"Es schneit, schneit, was vom Himmel herunter mag, und es mag Erkleckliches herunter: Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende. Einen Himmel gibt es nicht mehr, alles ist ein graues weißes Schneien. Eine Luft gibt es auch nicht mehr; sie ist mit Schnee und wieder mit Schnee zugedeckt. (...) Alle Tannenäste sind voll Schnee, beugen sich unter der dicken weißen Last tief zur Erde herab, versperren den Weg. Den Weg? Als wenn es noch einen Weg gäbe! Man geht so, und indem man geht, hofft man, daß man auf dem rechten Weg sei..."
Als diese nur auf den ersten Blick "impressionistischen" Zeilen vom Schneien 1917 zu Papier gebracht werden, ist Robert Walser - nach den Berliner "Salon-Jahren" bewohnt er wieder, wie in den Anfängen, eine karge Mansarde in Bern - 39 Jahre alt und aus bürgerlicher Sicht eine gescheiterte Existenz. Es ist zu einer Zeit, als er in einer Art verzweifeltem Galgenhumor den Zürcher Verleger Hauschild von einem fiktiven Sekretär und Diener "Cäsar" zum Empfang in seine Klause laden läßt, und der brave Bürgersmann, vom Treppensteigen noch erschöpft, für die tiefere Symbolik - und Tragik - so gar kein Verständnis dafür aufbringen mag, als ihm Walser selbst als "Diener Cäsar" die Tür öffnet und sogleich wieder zuschlägt, um dem Herrn des Hauses den erlauchten Besuch "zu melden". Daß diese Szene in Wahrheit kein dadaistischer Schabernack, daß diese Donquichotterie für Walser, den unlivrierten Diener und verkannten Poetenfürsten, für den "Diener Cäsar" eben, der seinen Weg durch das dichte Schneetreiben einer au fond rätselhaften Existenz in der Hoffnung gehen muß, nur so seinem "richtigen Weg" treu zu bleiben, inzwischen längst abgründig dostojewskijsche Züge trug, mußte wohl jedem weniger Verzweifelten unverständlich bleiben.
Winteranbruch und Schnee, wer denkt da nicht an glückliche Kinderzeiten zurück, als der erste Schnee hinausrief, alles verzauberte. "Es schneit!" - wie mächtig zogen die ersten weißen Flocken uns als Kinder ins Freie! Die Friedensrufe nach den Kriegen dürften kaum mächtiger empfunden und begrüßt worden sein. Der erste Schnee, das ist wie eine Himmelfahrt, nur daß der Himmel von sich aus zur Erde niederkommt, sich sanft über sie legt, die leere Geschäftigkeit für Momente zudeckt und für Augenblicke - die in der Kindheit noch lange dauern können - alles verwandelt. Wie anders, klarer und transparenter ist jetzt die Luft und der Atem, der plötzlich als dampfende Fahne spür- und sichtbar wird. Die ersten großen Flocken mit den Händen zu fangen, zu fühlen, zu schmecken - welch eine Freude war das.
Natürlich war die weiße Jahreszeit auch mit Adventstimmung, Vorfreuden auf heilige Nacht verbunden. Und so gewiß sich die Wärme des Lichtes nur in der Dunkelheit entfalten kann, um soviel stärker dürfte sie inmitten kühler weißer Pracht empfunden werden: Licht und Herdfeuer werden nun immer wichtiger (nicht ohne Grund hat im Norden das Weihnachtsfest das urchristlich-südliche Osterfest, in dem sich Tod und Auferstehung, Passion und Frühling auf ewig dionysisch durchdringen, in den Schatten gestellt). Und doch: Finden wir im Bild eines verschneiten Zengartens in Kyoto, wo man von christlicher Weihnacht wenig weiß, im wesentlichen nicht all das wieder, was uns von Anfang her am Schnee so fasziniert? Worin liegt, nicht nur Walser fragt sich das, diese Faszination begründet?
