernamen zu Goldenen Kälbern gekürt, mit denen sich noch trefflicher spekulieren läßt als mit Aktien, während die suchende Kunst, die sich im Stillen hingibt, kaum wahrgenommen wird. Auch in dem hochsubventionierten Betrieb der städtischen Opernhäuser gibt man landauf, landab Gediegenes und Gefälliges, aber das möglichst teuer und aufwendig, da auch hier der Bürger letztlich nur »seine Kultur«, das heißt jenen kulturzerstörenden Fetisch, daß der Markt-Preis allein den Wert verbürgt, als solchen genießt. Die herausfordernde, bereichernde Kunst spielt vielleicht nebenan im Einpersonen-Theater, vielleicht gerade deshalb, weil es keine Subventionen erhält. Folgerichtig haben vollmundige Werbeabteilungen großer Firmen jene Rolle übernommen, die früher stille Mäzene und Kenner innehatten. Das Geld stellt sich nicht mehr in den Dienst der Kunst, sondern umgekehrt wird die Kunst zur Werbemagd, zum Dekor des Geldes. »Prostitution nenne ich den Zustand, der den Menschen innen und außen als ein Zubehör des Händlers erscheinen läßt, Kunst als Mittel seiner Reklame, den Künstler als Sandwichman...« Karl Kraus hat Recht: Prostitution ist nicht, was die Nymphomanin tut (die u.U. nur einer überaus elementaren Energie gehorcht), sondern jede Handlung, in der das Leben selbst der Ware, den bloßen Lebensmitteln, dem Gehäuse der ökonomischen Hörigkeit geopfert wird, und sei diese Handlung auch noch so unscheinbar.

Dieses elementare Verständnis des Opfers und der nutzlosen Hingabe äußert sich etwa in den alt-ägyptischen Pyramiden oder den aufwendigen Bestattungsbeigaben, wie wir sie aus dem homerischen Epos kennen: Hier wurde der gesamte Besitz dem Toten mitgegeben, das vergängliche Gold und Elend also nicht nur symbolisch, sondern physisch dem ansteckenden und unheilvollen Verwertungskreislauf entzogen. Der heutige Ägyptenbesucher steht vor nichts in der Welt sprachloser und verstörter als vor diesen »unvernünftigen« Autodafés des Reichtums - und natürlich sind die Pyramiden im Bürgerzeitalter, vom Freiheitsbringer Napoleon angeführt, bis auf das letzte Goldstäubchen ausgeraubt worden. Die Bürgerherde steht seither Schlange vor den ausgestellten Grabräuberstücken wie der Nofretete, verfällt in staunend-andächtige Stille angesichts ihres Material- und Versicherungswertes, wie früher die Menschen, wenn sie in heiligen Geburtshöhlen Mutter Erde, Vulva oder Phallus anbeteten. Würde sich heute ein amerikanischer Multimilliardär mit dem Wort »Rosebud« auf den Lippen zu einem derartigen Opfer entschließen, würde es gewiß als eine unmenschliche und unchristliche Verschwendung sondergleichen, als unfaßbarer Egoismus allgemeine Proteststürme hevorrufen. Dabei wäre es in Wahrheit ein Katharsis-Symbol ersten Ranges, um nicht zu sagen das achte Weltwunder.

Bataille insistiert mit gutem Grund auf der schaffenden Kraft allein der nutzlosen Gabe, der Verschwendung aus energetischem Überschuß: »Nur in dem Maße, wie die Welt in ihrer derzeitigen industriellen Form reduziert wird (...) gelangt der Mensch wieder zu seiner ursprünglichen Quelle, gelingt ihm die Rückkehr zu dem Augenblick, wo er vom Rest der Welt nicht getrennt war, kann er am Universum partizipieren und den Augenblick wiederfinden, wo er eins war mit dem Universum...« Das grundlegende und unwiderlegbare kosmische Gesetz der universellen Homöostase ist nicht auf Dauer außer Kraft zu setzen. Alle heute versäumten Ausgleichsleistungen und Opfer summieren sich am Ende nur, entsprechend groß wird das finale Opfer.

Die potlatchenden nordamerikanischen Indianer oder Polynesier erwarteten für ihre Gaben keineswegs Gegengaben um der Gaben selbst willen, sondern vor allem zur Bestätigung des gemeinsamen Einverständnisses in der Geringschätzung der bloßen Mittel. Daß es aber stets solche persönlichen Gaben waren, deren Preisgabe für den Gebenden - noch völlig unabhängig von ihrem materiellen Wert im heutigen Sinn - ein echtes Opfer darstellte, ist hingegen von zentraler Bedeutung. In Tarkowskijs Film »Opfer« schenkt der mittellose Briefträger Otto dem Schauspieler Alexander eine seltene alte Landkarte; auf den Einwand des Beschenkten, die sei aber doch zu wertvoll und eine unangemessene Gabe, entgegnet der Briefträger freudig erregt: »Selbstverständlich. Wenn es kein Opfer wäre - wie könnte es dann ein Geschenk sein!« Entscheidend ist nicht, was man schenkt, sondern daß Du mit Freude opferst. Im verschwenderischen Akt des Potlatchs ist der Gebende immer schon selbst der Beschenkte, weil er freudig gibt - und dadurch gewinnt. Frei macht die Gabe als zweckfreie Hingabe, im höchsten Fall - wie in der Liebe und im Tod - die Hingabe des Selbst an das Andere oder Ganzandere (...).



© HD Jünger & Matthes&Seitz-Verlag, München


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