Walser spricht in seiner Notiz ein Phänomen an, das man Horizontverschmelzung nennen kann. Der Schneehimmel hebt gleichsam die Trennlinie zwischen Erde und Himmel in einem geheimen Einverständnis auf. Man kann sagen, es gibt keinen Himmel mehr, oder auch: die Erde wird irgendwie himmlischer. Die sonst scharfe Trennlinie verschwindet, doch was dadurch an Weite verlorengeht, öffnet sich nun in anderer Form in Gestalt der ungeahnten Weiten weißer, schneebedeckter Landschaften. In den Gemälden begnadeter Wintermaler wie Caspar David Friedrich, Edvard Munch, den großen Flamen, allen voran vielleicht Pieter Brueghel d.Ä. läßt sich diese Paradoxie, die uns Robert Walser gesteigert-gebrochen zumutet, ebenfalls beobachten. Im Brüsseler Königlichen Museum hängt ein kleinformatiges Winterbild mit Vogelfalle Pieter Brueghels, vielleicht 30 x 50 Zentimeter im Format, in dessen - trotz dichtem Winterdunst - unendlichen Weiten, Tiefen und Höhen man sich nachhaltig und mit immer neuem Erstaunen verliert.
Trotz Schnee und Dunst, atmet diese Landschaft eine gesteigerte Transparenz, als wäre sie durch die frische Winterluft geklärt, gereinigt. In diesem fast miniaturhaften "Stilleben" wird auf wundersame Weise das scheinbar Selbstverständlichste höchst lebendig, aufregend, so als sähe man die Welt noch einmal mit Kinderaugen und wie zum ersten Mal. Unwillkürlich stellt sich beim Betrachten dieser Landschaft, dieses Mikrokosmos, eine Kulisse aus Rufen, Aromen und Gefühlen noch unverstellter, frischer Welt- und Naturwahrnehmung ein. Die Stille belebt, ein reicher, geweiteter Kosmos zieht den Betrachter in seinen Bann. Panofsky hat diesem verblüffenden Phänomen der flämischen Landschaftsmaler ein Leben lang nachgeforscht, ohne daß allerdings das eigentliche Geheimnis wohl je zu lüften wäre, denn es geht dabei wohl noch um anderes als um die bloße Anwendung bestimmter maltechnischer Verfahren. Es ist eben Kunst, das heißt rätselhaft, wunderbar, ein Eintauchen in das Werdende und Belebende selbst. Wir begegnen hier unseren eigenen Seelenlandschaften wieder, es sind aus unseren ursprünglichsten Erfahrungen herausgehobene Bilder.
Wanderschaft, Kühle, Winteranbruch - da denken wir vielleicht ebenso an C.D. Friedrichs Kirchenruine im Schnee oder Müllers/Schuberts Winterreise: Die Spur im Schnee wird hier zum symbolon des menschlichen Daseins, seines Unterwegsseins, und auch des "Ziels" dieser Wanderschaft, das uns nur allzu gewiß ist. Zu allem Nebulösen tritt am Ende eine fröstelnd machende Kälte... Insoweit begegnen wir auch in Walsers Seelen-bzw. Winterlandschaften einem Topos, den insbesondere die Romantik nachhaltig poetisch zu verdichten verstand. Und doch hat, das ist das Gebrochene, Unromantische, Paradoxe, in dieser Hinsicht gleichsam "Brueghelsche" in Walsers Wintersymbolik, die weiße Pracht auch dieses Tröstliche, Anheimelnde, Gnädig-Aufnahmebereite der Kinderezeit, ja bei Walser sogar, wie bei Brueghel, etwas Wärmendes, Bewahrendes, Beschützendes:
"Auf dem Heimweg, der mir herrlich vorkam, schneite es in dichten, warmen, großen Flocken. Es war mir, als höre ich es von irgendwoher heimatartig tönen. Lebhaft waren meine Schritte trotz des tiefen Schnees, worin ich fleißig weiterwatete. Mit jedem Schritt, den ich ausführte, wurde mein erschüttertes Vertrauen wieder fester, worüber ich mich freute wie ein kleines Kind. Alles Ehemalige blühte und duftete mir jugendlich wie Rosen entgegen. Fast schien mir, als singe die Erde ein liebliches Weihnachts-, doch zugleich auch schon ein Frühlingslied. (...) Zuweilen schien es mir, ich sei beflügelt, obwohl ich mich mühsam genug vorwärts arbeitete. Mut und Zuversicht beseelten mich auf beschwerlichem Wege, denn ich durfte mir sagen, daß ich richtig gehe (...) Mantel hatte ich keinen an. Ich nahm schon den Schnee für einen prächtig wärmenden Mantel." (Heimkehr im Schnee, 1917)
In diesen Zeilen spricht sich einmal mehr die tiefverwurzelte Liebe zu den Landschaften und Wettern der Bieler Heimat aus, für Walser durchaus auch in dem Sinn, wie Remarque einmal bemerkt: "Bitte werden Sie nicht ungeduldig, wenn ich scheinbar unnötige Naturschilderungen mache (...) Die Natur war so wichtig in all dieser Zeit für uns, wie sie es für Tiere ist. Sie war auch das, was uns nie zurückwies. Wir brauchten keinen Paß und keinen Arierausweis für sie. Sie gab und nahm, aber sie war unpersönlich, und das war wie eine Medizin..."
Zugleich begegnen wir aber jener eigenartigen Insistenz des "lebenslänglichen Spaziergängers" Walser, der darauf beharrt, daß der schwere, mühsame Weg für den Dichter "der richtige", einzig angemessene, weil schaffende, wegend-bewegende Weg ist (wer immer nur die kürzesten, leichtesten Wege sucht, mag naheliegende Ziele erreichen, aber der Weg selbst wird kaum viel bedeuten). Doch mehr noch: Die Schneeflocken "wärmen" sogar wie ein "Mantel", und in das Weihnachtslied des Winteranbruchs (und mithin der schweren, winterlichen Wege des Poeten) mischt sich für Walsers Ohr eine Art Frühlingslied und Erwachen. Das mag dem müden, späten, dem, im romantisch-epochalen Wortsinn, "winterlich" gewordenen Ohr paradox und verkehrt, ja infantil klingen - aber das ist genau der Punkt. Tatsächlich kehrt mit den ersten Schneeflocken für Augenblicke ein Stück staunende Einkehr in die Weltwahrnehmung der Kindheit zurück, und damit die Einkehr in eine Zeit, als es auch uns noch "weltete", wir Welt noch frischer und so anders wahrnahmen, nichts Gewohnheit, alles noch Offenbarung war.
Dieser merkwürdige Chiasmus von Proustscher Recherche du temps perdu, die den passionierten Winterwanderer Robert Walser auf seinen zwangsläufig immer einsameren Wegen behütet und beflügelt, und dem de profundis-Ton, wie wir ihn aus Schuberts Winterreise kennen, findet bei Robert Walser noch ein ganz eigenartige, existentielle Steigerung. Warmer Schnee, zum Immerweitergehen ermunternde kühle Weiten, kräftigende Verlorenheit inmitten der Schneegestöber - solche Oxymorone begegnen uns bei Walser umso bedrängender, wie wir seinen Spuren durch immer tieferen Schnee folgen.
Entgegen der gewöhnlichen Furcht und Abneigung vor dem Erfrieren und dem Tod in der Kälte, empfand er den Gedanken des unumkehrbaren Hinausgehens in den Schnee immer faszinierender, ja, wie besessen von diesem Bild, zuletzt als etwas Heilendes und Versöhnendes. Es erschien ihm dieser Weg immer zwingender als sein Weg, als seine Art der Vollendung einer Wanderschaft: der einsame Wanderer, der, so weit die Füße tragen, durch Kälte und Schnee geht, immer weiter geht, vergeht und doch "immer nach Hause" geht...
Dieses Bild eines endlos scheinenden Gehens im Schnee, eines gleichsam nichtvergehenden Gehens und Vergehens, einer "Ortschaft der Wanderschaft", verwahrt etwas Rätselhaftes, Unschuldiges. Es verließ Robert Walser nicht mehr. In einer Biographie von Jürg Amann fand ich eine Fotografie des tot im Schnee liegenden Walser. Während eines Spaziergangs am Weihnachtstag des Jahres 1956 hatte ihn jenes Ziel eingeholt, dem er immer entgegengegangen war: Einkehr in jene weiße Pracht, kühl und wärmend, weihnachtlich und frühlingshaft...
Walser, der für die letzten 23 Jahre seines Lebens eine Bleibe in der Heilanstalt Herisau gefunden hatte - er hielt dies nicht für eine Schande, sah sich eher in einer Art modernem Kloster für solche Vereinsamte, die sich aus Redlichkeit keinem Dogma unterwerfen dürfen - , war wie immer weit hinausgegangen, ehe er an einer Böschung ins Rutschen geriet, stürzte und (vermutlich) einen Herzschlag erlitt.
37 Jahre zuvor schrieb er in "Eine Weihnachtsgeschichte" (1919) in hölderlinischem Tonfall: "Derart also ging ich von den Menschen fort. Es war mir halb lach-, halb scherzhaft zu Mut. Es schneite, und durch das liebe, dichte Schneien klangen die Abendglocken. Die Stadt war wie ein Märchen. (...) Es war mir, als könne es jetzt nur schöne Heimstätten und liebe Leute und allerlei frohen Mut und freundliche Reden und ein unsägliches Wohlsein auf der Welt geben (...) Wie soll ich jetzt zu mir heimzugehen wagen, wo nichts Trauliches ist? Wer sich einschneien ließe und im Schnee begraben läge und sanft verendete..."
Bereits 1907 hatte er im Roman "Geschwister Tanner" sein Thema der Einkehr in Weiße umkreist: "...der Schnee knirschte unter seinen Schritten. Die Tannen waren so voll mit Schnee beladen, daß sie ihre starken Äste herrlich zur Erde niederhängen ließen. Ungefähr in der Mitte des Aufstiegs sah Simon plötzlich einen jungen Mann mitten im Weg im Schnee daliegen. Es war noch soviel letzte Helle im Wald, daß er den schlafenden Mann ins Auge fassen konnte (...) er war hier erfroren, ohne Zweifel, und er mußte schon etliche Zeit liegen, hier am Wege. Der Schnee zeigte hier kein Fußspuren (...) Wie nobel er sich sein Grab ausgesucht hat. Mitten unter herrlichen, grünen, mit Schnee bedeckten Tannen liegt er (...) Eine prachtvolle Ruhe, dieses Liegen und Erstarren unter den Tannenästen, im Schnee. Das ist das beste, was du tun konntest. Die Menschen sind immer geneigt, derartigen Käuzen, wie du einer warst, weh zu tun und ihre Schmerzen zu verlachen. Grüße die lieben, stillen Toten unter der Erde und brenne nicht zu sehr in den ewigen Flammen des Nichtmehrseins. Du bist anderswo. Du bist sicher an einem herrlichen Ort..."
Das Foto von Robert Walsers letztem Weg in den Schnee zeigt dagegen die Fußspuren ganz deutlich. So, als wären sie selbst Zeichen geworden - ein "gezeichnetes Ich", ein Gekreuzigter auch, was sonst, liegt da im Schnee. Im medizinischen Sinn ist Walser nicht erfroren.
Robert Walsers letzte Wanderung, Weihnachten 1956
© HD Jünger (Originalbeitrag)